Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
das Geschehen des Karfreitags ist monströs. Jesus ist an diesem Tag ja nicht nur gestorben. Er wurde umgebracht, mit einer grausamen Todesstrafe; dem Tod am Kreuz ging ein mehrstündiger Todeskampf voraus, bei dem Viele gafften, um ihre niedrigsten Triebe zu befriedigen.
Um die Demütigung zu vervollständigen, waren die Delinquenten nackt. In einer Ausstellung von Bildern des zeitgenössischen Malers Michael Triebel habe ich das zum ersten Mal auch künstlerisch so dargestellt gesehen. Zu dieser grausamen Todesstrafe kommt hinzu, dass Jesus zuvor brutal gefoltert worden ist. In dem Film „Passion Christi“ von Mel Gibson ist mir bewusst geworden, dass der Begriff von der „Geißelung“ verharmlosend ist und es geht immer noch schlimmer: Die berühmte Inschrift „Jesus von Nazareth, König der Juden“ ist der Hinweis darauf, dass das Todesurteil im Namen des Volkes gesprochen worden ist. Auch wenn Pontius Pilatus persönlich für das Urteil verantwortlich ist, wie wir im Glaubensbekenntnis sagen, hat er das Urteil im Namen des Römischen Reiches gesprochen.
Und doch kommt es noch schlimmer. Nach dem Zeugnis der Evangelisten Matthäus und Markus hat Jesus am Kreuz geschrien: „Eli, Eli, lema zabachtani?“. Das heißt „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Matthäus 20,46; Markus 15,34). Jesus selbst hat nicht nur unerträgliche Schmerzen und Todesangst durchlitten, sondern auch Gottverlassenheit erfahren.
Warum? Diese Frage steht auch über dem brutalen Geschehen des Karfreitags. Jesus wurde in einem unvorstellbaren Ausmaß Opfer und aus seinem Verständnis war sein Tod ein Opfer: Das ist mein Leib, der für Euch hingegeben wird. Das ist mein Blut, das für Euch und für alle vergossen wird. Der Hebräerbrief schreibt: „Jeder Priester steht Tag für Tag da, versieht seinen Dienst und bringt viele Male die gleichen Opfer dar, die doch niemals Sünden wegnehmen können. Dieser aber hat nur ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht und sich dann für immer zur Rechten Gottes gesetzt.“ (Hebräer 10,11-12).
Das Opfer am Kreuz besteht darin, dass Jesus zum Opfer wird, solidarisch mit unvorstellbar vielen Opfern von Hass, Rache, Menschenfeindlichkeit, Brutalität und Gemeinheit. Was rasch als unmenschlich bezeichnet wird, ist doch menschenmöglich.
Vergebung der Sünden, Versöhnung mit Gott und Versöhnung mit den Menschen brauchte die Bereitschaft des Gottessohnes, Opfer zu werden, das Schicksal der Opfer zu teilen. Im ersten Petrusbrief heißt es: „Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und lebend für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid Ihr geheilt.“ (1 Petrus 2,24). In der Kraft des Kreuzesopfers Christi können die Täter durch das Feuer der Scham und Reue gereinigt und die Opfer können von Hass und Rache befreit werden. Auf orthodoxen Ikonen ist dargestellt, wie die Erlösten zur Pforte des Paradieses ziehen. Dieser Zug wird angeführt vom armen Lazarus, der lebenslang tödliche Ablehnung erfahren hat. Am Himmelstor werden sie von dem Verbrecher begrüßt, dem Jesus das Paradies versprochen hat. Voraussetzung dafür war die Reue, die der Verbrecher dadurch zum Ausdruck brachte, dass er die Todesstrafe der Kreuzigung für gerechtfertigt hielt. Und Voraussetzung war der Glaube an Jesus Christus, den er dadurch zum Ausdruck brachte, dass er sagte: „Jesus denk an mich, wenn Du in dein Reich kommst“ (Lukas 23,42).
Wenn ich gut zeichnen könnte, würde ich das Auferstehungsbild anders malen. Da wären nämlich bei Lazarus Kinder, denen Gewalt angetan wurde. Auch die Kinder, denen es verwehrt wurde, das Licht der Welt zu erblicken. Für mich ist der Karfreitag der Tag, an dem ich die Todsünde der Abtreibung auch in der Predigt erwähnen kann. Viele Ärztinnen und Ärzte – auch solche, die nicht christlich sind – nehmen keine Abtreibungen vor. Auf sie sollte man hören. Für jede Abtreibung gibt es mehrere Verantwortliche.
Im Blick auf das Kreuzesopfer Christi können sie Trost und Hoffnung schöpfen, dass auch diese Todsünde hineingenommen ist in das Erlösungswerk Jesu Christi am Kreuz. Das Lied „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ mutet uns allen zu, uns unserer Schuld zu stellen: „Was Du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich, ich hab´ es verschuldet, was Du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, oh mein Erbarmer, den Anblick Deiner Gnad.“ (GL 289,4).
Paulus schreibt dies im Korintherbrief so: „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat (…). Wir sind also Gesandte an Christi statt und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt, lasst Euch mit Gott versöhnen! Er hat dem, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.“ (2 Kor 5,20-21).