Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der 54. Männerwallfahrt des Bistums Erfurt 2010 zum Klüschen Hagis

 



Liebe Wallfahrer,
bei den Wallfahrten der letzen Jahre habe ich schon unterschiedlichstes Wetter erlebt, beileibe nicht nur Sonnenschein, das gottlob freilich auch. Aber es gab auch verhangenen Himmel, kalte und stürmische Wallfahrtstage und manchen Regenguss von oben. Was unsere Kirche derzeit erlebt, ist einem kräftigen Wettersturm vergleichbar. Es braucht Kraft und Stehvermögen, ihm standzuhalten.

Wir wissen freilich aus eigener Lebenserfahrung: an Gott zu glauben, katholischer Christ zu sein - das ist nicht selbstverständlich. Das war es früher nicht, das ist es heute nicht und - so vermute ich einmal - das wird es auch morgen nicht sein. Der Weg der Kirche durch die Geschichte ist niemals mühelos und ohne Beschwer gewesen. So wäre es verwunderlich, wenn Gott uns nicht auch heute auf den Prüfstand stellen würde.

Ich möchte in dieser Predigt einmal einige Anfechtungen ansprechen, die uns gegenwärtig zu schaffen machen.

Da ist zum ersten die Erfahrung: Wir sind eine Kirche der Sünder. Das ist an sich keine neue Einsicht. Irgendwie wussten wir das immer. Nicht umsonst sprechen wir ja bei jeder heiligen Messe das mea culpa, "durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld". Ein Schelm, wer dabei nur an die Schuld der anderen denkt.

Nun aber bekommen wir von außen den Spiegel vorgehalten. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Kirche, und das auch noch durch Geistliche und Ordensleute: Das tut weh. Das ist beschämend und bitter. Jeder einzelne Fall in unserer Kirche, auch hier bei uns, selbst wenn er schon länger zurückliegen mag, ist ein Fall zu viel. Ich habe zum Sachverhalt ein öffentliches Wort an die Gemeinden geschrieben. Das muss ich hier nicht wiederholen.

Aber ich möchte noch einmal sagen, wie sehr solche Nachrichten mir auch persönlich weh tun. Natürlich kann man sagen: Das passiert andernorts auch, vermutlich sogar häufiger. Aber das ist keine echte Entschuldigung. Denn da gilt das Wort unseres Herrn, mit dem er den Machtmissbrauch der Herrschenden seiner Zeit geißelte: Bei euch aber soll es nicht so sein! Ein solches sündhaftes Verhalten, besonders bei Amtsträgern, verdunkelt das Evangelium und macht die Botschaft der Kirche insgesamt unglaubwürdig.

Und ich möchte hinzufügen: Das gilt auch von anderen Sünden der Getauften, von der Habsucht, der Verleumdung, dem Stolz, von Untreue und Gleichgültigkeit - dem Nächsten gegenüber und Gott gegenüber.

Ja, wir sind eine Kirche der Sünder. Da kann sich keiner ausnehmen, auch nicht wir Priester und Bischöfe.

Was uns freilich von der übrigen Gesellschaft unterscheidet: Wir wissen das. Wir sind davon nicht überrascht. Und wir wissen auch, wie Heilung zu finden ist: durch Reue, Umkehr, durch Bitte um Vergebung vor Gott und denen, die wir durch unser Versagen geschädigt haben.

Doch auch das dürfen wir sagen: Selbst Kranke können einem anderen Kranken sagen, wo ein guter Arzt zu finden ist und die rettende Therapie. Wer jetzt meint, aus der Kirche austreten zu müssen, schneidet sich selbst von dem göttlichen Arzt ab, der die Wunden seiner Kirche heilen kann: Jesus Christus.

Vielleicht hat das gegenwärtige Erschrecken über das, was in unseren Reihen zum Vorschein kommt, doch eine heilsame Folge: dass wir wieder ernsthafter mit der Realität von Schuld und Sünde rechnen. Mir persönlich ist es in den letzten Wochen so gegangen: Das Confiteor, das "Ich bekenne", und so manche Fürbitte für die Kirche habe ich andächtiger gebetet als früher. Und ich habe darüber nachgedacht, worauf eigentlich mein Glaube gründet: nicht auf Menschen, mögen sie noch so vorbildlich sein, sondern allein auf Gott und seiner Verheißung, dass er uns durch Jesu Hingabe aus Sünde und Tod errettet hat.

Denkt daran: Ostern gibt es trotz unserer Schuld, nicht wegen unserer Heiligkeit. Heilig sollen wir leben, das ist wahr - aber wir brauchen das Erbarmen Gottes, wir brauchen den Brunnen der Reinigung, die tägliche Tauferneuerung, wir brauchen Reue und Umkehr und die sakramentale Beichte im Rhythmus des Jahres und wir brauchen das Wissen, dass der alte Adam in uns bekämpft und nicht gehätschelt werden muss. Ja, Herr: Erneuere deine Kirche - und fange bei mir an! Das sei unser Gebet in diesen Tagen.

Ich nenne eine zweite Anfechtung, die heute aktuell ist:   
Wir erfahren uns (zumindest hierzulande) als eine kleiner werdende Kirche. Das ist beileibe kein typisch kirchliches Phänomen. Schrumpfen tut so manches andere auch, in der Wirtschaft, in der Finanzkraft der Länder und Kommunen, bei den Geburtenzahlen und den sozialen Dienstleistungen. Wir wissen freilich: Schrumpfen schafft Frust, kleiner werden bereitet Ärger. Es zwingt zum Nachdenken, wie es weitergehen könnte.

Das ist auch in der Kirche so. Denn auch dort ist weithin das Gewohnte, das bisher Übliche der Maßstab, an dem alles gemessen wird. "Bei uns war das immer so!" Diese Antwort hören meine Pfarrer oft, wenn sie Veränderungen einführen und Gewohntes umstellen wollen.

Es ist einfach so: Die Zahl der Priester verringert sich. Da gilt es zu überlegen, was Getaufte und Gefirmte allein, ohne den Priester machen können. Vielerorts geschieht das schon. Wort-Gottes-Feiern, Bittprozessionen, Krankenbesuche, Begleitung von Taufbewerbern und religiöse Unterweisung der Kinder in den RKWs, vor der Erstkommunion und Firmung ist schon Sache von Laienchristen, die das oft sehr gut und überzeugend machen. Dazu brauchen sie aber Unterstützung, Zurüstung und Rückenwind aus den Gemeinden.

Solche Dienste und Aktivitäten sind beileibe keine "Spielwiese", die die Pfarrer gnädig zulassen. Solche Dienste konstituieren Kirche, machen sie lebendig und helfen, Kirche vor Ort, auch wenn dort kein Pfarrer wohnt, präsent zu machen. Und ein Kirchenvorstand, der auf das vorhandene, ebenfalls weniger werdende Geld schaut und mitentscheidet, wo es sinnvoll eingesetzt wird, der ist nicht nur ein "Abnick-Verein". Hier wird kirchliche Verantwortung konkret. Solche Frauen und Männer werden in Zukunft noch stärker als bisher das Bild unserer Gemeinden prägen. Euch allen, die ihr in dieser Weise schon jetzt vielfältige Dienste leistet und Verantwortung tragt, sei ein herzliches Danke gesagt.

Derzeit gibt es auch hier im Eichsfeld in den geplanten größeren Pfarreien Gespräche über die anstehende Zukunft. Da gibt es viele Fragen. "Wie soll das gehen - eine Pfarrei aus vielen Orten? Und auf Dauer nur ein einziger Pfarrer?" Ja, das sind einschneidende Perspektiven. Selbst wenn es Übergänge geben wird, selbst wenn wir tüchtige Frauen und Männer hauptamtlich in der Seelsorge haben werden und hie und da ein älterer Priester mithelfen wird - jetzt gilt es wirklich umzudenken. Manche Orte erfahren das bereits jetzt hautnah.

Wir haben im Eichsfeld einen Vorteil: Das gab es auch in früheren Jahrhunderten. Es gab immer Orte mit einer Kirche, aber ohne Pfarrhaus. Sicher: Diese Filialorte waren meist klein. Jetzt trifft es auch größere Orte, Dörfer, die immer einen eigenen Pfarrer vor Ort hatten. Es wird schmerzlich sein, das Pfarrhaus leer zu sehen oder es auf Dauer zu verlieren. Verlustgefühle sind schmerzlich. Da gilt es zu trösten. Da gilt es Wunden zu verbinden.

Eine Erfahrung stimmt mich zuversichtlich: Gerade die kleinen Gemeinden sind oft sehr aktiv - besonders im Eichsfeld. Es ist oft erstaunlich, was sie bewegen und auf die Beine stellen. Darum: Es wird mit dem katholischen Leben im Eichsfeld, im Bistum weitergehen - aber es wird anders weitergehen, vielgestaltiger und bunter. Wir müssen nur lernen, über den eigenen Tellerrand hinwegzuschauen, in den Pfarreien zusammenzuarbeiten und die vorhandenen Kräfte zu bündeln.

Ich erwähne hier ausdrücklich unsere kirchlichen Kindergärten, weil deren Bedeutung in Zukunft steigen wird. Mit den Dechanten zusammen habe ich allen Pfarreien mit Kindergärten ein Angebot unterbreitet, eine kirchliche Trägergesellschaft für unsere Kindertagesstätten zu bilden, um die Pfarrer und Kirchenvorstände, die in Zukunft manchmal mehrere Kindergärten zu verwalten haben, zu entlasten. Prüft dieses Angebot, aber denkt auch daran: Unsere Kindergärten sollen kirchlich bleiben. Dort soll für die Kleinen Gott und sein Himmel in den Blick kommen, dort soll gebetet werden und die Feste der Kirche mitgefeiert werden. Kindergärten sind "Glaubensgärten". Das darf uns nicht verloren gehen.  

Ich bitte euch auch ganz persönlich als Väter: Seht eure Kinder als Geschenk, als einen Schatz, den es zu bewahren gilt. Jede Stunde Zeit, die ihr mit ihnen verbringt, ist kostbar. Jedes Wort, das ihr mit ihnen sprecht, ist wertvoll. Sagt nie: Es bringt doch nichts! Es hat doch keinen Zweck. Lasst auch in schwierigen Situationen die Tür zu euren Kindern immer offen.

Ich bin dankbar, dass viele verstehen, dass wir uns in den Pfarrgemeinden bewegen müssen. Geht diesen Weg der Veränderung konstruktiv mit! Wir müssen das Kleid der Kirche neu anpassen. Aber noch mehr müssen wir inhaltliche Ausrufezeichen setzen: Uns darf der Geist nicht ausgehen. Uns darf der Himmel nicht aus dem Blick geraten. Auch eine aus unterschiedlichsten Gründen kleiner werdende Kirche braucht einen geistlichen Grundwasserspiegel, von dem her sich unser ortskirchliches Leben speisen und immer neu kräftigen kann.

Darum meine Bitte: Lasst die Kirchen nicht leer werden! Lasst die Glocken von den Kirchtürmen nicht umsonst erklingen! Sucht den Gottesdienst! Haltet fest am Kirchenjahr, am gemeinschaftlichen und persönlichen Gebet und helft den Priestern und den in der Seelsorge Tätigen auch weiterhin, nun in größer werdenden Räumen in Freude ihren Dienst zu tun.

Und eine dritte Anfechtung spreche ich an:
Unsere Kirche ist so schrecklich unmodern! Immer wieder bekomme ich Vorschläge für eine zu reformierende Kirche auf den Tisch. Wir Bischöfe sollen dem konservativen Papst den Gehorsam aufkündigen. Wir sollen den Zölibat der Priester aufheben. Wir sollen mit der Zulassung zur Kommunion nicht so streng sein, das lästige Sonntagsgebot lockern, die Beichtpflicht abschaffen und nicht so viel vom jüngsten Gericht, von Hölle und Fegfeuer reden. Und zudem: Was wir nur gegen die Abtreibung und die freie Liebe haben, das sei doch wahrhaft von gestern und völlig überholt! Vorschläge für ein neues, "fortschrittliches" Glaubensbekenntnis habe ich auch schon zugeschickt bekommen.

Jetzt kommt dazu ein neuer, z. T. aggressiver Atheismus, der Glaube und Kirche ganz offen angreift, zum Kirchenaustritt aufruft und im Namen einer naturalistischen Weltdeutung den Gottesglauben zum Hemmschuh des wahren Menschheitsfortschritts erklärt. Manchmal komme ich mir schon wieder vor wie in alten DDR-Zeiten.

Liebe Wallfahrer! Sind wir wirklich nicht modern genug? Ohne Zweifel ist die Kirche in manchen Dingen unmodern. Sie muss es sogar sein, wenn sie dem treu sein will, was sie vom Herrn und den Aposteln empfangen hat. Sie trägt zudem den Schatz des österlichen Glaubens in Gefäßen, die von der Kultur vieler Jahrhunderte geprägt sind. Darin ist die Kirche einem großen Ozeandampfer vergleichbar, der im Meer seine beständige Bahn zieht und sich an Wendigkeit und Schnelligkeit nicht mit kleinen flotten Kreuzern vergleichen kann. Ein solcher Ozeanriese reagiert durchaus auf das Steuerruder. Das letzte Konzil z. B. brachte eine solche Kurskorrektur - und wir müssen alles daran setzen, dass die Kirche auf diesem Konzilskurs bleibt. Das braucht freilich seine Zeit.

Die Kirche hat ihre Überzeugungen, sie weiß sich anderen Maßstäben verpflichtet als denen des Zeitgeistes. Sie geht ihren Weg in der Überzeugung, dass manche Werte, die heute nicht hoch im Kurs stehen, morgen wieder neuen Glanz gewinnen werden. Etwa der Glaube, dass diese Welt nicht nur Material zum Ausbeuten ist, sondern Schöpfung, für die wir auch in Zukunft Verantwortung tragen. Oder: dass wir als Kinder Gottes alle die gleiche Würde und das gleiche Lebensrecht haben, ob es sich nun um einen Embryo handelt oder um einen Alzheimer-Patienten.

Natürlich. Auch die Kirche verändert sich. Wir haben es gerade bei meinem letzten Punkt miteinander bedacht. Ich weiß z. B. durchaus: Für Menschen in komplizierten Lebenssituationen braucht es besondere seelsorgliche Hilfen, etwa, wenn ein Partner untreu wird und der andere oder die andere auf einmal mit den Kindern allein dasteht. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: wenn die Intensivmedizin nicht zulässt, dass ein Kranker in Würde sterben kann. Es gibt nicht auf alle Situationen fertige Antworten. Dazu ist das Leben heute oft zu kompliziert. Aber unsere Kirche ist durchaus in der Lage, in solchen schwierigen Situationen verantwortlich seelsorgliche Hilfe und Begleitung anzubieten.

Wir sollten von der Kirche nichts Unmögliches verlangen. Sie sagt uns das, was für unser Heil wichtig ist: Das Gebot des Herrn, Gott und den Nächsten zu lieben und den Schwachen beizustehen. Sie verkündet uns das Wort der Schrift, das uns mit Jesus Christus bekannt macht und uns Orientierung für das Leben gibt. Sie feiert mit uns die Sakramente, die uns österliche Hoffnung geben und uns auf dem Weg zu Gott festigen und stärken. Das ist das Entscheidende. Das ist das Zentrum unseres Christseins. Wenn das gesichert bleibt, dann mag das eine oder andere am Äußeren der Kirche sich noch ändern - es wird aber nicht ihr Wesen ändern.

Die Kirche wird immer fragen, ob eine denkbare Veränderung auf Dauer ein geistlicher Gewinn ist und allen hilft, das Evangelium besser zu verstehen und zu leben. Die Abschaffung der Beichte wäre gewiss kein Gewinn. Ich gebe zu: Nicht alles ist für alle bestimmt, der Zölibat z. B., aber alle - ob wir verheiratet sind oder um des Himmelreiches ehelos leben - sind für ihn, unseren Herrn bestimmt. Ihm sollen wir gehören, im Leben und im Tode. Ich freue mich über jede gelingende Ehe und jede gute Familie. In ihr wird durchaus Gottes Gebot gelebt und seine Nähe erfahren. Aber ich erfahre meine Ehelosigkeit auch als ein Geschenk, das mich ständig an mein Ja für Gott und meinen Dienst für die vielen Menschen erinnert. Gott muss im Blick bleiben - sonst gelingt weder priesterliche Ehelosigkeit noch christliche Ehe. Beides speist sich aus der gleichen Quelle, der Zuversicht, die das Evangelium schenkt. Wer es fassen kann, der fasse es.


Liebe Wallfahrer! Auch die heutige Zeit hält Anfechtungen für uns bereit. Es gibt Sünde und Schuld in unseren eigenen Reihen. Wir erfahren uns hierzulande als eine kleiner werdende Kirche. Und es gibt den Anpassungsdruck an einen Zeitgeist, der meint, wir müssten moderner, marktförmiger werden.

Das sind meine Antworten: Die Tatsache von Schuld und Sünde soll uns nicht entmutigen, aber sie soll uns demütig machen und uns helfen, unser Herz tiefer in Gott und seinem Erbarmen festzumachen.

Veränderungen in den Gemeinden, in der Seelsorge, die jetzt notwendig werden, sind nicht nur Defizite. Sie können uns beweglich machen und helfen, im eigenen religiösen Leben selbst aktiver zu werden.

Und zum dritten: Gerade weil wir lernen, dem Zeitgeist dort zu widerstehen, wo er uns von Gott weglocken will, können wir unsere Treue zum Herrn bewähren und unser Christsein glaubwürdig machen. Nicht Anpassung macht uns attraktiv, sondern das Profil, zu dem uns das Evangelium herausfordert.

Auch die Apostel waren, wie wir im Evangelium lesen, verunsichert. Sie waren schon im Begriff, dem Ruf ihres Meisters untreu zu werden. Eine einzige Nacht, in der ihre Fischernetze leer blieben, ließ sie schon resignieren. Aber einer von ihnen, Petrus sagt: Auf Dein Wort hin, Meister, wollen wir es neu wagen.

Nehmt dieses Wort mit von dieser Wallfahrt. Macht es zu eurem eigenen, ganz persönlichen Wort: Trotz allem (im Blick auf den Ökumenischen Kirchentag in München zitiere ich einmal Martin Luther), "und wenn die Welt voll Teufel wär´!" - auf Dein Wort hin, Herr. Dir will ich gehören, in Zeit und Ewigkeit. Amen.


Predigt gehalten am 13.4.2010