Gott kommt auf leisen Sohlen

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr in der Christmette 2023 im Erfurter Dom

 

Bild: Britta Miltner, Straelen; In: Pfarrbriefservice.de

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,

an Weihnachten feiern wir die Botschaft des Engels über den Feldern von Bethlehem: „Heute ist Euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.“ (Lukas 2,11). Ein gewaltiges Ereignis wird hier angekündigt. Es ist eine rhetorische und inhaltliche Steigerung, dass der Neugeborene zunächst als Retter bezeichnet wird, dann als Christus, also als Messias und schließlich als Herr, also als Gott selbst. Für dieses bahnbrechende Ereignis kündigt der Engel ein Zeichen an. Ein Zeichen ist kein Beweis, sondern ein Hinweis auf eine verborgene Wirklichkeit. Als Zeichen für die Geburt des Retters, des Christus´, des Herrn, könnte man sich ein gewaltiges Naturphänomen vorstellen, etwa ein Wetterleuchten oder ein Erdbeben. Oder man könnte an einen großartigen Tempel denken, der plötzlich mitten in Bethlehem steht. Aber das Zeichen ist das pure Gegenteil der großartigen Verheißung: „Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt.“ (Lukas 2,12). Die Geburtsankündigung ist eine Steigerung nach oben vom Retter über den Christus bis hin zum Herrn, während das Zeichen eine Steigerung nach unten ist: Es ist nur ein Kind, ein Baby, das dort zu sehen ist. Um deutlich zu machen, dass es ein ganz gewöhnliches Baby ist, wird auf seine Windeln hingewiesen, auf die Hilfsbedürftigkeit des Neugeborenen und das liegt noch nicht einmal in einem kleinen Babybett, sondern in einer Krippe. Dieses Zeichen ist das absolute Gegenteil von dem, was zu erwarten war.

Die Überraschung darüber sollten wir nicht verlernen. Jede Krippendarstellung, die wir anschauen, führt sie uns vor Augen: So also tritt der Retter, der Christus, der Herr in die Welt und ihre Geschichte ein. Er überwältigt nicht, er überrumpelt nicht, er kommt in kaum zu überbietender Unscheinbarkeit daher. Als erwachsener Mann trat Jesus in der genauso unscheinbaren Gestalt des Zimmermannssohnes aus Nazareth in die Öffentlichkeit. Er hat es immer wieder abgelehnt, die Menschen ein Zeichen dafür sehen zu lassen, dass er wirklich der Retter, der Christus, der Herr ist, ein Zeichen im Sinne eines Beweises. Jesus hat nur das Zeichen des Propheten Jona gelten lassen, der als schlichter Bußprediger die große Stadt Ninive zur Umkehr bewegt hat. Die drei Tage und drei Nächte, die Jona im Bauch eines Fisches verbrachte, sind für Jesus ein Zeichen, dass er nach der Kreuzigung drei Tage und drei Nächte im Grab sein werde. Gott kommt nicht lautstark und pompös daher, sondern in schlichten Zeichen.
Das hat auch der berühmte Martin von Tours erlebt. Es war ein Ausdruck der Mitmenschlichkeit, dass er mit dem frierenden Bettler seinen Mantel geteilt hat. Erst in der Nacht darauf ist ihm eingeleuchtet, dass dieser frierende Bettler ein Zeichen für Jesus Christus war. Es wurde ihm deutlich, dass er Christus begegnet war. Solch eine Begegnung mit dem Retter, dem Christus, dem Herrn, in so schlichten äußeren Zeichen wie einem Baby, das in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt oder einem Bettler, der frierend im Schnee sitzt, solch eine Begegnung verwandelt den Menschen und hat auch Martin von Tours verwandelt. Zunächst ließ er sich taufen und verweigerte den Kriegsdienst. Dann zog er sich auf eine Insel im Golf von Genua zurück und lebte dort nach dem Vorbild ägyptischer Wüstenmönche ganz in der Gegenwart des Herrn. Er wurde so zum Begründer des abendländischen Mönchtums. Das Bischofsamt übernahm er nur widerwillig. Als bei einer Synode in Trier der Irrlehrer Priscillian und seine Anhänger zum Tode verurteilt wurden, verließ er empört die Versammlung. Nur zwei Bischöfen war auf dieser Synode klar, welch ungeheuerliches Unrecht es ist, dass im selben Jahrhundert, zu dessen Beginn die römische Staatsmacht Christen verfolgte und ermordete, Bischöfe mit Hilfe derselben Staatsmacht einen unbequemen Kollegen und seine Anhänger umbringen ließen. Der Heilige Martin von Tours und der Heilige Ambrosius von Mailand verließen empört die Synode. Wem Christus begegnet ist und wer in lebendiger Gemeinschaft mit Christus lebt, der bewahrt sich einen klaren Blick für das, was Recht und was Unrecht ist.

Die Betrachtung der Weihnachtskrippe kann also gefährlich werden. Sie kann uns und unserem Leben gefährlich werden. Sie kann uns und unser Leben verändern.

Nicht nur die Weihnachtskrippe lädt uns ein, den menschgewordenen Gottessohn in unser Leben einzulassen bzw. uns ins Leben des menschgewordenen Gottessohnes hineinziehen zu lassen. Die Christmette ist eine Heilige Messe. Unter den Gestalten von Brot und Wein verehren wir den Leib und das Blut Jesu Christi. Auch beim Letzten Abendmahl hat Jesus schlichte alltägliche Zeichen gewählt, um in Gemeinschaft mit seinen Jüngerinnen und Jüngern zu treten und zu bleiben. Der Heilige Franziskus hatte die Erlaubnis erhalten, dass in Greccio ein Priester inmitten einer echten Weihnachtskrippe mit echten Tieren und echten Hirten die Heilige Messe gefeiert hat. So konnten alle miterleben und mitfeiern, dass Gott auf leisen Sohlen kommt, nicht überwältigend, aber wirklich. Im schlichten Zeichen eines Kindes, dass in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt oder in den schlichten Zeichen von Brot und Wein. In einem Weihnachtslied heißt es: „Ich sehe Dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär, und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!“ (GL 256).