Krieg wird keinen Frieden schaffen

Vortrag von Bischof Ulrich Neymeyr beim Elisabeth-Empfang in Erfurt am 16. November 2023

(c) Bistum Erfurt; Foto: Marco Wicher

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin Pommer,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow,
sehr geehrter Herr Präsident des Verfassungsgerichtshofes von der Weiden,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

schon im letzten Jahr habe ich Ihnen an dieser Stelle einige Gedanken zum Leitwort des Katholikentags vorgetragen. Angesichts der vielfältigen Krisen und Unsicherheiten dieser Tage ist mir dieses Wort aus Psalm 37 mittlerweile sehr wichtig geworden. Und so möchte ich auch in diesem Jahr das Leitwort des kommenden Katholikentags zum Ausgangspunkt für drei Gedanken nehmen.

„Zukunft hat der Mensch des Friedens“, so lautet das Leitwort des 103. Deutschen Katholikentags, der vom 29. Mai bis zum 2. Juni 2024 bei uns in Erfurt stattfinden wird. Es ist ein Zitat aus dem Psalm 37. Im Buch der Psalmen sind 150 Gebete überliefert; der Psalm 37 ist eines der längsten davon. Der Beter erörtert im Gebet die Frage, wer am Ende die besseren Karten hat: Der Gerechte, der Mensch, der sich für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden engagiert, oder der Frevler, der nimmt, was er bekommen kann. Gegen Ende des Psalms steht dann der Satz: „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ (Psalm 37,37).

Dieser Satz provoziert die Frage: Ist das wirklich so? Hat wirklich der Mensch des Friedens Zukunft und nicht derjenige, der radikal nur seine eigenen Interessen verfolgt, der göttliche und menschliche Gesetze missachtet und der sogar bereit ist, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen? Und zieht nicht am Ende doch der Mensch des Friedens den Kürzeren? Wenn Sie Menschen des Friedens nennen sollten, Menschen, deren Lebenswerk der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung ist, würden Ihnen vielleicht auch die Namen Mahatma Gandhi oder Martin Luther King einfallen. Beide wurden bekanntlich erschossen. Wie kann man also das Leitwort des Katholikentags erklären oder auch rechtfertigen?

Ich möchte Ihnen dazu drei Gedanken vorstellen:
 
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Satz im Kontext eines Gebetes steht. Es ist ein Ringen vor Gott und mit Gott. Der Psalm hat also einen religiösen Horizont. Der Beter lässt sich nicht in seiner Überzeugung erschüttern, dass Gott auf der Seite der Friedfertigen steht. Auch wenn der Frevler kurzfristig Erfolg hat, gilt ihm die Drohung: „Eine Weile noch, dann gibt es keinen Frevler mehr. Schaust Du nach seiner Stätte – ist er nicht mehr da“ (Psalm 37,10). „Die Frevler haben das Schwert gezückt und ihren Bogen gespannt, um zu Fall zu bringen den Armen und Elenden, die zu schlachten, die den geraden Weg gehen. Ihr Schwert wird in ihr eigenes Herz dringen, ihre Bogen werden zerbrechen“ (Psalm 37,14-15). Gott selbst wird also den Frevlern ein böses Ende bereiten. Am Ende des Psalms heißt es: „Die Zukunft der Frevler ist ausgetilgt“ (Psalm 37,38). Dagegen steht Gott auf der Seite der Gerechten und Friedfertigen, sodass der Mensch des Friedens Zukunft hat.

Viermal wird im Psalm 37 zum Ausdruck gebracht, dass die Zukunft, die Gott den Gerechten verheißt, darin besteht, dass sie das Land besitzen werden: „Die Gerechten werden das Land besitzen und darin wohnen für alle Zeiten“ (Psalm 37,29). Diese Verheißung, das Land zu besitzen, bezieht sich für die Juden bis heute auf das Land Israel. „Ohne die Hoffnung auf die Rückkehr nach Israel wäre jüdisches Leben im Exil unvollständig.“ Das sagte Rabbiner Zsolt Balla bei einer Fachtagung der Deutschen Bischofskonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland im November 2019. In seinem Vortrag zum Thema „Das Land Israel und der Staat Israel im interreligiösen Dialog“ sagte Rabbiner Balla weiter: „Es gibt viele durchaus legitime Gründe, beruflicher, familiärer, gesundheitlicher oder anderer Art, die Juden daran hindern, nach Israel zu ziehen. Doch die Sehnsucht nach Israel ist bei allen Juden vorhanden. Deshalb ist auch die Verbindung und die Solidarität mit dem Staat Israel für fast alle Juden ein Teil ihrer Identität.“ (Arbeitshilfen Nr. 314 der Deutschen Bischofskonferenz, Seite 63). Deswegen lebe ich gerne in einem Staat, der das Existenzrecht Israels bedingungslos anerkennt. Auch aufgrund seiner Geschichte muss die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches ohne Wenn und Aber dafür einstehen, dass Israel ein völkerrechtlich anerkannter souveräner Staat ist, in dem Juden sicher leben können. Professor Schramm, der Vorsitzende unserer jüdischen Landesgemeinde, sagt: „Wäre der Staat Israel zehn Jahre früher gegründet worden, hätte ich meine Großeltern kennengelernt.“ Diese Worte sollten uns mahnen, wenn wir heute an Israel denken.
Im gegenwärtigen Konflikt bewegt mich nicht nur das Geschick der Israelis, sondern auch das Schicksal der Palästinenser. Auch sie haben ein Existenzrecht, das aus meiner Sicht ohne eine Zwei-Staaten-Lösung nicht gesichert sein kann. Krieg wird keinen Frieden schaffen.

Lassen Sie mich noch einmal zurückkehren zu den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Juden. Aus meiner Sicht hat unser Land, haben wir noch eine weitergehende Verpflichtung gegenüber den Juden: Deutschland muss selbst ein Staat werden, in dem Juden sicher leben können. Leider muss ich sagen, Deutschland muss solch ein Staat werden, er ist es nicht. Jüdinnen und Juden werden bei uns nicht nur beschimpft oder angegriffen, in weiten Kreisen unserer Gesellschaft sind abschätzige Bemerkungen über Juden salonfähig geworden. Grausame Judenwitze werden als Jugendsünde verharmlost. Es braucht nicht nur polizeiliche und ausländerrechtliche durchgreifende Maßnahmen gegen Judenhasser unter Muslimen und Nazi-Deutschen, es braucht eine Sensibilisierung unserer Gesellschaft für die Juden, die unter uns leben. Das Themenjahr 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen war ein kleiner Beitrag dazu. Ich habe mich sehr gefreut, dass Erfurt aufgrund seines jüdischen Lebens Weltkulturerbe wurde, aber dieses Erbe verpflichtet für die Gegenwart, z.B. dadurch, dass alle mithelfen, dass wir in Erfurt einen Kindergarten für jüdische Kinder bekommen.

Jetzt möchte ich aber wieder zurückkommen zum Psalm 37 und seiner Verheißung, dass der Gerechte das Land erben wird. Aus christlicher Sicht verheißt diese Zusage nicht ein konkretes Land auf dem Globus, sondern das messianische Friedensreich, das Jesus Christus am Ende der Welt und ihrer Geschichte errichten wird und das er uns durch seinen Tod und seine Auferstehung erschlossen hat. Diese Hoffnung auf ein ewiges Friedensreich wird durch die Bergpredigt genährt, in der Jesus gesagt hat: „Selig, die Frieden stiften“ (Matthäus 5,9). Die Menschen, die Jesus in der Bergpredigt seliggepriesen hat, sind nach irdischen Maßstäben gerade nicht glücklich: Es sind die Armen und Trauernden, die Menschen, die Hunger und Durst haben und die, die verfolgt werden. Auch die Friedensstifter haben häufig kein leichtes Schicksal. Sie können leicht zwischen die Fronten geraten und dabei Schaden nehmen, wie man ja am Schicksal von Mahatma Gandhi und Martin Luther King und anderen sehen kann. Die Auszeichnung durch einen Friedenspreis ist dann oft nur ein kleiner irdischer Trost. Die Zukunft, die dem Menschen des Friedens im Psalm 37 und im Leitwort des Erfurter Katholikentags versprochen wird, ist also für uns Christen die den Friedensstiftern in der Bergpredigt verheißene Seligkeit im messianischen Friedensreich Jesu Christi.

Nun findet der Erfurter Katholikentag nicht in einer Umgebung statt, in der sich alle zum christlichen Glauben bekennen. Vielmehr ist der Mehrheit der Bevölkerung Religion fremd. Wie aber ist der Satz „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ für Menschen ohne Hoffnung aus der Religion verständlich? Entweder ist dieser Satz schlichtweg falsch oder man muss über das Wort „Zukunft“ nachdenken. Zukunft ist ja ein sehr weiter Begriff. Er reicht von der Zukunft, die wir nachher beim Buffet erleben werden, bis hin zum Ende der Welt und ihrer Geschichte. Da die Welt vergänglich ist, wird es auch irgendwann das Ende ihrer Geschichte geben. Mit „Zukunft“ ist im Psalm 37 sicher nicht der nächste Tag gedacht, obwohl doch viele in der Politik sehr darauf bedacht sind, was am nächsten Tag in der Zeitung steht bzw. noch kurzfristiger, was sie als Tweet absetzen sollen. Natürlich gibt es in der parlamentarischen Demokratie auch die Zukunft des nächsten Wahltags, der viel politisches Handeln bestimmt und dem ein Wahlkampf vorausgeht, der immer länger dauert. Gerne können Sie sich damit noch ein wenig Zeit lassen und vorher noch ein paar Themen abarbeiten. Solch kurzfristige Zukunftsperspektiven können im Psalm 37 nicht gemeint sein.

Wenn der Satz „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ auch ohne religiösen Hintergrund verständlich sein soll, dann muss diese Perspektive auch über das Ende des eigenen Lebens hinausreichen. Da haben nämlich Mahatma Gandhi und Martin Luther King und viele andere Friedensstifter langfristig eine Zukunft der Versöhnung, des Friedens und der Gerechtigkeit eröffnet, auch wenn sie selbst die Früchte nicht ernten konnten.

Den ökologischen Frieden mit der Natur werden wir nur erreichen können, wenn wir über unsere eigene Lebenszeit hinausdenken. Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt ja aus der Forstwirtschaft. Die Forstwirte stehen zurzeit in den abgestorbenen Wäldern und fragen und überlegen gemeinsam, welche Zukunft der Wald und damit auch unsere Umwelt haben kann. Von ihnen können wir lernen, sogar über den Tellerrand des eigenen Lebens hinauszublicken. Die Forstwirte verheißen nicht blühende Landschaften, sondern sagen: Das dauert.

Voraussetzung ist allerdings, dass die Klimakrise nicht einfach geleugnet wird. Papst Franziskus hat in seinem neuesten Schreiben „Laudate Deum“ vom 4. Oktober 2023, das eine Fortsetzung und Aktualisierung seiner Umweltenzyklika „Laudato si“ ist, sehr deutlich geschrieben: „Das Einhergehen der globalen Klimaphänomene mit dem beschleunigten Anstieg der Treibhausgasemissionen, insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts, lässt sich nicht verbergen. Eine überwältigende Mehrheit der Klimawissenschaftler vertritt diese Korrelation und nur ein winziger Prozentsatz von ihnen versucht, diese Evidenz zu bestreiten. (…) Ich sehe mich gezwungen, diese Klarstellungen, die offenkundig erscheinen mögen, aufgrund bestimmter abschätziger und wenig vernünftiger Meinungen vorzunehmen, die ich selbst innerhalb der katholischen Kirche vorfinde. Aber wir können nicht mehr daran zweifeln, dass der Grund für die ungewöhnliche Geschwindigkeit der gefährlichen Veränderungen eine unbestreitbare Tatsache ist: die gewaltigen Entwicklungen, die mit dem ungezügelten Eingriff des Menschen in die Natur in den letzten zwei Jahrhunderten zusammenhängen. Natürliche Einflüsse, die typischerweise eine Erwärmung verursachen, wie Vulkanausbrüche und andere, reichen nicht aus, um das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Veränderungen in den letzten Jahrzehnten zu erklären.“ (Nr. 13f.)

Das dauert, sagen die Forstwirte. Es dauert auch, Menschen aus anderen Ländern und Kulturen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Es braucht Anstrengung auf beiden Seiten und es dauert länger als eine Generation. Das kann man studieren am Schicksal der sogenannten „Gastarbeiter“, die seit 1955 in die alte Bundesrepublik kamen. Parallelgesellschaften entstanden übrigens auch bei den katholischen Migranten, was durchaus auch von der katholischen Kirche unterstützt wurde, weil sie für die sogenannten „muttersprachlichen Gemeinden“ eigene Organisationsformen schuf, sodass es bis zur Generation der Enkel dauerte, dass auch der katholische Glaube die Menschen miteinander verbunden hat. Sowohl in der Frage der Ökologie als auch in der Frage der Migration gilt der Satz der Fortwirte: Das dauert. Genauso, wie die alte Bundesrepublik seit 1955 die „Gastarbeiter“ gebraucht hat, brauchen wir heute angesichts der demografischen Entwicklung Zuwanderung und Migration, auch wenn die Integration dauert.
 
In einer dritten Perspektive kann das Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ auch Menschen, denen Religion fremd ist, verständlich sein, dann nämlich, wenn man ihn nicht als eine Deutung des politischen Lebens sieht, sondern als eine Deutung des persönlichen Lebens, also für den Bereich von Familie, Freundeskreis, Vereinsleben oder Arbeitsleben. Sturköpfe haben schnell ein Zerwürfnis in einer Familie herbeigeführt, unter dem dann alle leiden. Diejenigen, die versuchen, den anderen zu verstehen, die das Gespräch suchen, die tolerant sind, die bereit sind, ihre Meinung zu ändern, tragen zum Frieden und zur gelungenen Gemeinschaft bei. Dies gilt auch für das Miteinander im Betrieb, im Verein, in der Partei – und darin kenne ich mich aus – in der Kirchengemeinde. Man sollte ja meinen, dass eine Kirchengemeinde immer ein Ort des Friedens wäre. Aber es gibt in jeder Kirchengemeinde auch Sturköpfe. Ich habe in meiner Mainzer Zeit einen Pfarrer kennengelernt, der ein unermüdlicher Friedensstifter war. Wenn es irgendwo Streit gab, hat er mit unendlicher Geduld mit Streithähnen gesprochen und es ist ihm immer gelungen, sie wieder zusammenzuführen. Auch wenn es Streit unter Pfarrern gab – das soll es geben – war er zur Stelle und hat unermüdlich dafür geworben, gemeinsame Lösungen und Wege zu finden. Ich habe das selbst einmal erlebt, als er mich in einem langen Gespräch dazu bewogen hat, meine Meinung zu ändern. Kurz bevor er in den Ruhestand gegangen ist, hat er einmal erzählt, warum er Konflikte nicht ertragen kann und sich unermüdlich für Versöhnung und Miteinander engagiert: Als Soldat war er im Zweiten Weltkrieg in Russland. Es ergab sich, dass er und ein russischer Soldat sich plötzlich gegenüber standen. Beiden hatte das Gewehr im Anschlag. Beide haben das Gewehr heruntergenommen und sind in unterschiedliche Richtungen davongelaufen. Als er diese Geschichte erzählt hatte, war mir klar, weshalb er sich so unermüdlich für den Frieden eingesetzt hatte. Als Mensch des Friedens hat er nicht nur vielen eine gute Zukunft eröffnet, sondern er hat auch selbst eine gute Zukunft erlebt. Auch als Pensionär war er ein vielgesuchter Gesprächspartner. Zu seiner Beerdigung sind sehr viele Menschen gekommen, in Trauer, aber auch in der Zuversicht, dass er zu den seliggepriesenen Friedensstiftern gehört. Im persönlichen Bereich hat der Mensch des Friedens Zukunft.

Ich möchte Sie alle heute schon herzlich einladen zu den Veranstaltungen des 103. Deutschen Katholikentags vom 29. Mai bis zum 2. Juni 2024. Der Katholikentag wird kleiner als bisherige Katholikentage. So hatte der Katholikentag in Stuttgart 1.500 Veranstaltungen, wir werden hier 500 Veranstaltungen haben. Diese Straffung des Programms wird dem Katholikentag guttun, dessen bin ich mir sicher. Ich habe seit 1978 in Freiburg an allen Deutschen Katholikentagen teilgenommen und miterlebt, wie die Veranstaltung immer umfangreicher und damit auch unübersichtlicher wurde. Die Straffung des Programmes wird dem Katholikentag guttun, wie auch die Tatsache, dass die Veranstaltungen im Innenstadtbereich stattfinden, sodass es kurze Wege und viel Gelegenheit zur Begegnung geben wird. Es wird etwa 250 Stände von Organisationen, Einrichtungen und Verbänden geben, die sich auf dem Katholikentag präsentieren, sodass man die ganze Vielfalt der katholischen Kirche auf engem Raum kennenlernen kann. Die meisten dieser Stände werden auf dem Domplatz und auf dem Petersberg sein.

Ich möchte mich auch bedanken für alle Unterstützung des Katholikentags in finanzieller, aber auch organisatorischer Hinsicht. Ich freue mich, dass wir in Thüringen und in Erfurt als katholische Kirche willkommen sind und den Katholikentag veranstalten können, zu dem viele Menschen aus ganz Deutschland, aber auch aus der Weltkirche kommen werden. Seien Sie auch alle mit dabei, das würde mich freuen.