Aktendurchsicht auf Hinweise sexuellen Missbrauchs Minderjähriger

Erfurter Bischof hat hessischen Juristen mit der Untersuchung personenbezogener Akten beauftragt

Bild: Peter Weidemann In: Pfarrbriefservice.de

Erfurt (BiP). 268 Personalakten wurden im Bistum Erfurt für die sogenannte MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz über den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker erfasst. Jetzt geht Bischof Ulrich Neymeyr einen Schritt weiter und lässt über die bereits gesichteten Unterlagen hinaus sämtliche im Ordinariat vorhandenen personenbezogenen Akten prüfen, ob es Hinweise auf Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs gibt. Mit dieser weitergehenden Untersuchung hat der Erfurter Bischof den im Ruhestand lebenden Juristen Franz Trost (71) aus Fulda beauftragt. Der vierfache Familienvater, der vor seinem Jurastudium als Polizeibeamter gearbeitet hatte, war von 1996 bis 2006 Leitender Oberstaatsanwalt in Meiningen und danach bis 2012 in Erfurt.

Anlass für diese Maßnahme war die Aktenlage, als nach der Veröffentlichung der MHG-Studie ein Priester aus dem Bistum Erfurt des mehrfachen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen beschuldigt wurde. Bis dahin waren der heutigen Bistumsleitung keine Verdachtsfälle gegen den beschuldigten Priester bekannt. Auch in der Personalakte gab es keinen entsprechenden Hinweis. Allerdings fand sich außerhalb der Personalakte eine Aktennotiz des damaligen Personalverantwortlichen aus dem Jahr 1989 über Vorwürfe, der Priester habe „homosexuelles Verhalten Jugendlichen gegenüber“ gezeigt. „Ich will Klarheit. Das schulden wir den Opfern sexuellen Missbrauchs“, begründete Bischof Neymeyr seinen Entschluss, zusätzliche Akten prüfen zu lassen, nachdem das Bistum Erfurt den jüngsten Verdachtsfall angezeigt und bekanntgemacht hatte.

Bei den Unterlagen, die Franz Trost jetzt mit juristischem Sachverstand sichtet, handelt es sich um sogenannte Nebenakten der Personalverantwortlichen. Sie enthalten Materialien, die keinen Eingang in die Personalakte gefunden haben. Dazu können Beschwerdebriefe, Bittgesuche, Protokolle, Durchschläge, Schriftverkehr, Gesprächsnotizen und anderes mehr zählen – und zwar zu allen möglichen Anlässen und Themen. Was in die Nebenakte und was in die Personalakte gehört, entscheidet jedes Bistum selbst. Bis heute gibt es innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz kein Standardverfahren. Die Forscher der MHG-Studie hatten diesen Umstand als Manko kritisiert. „Dass jedes Bistum seine Personalakten führt, wie es will, soll aber der Vergangenheit angehören. Daran arbeitet die Bischofskonferenz bereits“, sagt Bischof Neymeyr.

Doch bis dahin will der Erfurter Bischof nicht mit der Überprüfung der Personal-Nebenakten seines Bistums warten. Bleibt es beim gegenwärtigen Stand hat der Leitende Oberstaatsanwalt a.D. etwa 30 voluminöse Ordner durchzusehen. Wie lange das dauert, kann er derzeit noch nicht sagen. Doch Franz Trost lässt sich ohnehin nicht hetzen. „Hier ist Genauigkeit gefragt, nicht Schnelligkeit“, sagt er und stimmt darin mit seinem Auftraggeber überein. Der Bischof erneuert zudem seinen Aufruf, jeglichen Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im kirchlichen Umfeld bei den unabhängigen Missbrauchsbeauftragten des Bistums Erfurt zu melden. Die Kontaktdaten, weitere Ansprechpartner und Informationen finden sich im Internet: www.bistum-erfurt.de/mhg-studie/


Beauftragte zur Meldung und Prüfung von Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst:


Dipl.-Med. Michael Kellert
Telefon:  0172  7 91 39 33
E-Mail:     michael.kellert@gmx.de

Ursula Samietz
Telefon:  0174  3 28 40 04
E-Mail:      ursula.samietz@web.de


Sexueller Missbrauch im Bistum Erfurt: Auf dem Gebiet des 1994 gegründeten Bistums Erfurt haben im Zeitraum von 1946 bis 2014 zehn Priester Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Insgesamt gab es in dieser Zeit 948 Kleriker. Bei den Betroffenen handelt es sich um zehn Jungen und zwei Mädchen, die zum Tatzeitpunkt zwischen acht und zwanzig Jahre alt waren. Diese Angaben machte der Erfurter Generalvikar Raimund Beck am Tag der Veröffentlichung (25.9.2018) der MHG-Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (MHG-Studie)“. Laut dieser Studie fanden sich bei 1.670 Klerikern Hinweise auf sexuellen Missbrauch von 3.677 Minderjährigen. Die sogenannte MHG-Studie – benannt nach den Anfangsbuchstaben der Städte der beteiligten Forschungsinstitute – beschäftigt sich mit dem sexuellen Missbrauch durch Kleriker, also Bischöfe, Priester und Diakone. Beck gab darüber hinaus für das Bistum Erfurt auch Informationen zu Fällen sexuellen Missbrauchs durch Nichtkleriker. Demnach gab es von 1946 bis 2014 zwölf Beschuldigte, jeweils sechs Männer und Frauen, und 18 Betroffene, ebenfalls im Alter von acht bis zwanzig Jahren, nämlich drei Jungen und fünfzehn Mädchen. Von 2015 bis zum 25. September 2018, den Jahren nach dem zeitlichen Erfassungsraum der MHG-Studie, wurden im Bistum Erfurt keine weiteren Fälle sexuellen Missbrauchs, weder durch Kleriker noch durch Nichtkleriker, bekannt oder gemeldet. Nach Veröffentlichung der Studie wurden aber dem Bistum Erfurt drei weitere Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs durch Priester bekannt. Zwei der beschuldigten Priester sind bereits verstorben. Der dritte und jüngste Fall, der die Ausweitung der Aktenuntersuchung ausgelöst hat, betrifft einen Ruhestandsgeistlichen, der vom Bistum Erfurt bei der Staatsanwaltschaft Mühlhausen angezeigt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Der beschuldigte Priester muss sich jedoch noch einem kirchlichen Verfahren unterziehen.