Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
es gibt keine körperliche Berührung ohne persönliche innere Berührung. Zu dieser These hat mich das Thema der diesjährigen Frauenwallfahrt veranlasst: "In Deiner Nähe". Die dichteste Nähe entsteht durch körperliche Berührung. Jeder Körperkontakt geht so nahe, dass er auch das Innere der Person berührt. Dies merkt man besonders dann, wenn eine körperliche Berührung der inneren Nähe nicht entspricht.
Den allermeisten Menschen bereitet das dichte Gedränge in einer vollbesetzten Straßenbahn Unbehagen. Ich finde es befremdlich, wenn mir jemand die Hand gibt, ohne mich dabei anzuschauen. Ich habe den Eindruck, er fasst mich zwar an, nimmt mich aber nicht wahr. Dann ist mir das indische Begrüßungszeremoniell lieber, bei dem man die Hände faltet und sich voreinander verneigt, ohne sich anzufassen. Solch eine Begegnung schafft mehr innere Berührung als ein Händeschütteln ohne die Person wahrzunehmen.
Zu diesen Reflexionen hat mich nicht nur das Thema der diesjährigen Frauenwallfahrt veranlasst, sondern auch der Abschnitt aus dem Markusevangelium, der dafür ausgewählt wurde. Jesus wird von der langzeitkranken Frau angefasst und er spürt, dass dies eine Berührung ist. Die Frau ist sich im Glauben sicher, dass ihr in Jesus Gott begegnet und deswegen möchte sie ihn berühren. Mitten im Tumult spürt Jesus das. Die Evangelisten Matthäus und Lukas beschreiben den Tumult, der in diesem Augenblick herrscht, noch viel deutlicher. Zur selben Zeit ruft nämlich auch der Synagogenvorsteher Jairus: "Meine Tochter liegt im Sterben", ein zwölfjähriges Mädchen. Mitten in dieser Situation spürt Jesus, dass er berührt wurde.
Diese Szene gewährt uns einen tiefen Einblick in die Inkarnation, in die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Gott hat in Jesus Christus wirklich einen menschlichen Körper angenommen, mit allem was dazugehört. Auch mit der Berührbarkeit und Verletzlichkeit, die die Existenz im Körper mit sich bringt. So erzählen die Evangelien, dass Jesus Kinder in die Arme genommen hat und sie gesegnet hat. Beim letzten Abendmahl ruhte sein Lieblingsjünger an seiner Brust. Jesus wusste aber auch schlimme Berührungen zu ertragen. Er wurde geschlagen, etwa beim Verhör durch den Hohepriester oder bei der Folterung, die wir Geißelung nennen. Jesus hat sich ganz in unsere leibhaftige Existenz begeben. Das wirkt bis heute fort, wenn er uns in dem Stück Brot oder in dem Schluck Wein leibhaftig begegnet und berührt.
Wenn ich eingangs sagte, dass jede körperliche Berührung auch eine innere, persönliche Berührung bewirkt, so gilt dieser Satz nicht umgekehrt: Es gibt auch innere, persönliche Berührung ohne körperlichen Kontakt. Worte können uns berühren, Geschichten, die wir hören, oder Bilder, die wir sehen. Diese menschliche Eigenschaft macht es uns möglich, dass wir uns auch vom dreifaltigen Gott berühren lassen können, selbst wenn wir ihn nicht anfassen können, ja wenn wir ihn noch nicht einmal sehen und nicht unmittelbar mit ihm sprechen können. Wir können trotzdem seine Nähe spüren und uns von ihm berühren lassen.
Geht das auch im Tumult unserer Tage? Die kranke Frau konnte Jesus auch im Tumult berühren und er hat diese Berührung wahrgenommen. Für uns heute ist es sicher einfacher, wenn wir uns Zeit und Raum für Gott nehmen. Deswegen gibt es Kirchen als Orte, die dazu einladen, aus dem Alltag des Lebens auszusteigen und Gott wahrzunehmen. Deshalb gibt es Wallfahrten als Einladung, dem Alltag zu entlaufen. Einige von uns sind schon sehr früh aufgebrochen zu einer Fußwallfahrt auf den Kerbschen Berg.
Wir Menschen sind aber auch in der Lage, auch im Alltag unseres Lebens mit Gott in Berührung zu bleiben, wenn wir uns nämlich in eine Lebenspartnerschaft mit ihm einüben, wenn wir unser Leben immer wieder mit seinem Leben in Berührung bringen und so für seine Wirklichkeit und seine Nähe sensibel bleiben. Eine Geschichte erzählt von einem Stadtmenschen und einem Landmenschen, die gemeinsam durch New York gehen. Auf einmal bleibt der Landmensch stehen und sagt: "Hier zirpt irgendwo eine Grille." Daraufhin fragt der Stadtmensch erstaunt: "Wie kannst Du mitten in diesem Lärm eine Grille zirpen hören?" Daraufhin nimmt der Landmensch einige Münzen und wirft sie zu Boden. Viele Menschen bleiben stehen, weil sie das Klingen der Münzen gehört haben. Der Landmensch sagt: "Das Klingen der Münzen ist nicht lauter als das Zirpen der Grillen. Man hört das, was man hören will."
So geht es dem Menschen, der in der Nähe Gottes lebt. Er kann auch mitten im Alltag seine Berührungen wahrnehmen.
Was für die Lebenspartnerschaft mit Gott gilt, gilt auch für die Lebenspartnerschaft mit Menschen. Eine Gemeinschaft des Lebens und der Liebe stiftet Nähe und Berührung, die auch fortdauert, wenn man nicht zusammen ist. Zur Ehrenrettung der sozialen Medien, die beim Anspiel nicht so gut weggekommen sind, sei doch daran erinnert, dass sie auch die Möglichkeit bieten, tiefe menschliche Beziehungen zu pflegen und zu fördern. So kann ein WhatsApp den Zusammenhalt der Familie festigen. Die Verbundenheit in der Gemeinschaft des Lebens und der Liebe findet ihre hervorragende Ausdrucksform in Ehe und Familie.
Papst Franziskus hat seit Beginn seines Pontifikates betont, wie wichtig die Familie für die Menschen und die Gesellschaft ist, aber auch für Christen und die Kirche. In sein nachsynodales Schreiben "Amoris laetitia" sind die Beratungen zweier großer Bischofssynoden eingeflossen. Sie sind eine große Ermutigung dazu, menschliche Nähe, Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in Ehe und Familie zu suchen und zu pflegen. In der Ehe wird die körperliche Dimension menschlicher Berührung besonders intensiv erlebbar.
Papst Franziskus schreib dazu in "Amoris laetitia": "Das Ideal der Ehe kann nicht nur wie ein großherziges und aufopferungsvolles Sich-Schenken gestaltet werden, wo jeder auf alle persönlichen Bedürfnisse verzichtet und sich nur darum kümmert, dem anderen Gutes zu tun, ohne jede Befriedigung. Erinnern wir uns daran, dass eine wahre Liebe auch vom anderen zu empfangen weiß, dass sie fähig ist, sich als verletzlich und bedürftig zu akzeptieren, und nicht ausschlägt, mit aufrichtiger und glücklicher Dankbarkeit die körperlichen Ausdrucksformen der Liebe in einer Liebkosung, einer Umarmung, einem Kuss und der geschlechtlichen Vereinigung anzunehmen.
Papst Benedikt XVI. war diesbezüglich ganz eindeutig: "Wenn der Mensch nur Geist sein will und den Leib sozusagen als bloß animalisches Erbe abtun möchte, verlieren Geist und Leib ihre Würde" (Nr. 157)."
Lassen Sie uns so dankbar der Menschen gedenken, die uns ihre Liebe und Nähe schenken, uns immer wieder unser Leben in Berührung mit dem Leben Gottes bringen.
28.05.2017

