„Und führe uns nicht in Versuchung…“

Auslegung einer umstrittenen Vater-Unser-Bitte (Mt 6,13 par Lk 11,4). Vortrag von Joachim Wanke beim Patronatsfest der KSG Ilmenau am 9. Juni 2018

Bild: Peter Weidemann/ Bistum Erfurt; in: Pfarrbriefservice.de

Der Wortlaut des Vater unser (VU) ist uns in zwei Fassungen bei Matthäus und Lukas überliefert.  Wir folgen hier der längeren Matthäus-Fassung des Gebetes, wie sie sich in der Christenheit eingebürgert hat (vgl. Mt 6, 9b–13, auch Didache  8,2f).

 

Die Vater-Anrede Gottes: ein Schlüssel zum Verstehen des ganzen  VU

Im VU verdichtet sich die Fülle dessen, was Jesus uns über Gott sagen will, in einer letzten Klarheit und Einfachheit. Jesu Beten ist Widerspiegelung seiner großen, lebensentscheidenden Entdeckung: den Vater im Himmel, seinen und unseren Vater.  An dieser Entdeckung will er uns teilhaben lassen. Es gibt, so will uns Jesus durch das VU sagen, nichts Wichtigeres als Gott zu erkennen, ihm zu dienen und in ihm Heil und Seligkeit zu finden.

In dem vertraut, ja fast zärtlich klingenden  Gebetswort „lieber Vater“  (Abba) leuchtet das Gottesverhältnis Jesu auf. Der gewaltige Gott, der Schöpfer und Erhalter allen Seins und Lebens, ist vor allem Herr- und Gott-Sein zunächst der Vater, dem der „Sohn“ jederzeit und unbedingt vertraut. Jesus weiß sich als der „Sohn“, dem der Vater alles enthüllt hat, was dem religiösen Suchen und Fragen des Menschen verborgen bleibt: Gott ist uns Menschen zugewandte Liebe. Das schließt von vornherein eine Deutung der Versuchungsbitte aus, die damit rechnet, dass Gott uns mit einer Versuchung in eine Falle locken wolle.

Die Gebetsanrede „Vater“ gibt also dem ganzen(!) Gebet Jesu seine besondere Prägung. Wir müssen uns diese Anrede Gottes als Vater vor jede der einzelnen Vater-Unser-Bitten denken. Alles, was im Folgenden gesagt wird, soll von der Wirklichkeit und dem Wissen um das Vatersein Gottes umgriffen sein. Also auch bei der neuerdings viel diskutierten Bitte: „Vater (!), ...führe uns nicht in Versuchung!“

Die französische Bischofskonferenz hat bekanntlich die frühere (französische) Fassung dieser VU-Bitte jüngst verändert. Diese hatte (ins Deutsche übersetzt) gelautet:  „Und unterwirf uns nicht der Versuchung!“ Jetzt heißt es leicht verändert: „Lass uns nicht in Versuchung hineingeraten!“ (Ne nous laisse pas entrer en tentation). Papst Franziskus hat in einem Interview beiläufig diese Fassung begrüßt, weil sie dem möglichen Fehlschluss vorbaue, Gott wolle uns misstrauisch oder böswillig eine Falle stellen. Da hat der Papst durchaus recht: „Nein, ein Vater tut das nicht. Ein Vater hilft mir, sofort wieder aufzustehen.“

Ist dann unsere bisher im Deutschen gesprochene VU-Bitte falsch? Ich meine: Nein! Sie ist dem griechischen Urtext sehr nahe und eine durchaus richtige Übersetzung. Der griechische Wortlaut dieser Bitte ist übrigens in beiden VA-Fassungen gleich: kai mä eisenengkäs hämas eis peirasmon.  Es wird darum gebetet, nicht in eine Situation hineingeführt (und in ihr allein gelassen!) zu werden, die die Gefahr in sich birgt, von Gott für immer getrennt zu werden. Die uns derzeit bewegende Frage, wer denn nun genau in die Versuchung hineinführt, war Jesus, als er seine Jüngern dies Gebet lehrte, kein Problem.

Das wollen wir gleich ein wenig näher bedenken. Doch dürfen wir schon hier festhalten: Es geht nicht um die Abwehr irgendeiner beliebigen, von Gott ausgedachten hinterlistigen Falle, um uns zu erproben. In der Tat: Wenn Gott Vater ist – dann tut er so etwas nicht! Aber es ist auch nicht so, als ob dem gläubigen Vertrauen des VU-Beters keine Gefährdungen drohten. Deren bedrohlichste wird darum von Jesus in seinem Gebet – uns zur bleibenden Mahnung - ausdrücklich genannt.

Annäherung an das rechte Verstehen des Wortes „Versuchung“ aus dem Gesamtverständnis des VU

Doch halten wir fest, was für den Beter des VU das Wichtigste sein darf. Der mittelalterliche Mystiker und Theologe Meister Eckart (gest. 1328) bringt das in seiner Auslegung der Gottesanrede Jesu mit dem Wort „Vater“ auf den Punkt. Er schreibt: „Merke zuerst..., dass Gott mehr geliebt als gefürchtet sein will, daher sagt er (Jesus): unser Vater, nicht: unser Herr.“ Aus dieser Haltung Gott gegenüber lebt Jesus. Zu solchem Vertrauen in seinen und unseren Vater im Himmel möchte er uns anleiten. „Was immer auch kommen mag: bei Ihm, dem Vater im Himmel, bin ich geborgen und bewahrt!“ Und der Stärkung dieses Vertrauens dient auch unsere Bitte um die Bewahrung in (!) der gefährlichsten Versuchung, die über den Menschen kommen kann: von Gott abzufallen, ihn zu verleugnen, ihn als Illusion abzutun, ihn einfach zu vergessen oder gar sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen.

Nehmen wir einmal den Aufbau des ganzen VU in den Blick.

Im 1. Teil des Gebets richtet der Beter ganz seinen Blick auf Gott, und zwar in drei Schritten:

Es geht zunächst um die Heiligung seines Namens. (Sodann um das Kommen seines Reiches, und schließlich um die Bitte, dass Gottes Wille sich erfülle – im Himmel wie auf Erden). Die Worte „Dein Name werde geheiligt!“ sind mehr als eine Bitte. Man könnte sie auch als einen sieghaften Ausruf eines Beters verstehen, der sich der Erhörung seines Wunsches völlig gewiss ist.

Diesen Gebetswunsch Jesu empfinde ich so, wie wenn einer seine Lieblingsmannschaft beim Fußball in der Schlussphase eines Spieles, dessen siegreicher Ausgang schon feststeht, noch zu letzter Anstrengung im Kampf anfeuert. Der endgültige Sieg ist noch nicht errungen, aber der Jubel und die Freude über den sicheren Sieg brandet schon jetzt, vor dem Abschluss-Pfiff,  bei den Fans im Stadion auf.

So ähnlich „sicher“ betet Jesus im Blick auf das, was er sich von Gottes Handeln erhofft: Er schaut gleichsam „im Vorgriff“ auf Gottes vollständigen Sieg über Sünde und Tod. Er sieht, wie besonders die „Kleinen“, die „Unmündigen“ von Gott gesucht und erhöht werden. Und da kann er nicht anders als staunen und sich freuen, dass eine Neuschöpfung in Gang kommt. Der Evangelist Johannes lässt Jesus ausrufen: „Blickt umher und seht, dass die Felder weiß sind, reif zur Ernte“ (Joh 4,35). Jesus sieht die gewaltige Ernte Gottes, bei der es zu wenige Arbeiter gibt (vgl. Lk 10,2). Aber das ist ihm kein Grund zur Klage, sondern zur Freude und zum Jubel.  Der Grundtenor dieses Wortes ist ein tiefes, sieghaftes  Vertrauen auf den Gott, der jetzt schon zu unserem Heil am Werk ist. Ihm will er bei seiner „Ernte“ helfen. Dazu sucht er „Mithelfende“, eben seine Jünger – eben uns!

Dann folgt die zentrale Bitte des VU: Jesus betet um das Kommen des Reiches Gottes (gemeint ist: um das Kommen Gottes selbst). Diese Bitte ist das Zentrum des Gebetes Jesu, noch vorgeordnet den drei Bitten im 2. Teil des Gebets: um das täglich notwendige Brot, um die Vergebung der Schuld, um die Bewahrung in der Versuchung.

Je mehr ich über das VU nachdenke und es zu meinem eigenen Lebensgebet zu machen versuche, spüre ich, dass es eigentlich keine Sammlung gleichwertiger Gebetsanliegen ist. So unterschiedlich die einzelnen Bitten auch sein mögen:  Die Mitte und das Zentrum aller Anliegen ist die Bitte: „Vater, dein Reich komme!“ (nicht: „unser Reich“!). In dieser Bitte ist alles gesagt, was dem Beter Jesus am Herzen liegt. Der Ruf um Gottes Reich, das hier und jetzt Wirklichkeit werden möge, macht deutlich, was Jesus bewegt, was Ziel seiner Sehnsucht ist.

Markus, der als erster ein Evangelium geschrieben hat, macht mit Recht die Ankündigung des Gottesreiches zur programmatischen Mitte der Botschaft Jesu. Er lässt Jesus in Galiläa seine öffentliche Tätigkeit mit den Worten beginnen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Alles, was Jesus sagt und lehrt, seine Taten und Verhaltensweisen, auch sein gehorsames Sterben ist im letzten Entfaltung dieser Botschaft: Dort, wo Gott am Kommen ist, können der Mensch und die Welt neu werden.
 
Uns sind heute die großen religiösen Begriffe der Bibel, wie etwa der vom „Reich Gottes“, fremd geworden.  Die Rede vom „Reich Gottes“ hatte damals eine ähnliche Ausstrahlungskraft wie heute für manche Menschen der säkulare Begriff „Sozialismus“! Wir können heute durchaus noch nachempfinden, was Jesus mit „Reich Gottes“ (Matthäus sagt gern: „Reich der Himmel“) gemeint hat.

Für mich ist beispielsweise das, was wir im Osten Deutschlands beim Ende der alten SED-Herrschaft und beim Übergang in die freiheitliche Demokratie der Bundesrepublik Deutschland erfahren haben, ein Zugang zum Verstehen für die Reich-Gottes-Botschaft Jesu geworden. Die Menschen haben damals schnell die mit diesem Wechsel verbundenen Ereignisse und deren Folgen als „Wende“ bezeichnet. Das ist an sich eine zu schwache Bezeichnung. Was damals in diesen wenigen Monaten geschah, war eine tiefgreifende Umkehrung der alten Verhältnisse, politisch, wirtschaftlich, kulturell, auch mentalitätsmäßig. Frühere, dem alten System angepasste Verhaltensweisen mussten aufgegeben werden. Das fiel den Menschen schwer, manchen fällt es bis heute schwer! Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, das veränderte Rechtssystem, die andere Art der Wirtschaft, die wiedergewonnene Freiheit in der Bildung und der öffentlichen Berichterstattung, all das hat das Leben tiefgreifend verändert.

Vergleiche haben immer ihre Schwächen. Was mit dem Hinweis auf die gesellschaftliche Revolution im Osten Deutschlands in den Blick kommt, lässt aber die Richtung erahnen, in der die Reich-Gottes-Ankündigung Jesu verstanden werden will. Wo Herrschaftsverhältnisse sich ändern, verändert sich das Leben.

Unsere geschichtlichen Erfahrungen dämpfen freilich unsere diesbezüglichen Hoffnungen. Nicht jeder Wechsel eines politischen Systems bringt wirklich einen Zuwachs an Freiheit und Lebensgewinn. Sarkastisch fasste diese Erfahrung einmal der polnische Schriftsteller Jerzy Lec in die Worte: „Nun bist du mit dem Kopf durch die Wand. Was willst Du denn in der Nachbarzelle?“ Insofern ist der Vergleich mit der „Wende“ im Osten nur sehr beschränkt eine Hilfe zum Verstehen unserer Gebetsbitte. Geht es doch hier nicht um eine von Menschen herbeigeführte Wende, sondern die von Gott ins Werk gesetzte Neuschöpfung der Welt und des Menschen.

Übrigens: Wendeereignisse sind keine Vergnügungsveranstaltungen. Revolutionen, ob „von unten“ oder „von oben“, haben ihren Preis. Sie verändern schmerzlich, aber eben nicht nur in der Innerlichkeit des Herzens. Sie tauchen die Welt in ein neues Licht. Sie schaffen neue Rahmenbedingungen für menschliches Denken und Handeln. So auch das Reich Gottes.

Jesus konnte sagen: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (vgl. Lk 10,18). Der entscheidende Feind Gottes ist aus seiner Sicht schon aus seinen angemaßten Machtpositionen verdrängt. Es ist wie bei einem militärischen Kampf, der letztlich schon entschieden ist. Der Sieg steht fest, aber der besiegte Feind kann die nachrückenden Truppen noch in manche Nachhutgefechte verwickeln. Ich entschuldige mich für das militärische Bild, aber es ist meinem Empfinden nach dem Ernst und der gewaltigen Dramatik der Botschaft Jesu durchaus angemessen. Jesus weiß um Gott, seinen Vater und dessen Erbarmen. Darum kann er so beten. Wer ihm in dieser Art des Betens folgt, wird angstfrei und fängt an sich zu verwandeln –  in Gottes geliebtes Kind.

Nun folgt eine dritte, grundlegende Aussage, mehr Feststellung als Bitte:

Dein Wille geschehe (anders formuliert: „er möge weiter sich durchsetzen… wie er es ja tatsächlich tut…“)  – im Himmel und auf der Erde. Im Himmel geschieht er ohnehin. Der Wille Gottes möge auch die Wirklichkeit hier auf Erden, auch uns selbst, bestimmen!

Jesus leidet unter einer Not, die für viele leider keine Not ist: dass Gottes heiliger Wille, der auf die Rettung des Menschen vor sich selbst und seinem Egoismus aus ist,  in der Welt wegen unserer Herzenshärte nicht zum Zuge kommt! (Vgl. etwa Jesu Reaktion auf die Not des Mannes mit der verkrüppelten Hand,  den Jesus ausdrücklich in die Mitte der feindseligen Synagogengemeinde gerufen hatte. Alle sollten seine Not sehen – aber sie verweigerten ihm ihr Erbarmen. Da heißt es Mk 3,5: „Und Jesus sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz…“)

Es gehört zu den bedrängenden Erfahrungen im Leben, dass wissentlich oder gedankenlos das Zustandekommen guter Dinge verhindert wird. Menschlicher Eigenwille verhindert aus Trotz, aus Neid, aus der Haltung stolzer Selbstgenügsamkeit heraus, dass die Liebe und das Wohlwollen anderer zum Zuge kommen können. Wir wissen, wie schwer solche Abkapselung des Menschen aufzubrechen ist. Im Letzten ist diese Selbstabschließung auch das Wesen der Sünde, die uns unfähig macht, Gottes große Gaben zu empfangen. Auf uns selbst zurückgeworfen bleiben wir unfähig, uns für Gott und seine Liebe zu öffnen. Wir sind nicht in der Lage das zu tun, was wir eigentlich wollen und ersehnen (vgl. Röm 7,15ff).

Die schmerzliche Unterscheidung von Himmel und Erde bleibt uns erhalten, solange diese Erdenzeit andauert. Wir sind noch nicht „in die Himmel“ versetzt, wie Paulus das schon den enthusiastischen Christen von Korinth ins Stammbuch schreiben musste. Diese meinten, durch ihre sakramentale Zugehörigkeit zum auferstandenen Christus allen Anforderungen eines sittlichen Lebens enthoben zu sein. Auch die neuzeitlichen Großideologien, die  mit ihren Gewaltphantasien schon jetzt den „Himmel“ auf die Erde herabzwingen wollten, sind damit gescheitert. Das Ende dieser „Menschenreiche“ war meist schrecklich!
 
Durch das Evangelium belehrt wissen wir: Ohne Gottes Zuwendung zu uns würden wir letztlich rettungslos mit uns allein bleiben. Gott selbst muss die Herzen bewegen und zum Gottesgehorsam von innen her bewegen. Das wird von den Propheten als der neue Bund Gottes mit seinem Volk bezeichnet: „Ich habe meine Weisungen in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben!“ (Jer 31,33). Diese „Gemeinde der Gottgehorsamen“  will Jesus sammeln.

Es ist richtig: Dort, wo ganz und ohne Abstriche Gottes rettender Wille geschieht, da ist schon „Himmel“ gegenwärtig. Beim Evangelisten Johannes wird es heißen: Wer in der Liebe (zum Nächsten) bleibt, ist (schon) in Gott. Ob das die angemessene praktische Einweisung in unseren Gebetswunsch darstellt? Gott sucht „Mitliebende“ (Duns Scotus), denn darin erfüllt sich sein heiliger Wille. Und „Mitlieben“ ist die Einlassbedingung in sein Reich, um dessen endgültiges Kommen wir mit Jesus rufen.

Nun folgen im 2. Teil des Herrengebetes drei Einzelbitten: um das tägliche Brot für die Verkündiger der Frohbotschaft, um Vergebung der Schuld, um Bewahrung in der Versuchung.

Unser tägliches Brot gib uns heute

Es soll unser Brot sein, um das wir bitten. Es ist das Brot, über dem das uralte Gotteswort steht: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen“ (Gen 3,19). Es geht nicht um das Brot, die Nahrung im Allgemeinen, sondern um das mir notwendige Brot, um die Nahrung, die ich wirklich zum Überleben brauche. Der Plural „unser“ erinnert daran, dass Jesus hier nicht den einzelnen Beter, sondern die Gemeinschaft seiner Jünger meint.

Eigentlich würde man erwarten, dass Jesus um das Brot für morgen beten lässt. Die Taglöhner im damaligen Palästina waren darauf angewiesen, sich täglich neu um Arbeit und Lohn zu bemühen. Oft warteten sie vergeblich auf einen, der an ihrer Arbeitskraft interessiert war. Jesus erzählt im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg von dieser Alltagssituation der kleinen Leute (vgl. Mt 20,1-16). Die werden von ihren Erfahrungen her verstanden haben, warum Jesus im VU um das Brot für heute bittet, nicht für den morgigen Tag. „Der morgige Tag wird für sich selbst sorgen“, unterweist Jesus seine Jünger (vgl. Mt 6,34).

Hier wird offensichtlich nicht aus der Haltung der Vorsorge gedacht. Es ist eine merkwürdige Haltung der Unbekümmertheit, die nicht nach dem Morgen fragt. Für Jesus ist allein wichtig, was heute ansteht. Und das ist nicht die Aufgabe, Vorräte anzulegen, sondern die Aufgabe, das Reich Gottes zu verkündigen. Davon soll nichts ablenken, auch nicht die Sorge um den Lebensunterhalt. Aus der gleichen Haltung heraus befiehlt Jesus den Jüngern, bei ihrer Predigttätigkeit keinen Geldbeutel und keine Vorratstasche mit auf den Weg zu nehmen (vgl. Lk 10,4). 

Ist das nicht verwegen, ja unverantwortlich, so unbekümmert um das Morgen nur auf das Hier und Heute zu schauen? So kann freilich nur der fragen,  der nicht verstanden hat, was Jesus eigentlich bewegt. Jesus hat ja den „Schatz“ gefunden, die kostbare „Perle“, wie er in seinen Gleichnissen erzählt (vgl. Mt 13,45f). Wer das Reich Gottes, und das ist letztlich Gott selbst mit seinem Reichtum, mit seiner verschwenderischen Liebe gefunden hat, der kann mit Freude hingehen und alles angeblich so Notwendige verkaufen, eben um dieses Schatzes willen. (Das macht übrigens auch heute eine authentische christliche Existenz für viele Nichtglaubende so „unverständlich“!)

Wir spüren: Es ist Jesus selbst, der hier betet. Er ruft zum Vater, ihm und seinen Jüngern das notwendige Brot für den anstehenden Tag zu geben, um die Menschen zum „Gastmahl“ des Gottesreiches einladen zu können. Wer wie er an die „Ecken und Zäune“ gehen soll, um die Einladung „Kommt, es ist alles bereit!“ auszurichten, hat keine Zeit für Vorsorge und Lebensabsicherung. Die Zeit drängt, nicht weil sie kurz ist, sondern weil sie gefüllt ist mit der Aufgabe, diese frohe Botschaft auszurichten.

Man darf die Bitte um das tägliche Brot nicht für alle möglichen Wünsche missbrauchen, die uns in unserer Begehrlichkeit einfallen. Vor allem sollen wir um nichts bitten, was uns von unserer eigentlichen Lebensaufgabe abhalten könnte. Die Absicherung der eigenen Existenz, das „im Leben Gehaltenwerden“ ist nicht Selbstzweck. In der Brotbitte des VU geht es um die Ermöglichung dessen, was den Jüngern Jesu – auch heute – aufgetragen ist: „Erntehelfer Gottes“ zu sein.

Jesus weiß durchaus realistisch, dass wir auf Nahrung und Unterhalt angewiesen sind. Aber er meint: Wir sollen nicht in der Sorge dafür aufgehen. Wir sollen uns vielmehr Gott zur Verfügung stellen. „Ihr gehört nicht euch selbst!“, sagt der Apostel Paulus in einem ganz anderen Zusammenhang (vgl. 1 Kor 6,19). Er trifft aber damit genau den Gebetsgeist Jesu.   – Die zweite Bitte:

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Vergeben ist in unseren Zeiten nahezu ein Fremdwort geworden. Entschuldigen – ja, das könnte man in Betracht ziehen.
Möglicherweise kann man auch etwas „Vergessen-Machen“! Aber mehr auch nicht. Vergeben meint ja etwas Doppeltes: Es gibt Schuld, die nicht einfach wegerklärt werden kann. („Er/Sie hatte eben eine schwere Kindheit….!“).  Zudem: Es ist unmöglich, Schuld sich selbst zu vergeben. Man muss sich Vergebung zusprechen lassen. Man muss auf sie warten. Sie ist ein Geschenk, auf das es kein Anrecht gibt.

Unsere Bitte will nicht den Menschen mit Verweis auf seine Schuld klein machen. Jesus sieht nicht zuerst die Schuld des Menschen. Sein erster und grundlegender Blick gilt Gott, dem Vater, und dem, was er uns sein will.  Dass wir vor Gott Schuldner sind, ist für Jesus Folgerung (!), nicht Voraussetzung seiner Verkündigung. Es ist so, wie wenn einer sich dem Licht der Sonne aussetzt. Je heller das Licht, desto dunkler werden die Schatten.

Hinter der Bitte um die Vergebung der Schuld steht die Erfahrung der finanziellen Verschuldung. Wir sind vor Gott „Schuldner“. Jesus hat dieses Bild in seinen Gleichnissen benutzt. Was Schulden sind, wie sie drücken und das Leben ersticken können, wussten die Zuhörer auch damals. Am bekanntesten ist wohl das Gleichnis Jesu von dem unbarmherzigen Knecht  Mt 18, 23-35. Es ist wie ein Kommentar zu unserer Vater-Unser-Bitte. Die unendlich große Schuld wird dem Knecht von seinem Herrn erlassen. Zehntausend Talente sind eine wahrhaft königliche Summe, für kleine Leute nahezu unvorstellbar. Ebenso unvorstellbar, dass einer, und mag er einen noch so lukrativen Posten haben, sich jemals von einer solchen Schuld aus eigener Kraft befreien könnte.

Das ist die Lage des Menschen, wie Jesus sie sieht. Aus eigener Kraft kann der Mensch Gottes Forderung nicht entsprechen. Nicht nur, dass er durch sein eigenes böses Tun Gottes Heiligkeit und Liebe widerspricht. Mehr noch denkt Jesus wohl an Unterlassungen des Guten, an fehlendes Bemühen darum, Gottes Heiligkeit und Vollkommenheit im eigenen Leben zu entsprechen. Die Sünde, wie Jesus sie versteht, besteht in einer in sich „verkrümmten“, von Gott abgewendeten Existenz. Diese wirkt sich in konkreten bösen Taten und Unterlassungen des Guten aus. Aber dahinter steht gleichsam eine tiefer reichende Verblendung, die sich der ganzen Wahrheit des eigenen Lebens gegenüber abschottet.  Der Mensch sitzt gleichsam in der Eisspalte – aber will seine Hand nicht dem entgegenstrecken, der ihn dort herausholen will…

Wie geht nun Gott mit der Sünde um? Er macht es ähnlich wie eine Mutter, die ihr quengelndes Kind mit keinem Mittel beruhigen kann. Das Kind bockt und greint und weiß am Schluss gar nicht mehr warum. Es will eben bockig sein. Eine Mutter wird, so meine ich, ganz einfach das Kind in ihre Arme schließen, es fest an sich drücken und den kindlichen Trotz, das Aufbegehren und den Zorn des Kindes auf sich selbst hinwegschmelzen mit einem mütterlichen Zeichen der Liebe. So, aber eben noch unendlich jede irdische Liebe übersteigend, geht Gott mit uns um.

Dort, wo die Dimension der Freiheit mit ins Spiel kommt, gibt es beim Überwinden von Schuld und Sünde keine Gewaltlösungen. Wirkliches Heil kann letztlich nicht erzwungen werden. Freiheit ist nur durch eine noch größere Freiheit zu bewegen - und das ist eine Liebe, die bereit ist, bis an die Grenze der Selbstaufgabe zu gehen.

Die christliche Botschaft von der Erlösung weiß um eine solche Liebe Gottes „bis zum Äußersten“ („bis es quietscht“, so wollte Andrea Nahles im Blick auf die Regierungsbildung durch eine „Große Koalition“ Anfang 2018 mit der anderen Partei verhandeln!). Lieben, solidarisch sein – bis es „quietscht“! Ist das möglich?

Das ist uns letztlich nicht möglich. Aber das ist Gott möglich. Das erschließt mir das Kreuz des Herrn als eine „Selbsthingabe“ aus Liebe, „uns zugute“. Das Kreuz Jesu ist kein tragisches Geschehen, kein „göttlicher Verkehrsunfall“, der bei besserem Zusammenspiel der Kontrahenten hätte vermieden werden können. Vor allem ist das Kreuz Jesu nicht die Folge eines grausamen göttlichen Sühnebedürfnisses. Das ist eine folgenschwere Verirrung des christlichen Glaubens, die schon viel spirituelles Unheil angerichtet hat.  Die Hingabe unseres Herrn ist vielmehr Erweis einer unbegreiflichen Liebe, die „uns zugute“ handelt – bis hin zum letzten Loslassen aller eigenen Ansprüche. Unsere Erfahrung lässt uns zumindest ansatzweise verstehen. Wirkliche Vergebung, „nachhaltiges“ Heilwerden kann es nur durch eine Liebe geben, die bereit ist, gleichsam um unseretwillen „schwach“ zu werden.

So trägt Gott unsere Schuld. Er hebt sie auf. Er nimmt eine Last von unseren Schultern, von der wir uns allein nicht befreien können. Dies muss aber sofort hinzugefügt werden: „… wie auch wir vergeben!“. Die Bereitschaft, unserem Bruder seine Schuld uns gegenüber zu vergeben, ist die Bedingung Gottes für den Nachlass unserer Schuld. Gott möchte, dass wir ihm in der Bereitschaft zur Vergebung (und was ist das anderes als die Bereitschaft „schwach“ zu sein!) ähnlich werden. Die geringe Schuld meines Bruders, meiner Schwester, gegenüber meiner „übergroßen“ Schuld! Wir erahnen, warum das Reich Gottes so ganz anders ist als jene „Reiche“, die wir Menschen bauen.

Und jetzt verstehen wir auch besser die dritte, heute hie und da umstrittene Bitte, wenn Jesus uns beten lehrt:

Vater (!)….Und führe uns nicht in Versuchung

Mit dieser dritten Bitte endet das Gebet Jesu. Die angefügte weitere Bitte um Bewahrung vor dem Bösen wird dieser Bitte nichts Neues hinzufügen. Aber sie wird die Bedrohlichkeit dessen, wovon hier die Rede ist, nochmals eindringlich ins Bewusstsein heben.

Versuchung ist eines der Worte, die wie viele andere im alltäglichen Sprachgebrauch inflationär geworden sind. Eine „süße Versuchung“ mag eine Erprobung für gesundheitsbewusste Vorsätze sein, und die Versuchung, sich hin und wieder manchen lästigen Steuervorschriften zu entziehen, kann zu einer Gewohnheit werden – doch hat dies alles mit dem, was hier mit Versuchung gemeint ist, wenig zu tun. Was Jesus im Blick hat, ist die schreckliche Möglichkeit, von Gott abzufallen.

Wir müssen uns die innere Logik des ganzen Vater-Unser-Gebetes vor Augen halten.  Wir sahen: Die große Grundbitte des VU ist die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes. Um diesen einen und wichtigsten Wunsch des Beters Jesus kreisen drei sich daraus ableitende Bitten, so ähnlich, wie Planeten um ein Zentralgestirn kreisen: Die Bitte um den Unterhalt derer, die Reich-Gottes-Verkünder sein wollen, die Bitte um den notwendigen Schuldenerlass, ohne den kein Mensch vor Gott bestehen kann, und schließlich die Bitte um die Bewahrung vor dem Glaubensabfall, bei dem Gott aus dem Blick gerät und der Mensch auf sich zurückfällt.

Unsere Gebetsbitte meint nicht, dass Gott selbst in eine solche Verführung führt (was übrigens der Jakobusbrief eigens unterstreicht, vgl. Jak 1,13). Die Versuchung, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen, ist vielmehr ein Grundmerkmal unseres Lebens. Es wäre naiv und  wirklichkeitsfremd, nicht mit der Möglichkeit von Versuchungen zu rechnen. Insofern haben natürlich Versuchungen in einem entfernteren Sinn durchaus auch den Charakter einer Erprobung.

Hier ist freilich von der Versuchung im Singular die Rede. Es geht Jesus um die Bewahrung vor der Versuchung schlechthin: Sich von Gott loszusagen; selbst sein zu wollen „wie Gott“! Und da gilt für den Beter, der Gott mit „lieber Vater“ anzureden wagt: Du Gott, bist größer als alles, was sich unserem Begreifen entzieht. Du bist größer sogar als das, was wir in uns und um uns an „Bösem“ erfahren, was uns an dir zweifeln lässt. Du bist sogar größer als unsere Hybris, die meint, alles besser machen zu können als Du!

Für die Jünger Jesu war eine solche Versuchung angesichts des schrecklichen, für sie unbegreiflichen Sterbens Jesu gegeben. Hat hier das Böse nicht doch endgültig gesiegt? Nicht umsonst heißt es in der Gebetsszene im Ölberggarten, unmittelbar vor der Passion Jesu: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung (Singular!) geratet“ (Mk 14,38). Auch Jesu Leben kannte diese Anfechtung, die keinem wachen Beter früher und heute fremd ist: die plötzliche Angst, sich Gott nur einzubilden, einer leeren Wand gegenüber zu stehen, zu meinen, letztlich mit sich allein zu sein. Man kann von solchen Erfahrungen einer fundamentalen Glaubensanfechtung auf unterschiedliche Weise reden (vgl. nur die Sprache der Psalmen).

Für unsere Fragestellung ist wichtig festzuhalten:  Letztlich ist es egal, wie man in diese Situation einer letzten Glaubens – bzw. Vertrauensentscheidung hineinkommt: durch eigenes Verschulden, durch Schicksalsschläge, durch Zeitverhältnisse, durch die Schwäche meiner menschlichen Natur …. All dies könnte vereinfacht verstanden werden, als ob Gott selbst es ist, der uns in solch eine Bedrängnis hineinführt. Letztlich steht er ja als tragender Urgrund allen Seins hinter allem was geschieht, auch wenn er es nicht „will“! Aber diese Frage, die uns heute unruhig macht,  interessiert den Beter Jesus nicht. Er macht keine Ursachenanalyse, wer hinter dieser letzten „Versuchung“ steht. Er fleht nur eindringlich: Wenn es dazu kommt, dann, Gott, lass mich nicht allein! Insofern kann man im persönlichen Gebet durchaus auch das anstößige „ „Führe uns nicht…“ als ein „Gehalten-Werden“ in der Versuchung umschreiben. Das steht freilich im griechischen Urtext nicht so da. Wir sollten uns zudem hüten, in jeder Generation das VU „umzuformulieren“!

Meine Einladung für ein rechtes Verstehen unserer Bitte mit ihrer konkreten herkömmlichen Formulierung ist: Wir müssen diese mit der Vater-Anrede  zusammenhalten. Dann verstehen wir sie auch richtig. Ihre Grundaussage ist:  Wir bleiben auch angesichts der schrecklichen Möglichkeit des Glaubensabfalls in Gott geborgen.

Sind nicht letztlich alle Versuchungen, auch jene zum Glaubensabfall,  „Einbildungen“ des Menschenherzens? Die Sonne scheint, mögen die Wolken noch so drohend und furchterregend sein. Unsere Wahrnehmungen entsprechen nicht immer den Realitäten. Dem Licht von oben zu trauen in den kleinen Anfechtungen des Lebens bewahrt vor der großen Anfechtung, die auch uns irgendwann, vielleicht in der Stunde unseres letzten „Loslassens“ im Sterben, nicht erspart bleibt.

Es ist tröstlich, in den Evangelien zu lesen, dass Jesu öffentliches Auftreten mit einer Versuchungsgeschichte beginnt (vgl. Mk 1,12f par Mt 4,1-11/ Lk 4,1-13). Der Beter des VU steht auf der Seite dessen, der selbst versucht wurde, aber alle Versuchungen erfolgreich abgewehrt hat. Darum ist das Nachsprechen dieser Bitte Jesu nicht Ausdruck von Angst um das eigene Heil oder Furcht vor einem „heimtückischen“ Gott  oder von lähmendem Zweifel an Gottes rettender Macht. Es ist vielmehr eine Bitte aus einem tiefen Vertrauen heraus, beim „Vater“ geborgen zu bleiben – komme, was da kommen mag.

Eine persönliche Erfahrung zum Abschluss

Mich persönlich bedrängt weniger die herkömmliche Formulierung der für manche missverständlichen Bitte. Mich bedrängt eher diese Frage, die Jesus wohl nicht (!) gekannt hat: Warum sollte der gewaltige Gott, der Urgrund allen Seins und des unfassbaren Universums, gerade an mir ein Interesse haben, scheinbar an einem Zufallsprodukt der Evolution, wie manche Wissenschaftler meinen, einem Winzling in milliardenfacher Kopie schon jetzt auf Erden vorhanden und so hinfällig, dass jede Herzattacke ihn in Sekundenschnelle zum Tode befördern kann?

Ich höre dann, durch das VU Jesu belehrt, von Gott her diese Antwort: „Du hast Recht: Es gibt keine Begründung dafür, gewollt und geliebt zu sein. Es gibt vor allem kein Anrecht darauf. Die wirklich kostbaren Dinge im Leben, Freundschaft etwa, Treue oder Liebe bekommst Du ohnehin geschenkt. Du verdankst Dich Eltern, die Dich gewollt und angenommen haben. Warum kannst Du nicht glauben, dass Dich ein liebender Gott ins Dasein gerufen hat, der nicht nur ein lebloses Spielzeug haben wollte, sondern ein lebendiges Herz, das ihm in Freiheit auf seine Liebe antwortet?“

Darum vertraue ich dem, was ich im VU immer neu ins Wort bringe, besser: ich vertraue dem, der mich dieses kostbare Gebet gelehrt hat.