Zukunft geht über eigenes Lebensende hinaus

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr an Sylvester 2023 im Erfurter Dom

Bild: Yohanes Vianey Lein; In: Pfarrbriefservice.de

„Zukunft hat der Mensch des Friedens“, so lautet das Leitwort des 103. Deutschen Katholikentags, der vom 29. Mai bis zum 2. Juni 2024 bei uns in Erfurt stattfinden wird. Es ist ein Zitat aus dem Psalm 37. Im Buch der Psalmen sind 150 Gebete überliefert, der Psalm 37 ist eines der längsten davon.

Der Beter erörtert im Gebet die Frage, wer am Ende die besseren Karten hat: Der Gerechte, der Mensch, der sich für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden engagiert, oder der Frevler, der nimmt, was er bekommen kann. Gegen Ende des Psalms steht dann der Satz: „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ (Psalm 37,37). Dieser Satz provoziert die Frage: Ist das wirklich so? Hat wirklich der Mensch des Friedens Zukunft und nicht derjenige, der radikal nur seine eigenen Interessen verfolgt, der göttliche und menschliche Gesetze missachtet und der sogar bereit ist, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen? Und zieht nicht am Ende doch der Mensch des Friedens den Kürzeren?

Wenn Sie Menschen des Friedens nennen sollten, Menschen deren Lebenswerk der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung ist, würden Ihnen vielleicht auch die Namen Mahatma Gandhi oder Martin Luther King einfallen. Beide wurden bekanntlich erschossen.

Wie kann man also das Leitwort des Katholikentags erklären oder auch rechtfertigen?

Zunächst ist es wichtig, dass dieser Satz im Kontext eines Gebetes steht. Es ist ein Ringen vor Gott und mit Gott. Der Beter lässt sich nicht in seiner Überzeugung erschüttern, dass Gott auf der Seite der Friedfertigen steht. Auch wenn der Frevler kurzfristig Erfolg hat, gilt ihm die Drohung: „Eine Weile noch, dann gibt es keinen Frevler mehr. Schaust Du nach seiner Stätte – ist er nicht mehr da“ (Psalm 37,10). Gott selbst wird also den Frevlern ein böses Ende bereiten. Am Ende des Psalms heißt es: „Die Zukunft der Frevler ist ausgetilgt“ (Psalm 37,38). Dagegen steht Gott auf der Seite der Gerechten und Friedfertigen, sodass der Mensch des Friedens Zukunft hat.

Viermal wird im Psalm 37 zum Ausdruck gebracht, dass die Zukunft, die Gott den Gerechten verheißt, darin besteht, dass sie das Land besitzen werden: „Die Gerechten werden das Land besitzen und darin wohnen für alle Zeiten“ (Psalm 37,29). Diese Verheißung, das Land zu besitzen, bezieht sich für die Juden bis heute auf Land Israel. Die Sehnsucht nach Israel ist bei allen Juden vorhanden. Deshalb ist auch die Verbindung und die Solidarität mit dem Staat Israel für fast alle Juden ein Teil ihrer Identität. Aus christlicher Sicht verheißt diese Zusage nicht ein konkretes Land auf dem Globus, sondern das messianische Friedensreich, das Jesus Christus am Ende der Welt und ihrer Geschichte errichten wird und das er uns durch seinen Tod und seine Auferstehung erschlossen hat.

Diese Hoffnung auf ein ewiges Friedensreich wird durch die Bergpredigt genährt, in der Jesus gesagt hat: „Selig, die Frieden stiften“ (Matthäus 5,9). Das motiviert, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen – auch in unserer kleinen Welt, also für den Bereich von Familie, Freundeskreis, Vereinsleben oder Arbeitsleben. Sturköpfe haben schnell ein Zerwürfnis herbeigeführt, unter dem dann alle leiden. Diejenigen, die versuchen, den anderen zu verstehen, die das Gespräch suchen, die tolerant sind, die bereit sind, ihre Meinung zu ändern, tragen zum Frieden und zur gelungenen Gemeinschaft bei.


Alle, die sich für den Frieden in der großen Welt engagieren, stehen vor allergrößten Herausforderungen. Wie ist für sie der Satz „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ verständlich? Entweder ist dieser Satz schlichtweg falsch, oder man muss über das Wort „Zukunft“ nachdenken.

Zukunft ist ja ein sehr weiter Begriff. Er reicht von der Zukunft, die wir nachher beim Mittag-/Abendessen erleben werden, bis hin zum Ende der Welt und ihrer Geschichte. Mit „Zukunft“ ist im Psalm 37 sicher nicht das nächste Jahr gemeint. Wenn der Satz „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ verständlich sein soll, dann muss diese Perspektive auch über das Ende des eigenen Lebens hinausreichen. Da haben nämlich Mahatma Gandhi und Martin Luther King und viele andere Friedensstifter langfristig eine Zukunft der Versöhnung, des Friedens und der Gerechtigkeit eröffnet, auch wenn sie selbst die Früchte nicht ernten konnten.

Den ökologischen Frieden mit der Natur werden wir nur erreichen können, wenn wir über unsere eigene Lebenszeit hinausdenken. Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt ja aus der Forstwirtschaft. Die Forstwirte stehen zurzeit in den abgestorbenen Wäldern und fragen und überlegen gemeinsam, welche Zukunft der Wald und damit auch unsere Umwelt haben kann. Von ihnen können wir lernen, sogar über den Tellerrand des eigenen Lebens hinauszublicken. Die Forstwirte verheißen nicht blühende Landschaften, sondern sagen: Das dauert.

Deswegen dürfen wir auch nicht nachlassen, für den Frieden in der Welt zu beten. Seit 1.600 Jahren beten wir nach dem Vater unser: Erlöse uns, Herr, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen.