"Wir haben es mit Menschen zu tun, nicht mit Fällen"

Predigt von Bischof Joachim Wanke beim Caritastag im Elisabeth-Jahr


Bischof Joachim Wanke

Predigt von Bischof Joachim Wanke beim Caritastag im Elisabeth-Jahr

Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten, die Markus uns überliefert, berührt in doppelter Hinsicht. Zum einen ist bemerkenswert der Eifer, mit dem die vier Männer den Gelähmten auf das Dach des Hauses hievten, um ihn durch die Dachöffnung Jesus vor die Füße zu platzieren. Ich vermute einmal, das waren Caritasmänner!


Ü;brigens heißt es dann: Als Jesus ihren, also den Glauben der vier Männer sah sagte er zu dem Gelähmten.... und dann folgt die Heilung an Seele und Leib. Jesus sagte also nicht, wie sonst in solchen Berichten üblich: Als er seinen (!), also des Gelähmten Glauben sah ... Jesus wird initiativ aufgrund der Männer, die den Hilfesuchenden zu Jesus brachten. Das ist erstaunlich und anrührend. Wie viele Dächer haben Sie schon, liebe Caritäter, abgedeckt, um ihre Klienten in die Nähe des Herrn zu bringen?


Und ein zweites ist an dieser Geschichte bemerkenswert. Hier sind zwei Heilungen ineinander geschoben: die Heilung des inneren Menschen und die Heilung des äußeren Menschen. Und zwar in dieser Reihenfolge. Zuerst: "Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben." Und dann: "Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!" Der ganze Mensch ist im Blick Jesu, nicht nur der halbe.


Ich mache jetzt einen kleinen Ausflug in Erfahrungen unserer jüngeren Geschichte. Ich bin nach der politischen Wende hier im Osten von Gästen aus dem alten Westen oft gefragt worden: Warum ist eigentlich der Staatssozialismus hier bei euch zusammengebrochen? Die waren doch so selbstbewusst und überdies bis an die Zähne bewaffnet?

Man kann dieses und jenes auf diese Frage antworten. Die Wirtschaft war marode, die Russen haben das alte System nicht gestützt. Die Weltumstände waren eben damals günstig usw. Daran mag manches stimmen. Ich habe immer gern die Antwort gegeben: Die DDR ist wegen ihres falschen Menschenbildes zusammengebrochen. Die alte Staatsführung hat gemeint, der Mensch funktioniere schon, wenn man ihn nur lange genug indoktriniert - und zudem einschüchtert. Eine Zeit lang ging das. Aber auf Dauer hat es nicht funktioniert. Der Mensch kann auf Dauer nicht mit der Lüge leben. Der Mensch ist mehr als nur ein zu dressierendes Tier, das sich den Verhältnissen anpasst. Er braucht mehr als Essen und Trinken und staatliche Rundumversorgung. Er muss aus der Wahrheit leben - sonst erstickt er.


Ich habe diesen kurzen Ausflug in unsere jüngste Geschichte gemacht, um uns an die Sicht des Menschen zu erinnern, die unser Evangelium voraussetzt. Der Mensch ist eine Einheit von Leib und Seele. Er kann nicht als halbierter Mensch leben. Wenn er krank wird, ist nicht nur der Leib krank, sondern der ganze Mensch. Das erkennen jetzt auch mehr und mehr die Mediziner.

Und wenn die Seele des Menschen krank wird, wenn er in seinem Inneren aus dem Gleichgewicht gerät, wirkt sich das auch in seinem körperlichen Befinden aus.


Ja, Jesus sagt noch mehr: Und wenn der Mensch Gott verliert, wenn er sich durch die Sünde von ihm trennt, dann ist der ganze Mensch krank, mag er äußerlich noch so fit und lebenstüchtig erscheinen. Er ist dann gelähmt, weil er die Quelle des Lebens verlassen hat, die allein sein ganzes Leben im Dasein erhalten kann. Es ist, als ob Jesus uns zurufen möchte: Die Heilung des Menschen beginnt von innen her. Darum diese doppelte Zuwendung Jesu zu dem Kranken: Er macht ihn vor Gott gesund - und er macht ihn körperlich gesund.


Liebe Schwestern und Brüder in der Caritasarbeit - sei es der verbandlichen, sei es der ehrenamtlichen!

Sie begegnen in ihrer alltäglichen Arbeit immer Menschen, nie bestimmten Fällen. Schon das Wort Klient hat für mich einen störenden Unterton, als sei das Anliegen eines Menschen, seine augenblickliche Notlage auf ein bestimmtes Problem einzuengen, etwa die Verschuldung, oder die Sucht, oder die Beziehungskrise.


Natürlich ist da ein konkretes Problem. Das muss angegangen - und irgendwie hoffentlich auch gelöst, zumindest beherrschbar gemacht werden. Aber wie?


Unser heutiger Tag, an dem wir im Gedenken an die hl. Elisabeth von Gott her auf unsere Arbeit schauen, hat eine einzige Botschaft: Seht den Menschen, der euch begegnet, mit den Augen Gottes. Seht ihn so, wie Gott ihn sieht. Seht ihn in seiner ganzen Wirklichkeit - mit seinen leiblichen, psychischen, aber auch mit seinen religiösen Problemen. Und dazu rechne ich auch den theoretischen und praktischen Atheismus und platten Materialismus.


Stimmt das wirklich: "Helfen Sie mir! Ich brauch nur das Geld. Ansonsten ist alles in Ordnung"? Die große Not des Menschen wohl zu allen Zeiten, aber besonders auch heute ist, dass er sich etwas vormacht. Er meint, er sei autark, er sei unabhängig, er sei stark genug, um mit allem zurechtkommen zu können, auch ohne Gott.


Viele, die heute in der Beratung, in der Begleitung von Menschen arbeiten, bestätigen mir: Hinter den meisten Anliegen, die Menschen an sie herantragen, stecken innere Lebensnöte, innere Verwundungen. Da steckt Trauer über Lebensschuld, die nie richtig angesprochen und vergeben worden ist - und darum drückend auf der Seele lastet.


Wir können keine Sünden vergeben. Aber wir kennen einen, der das kann. Denkt an die vier Männer auf dem Dach des Hauses: Menschen mit Jesus in Verbindung bringen. Sie zu ihm führen. Sie zu seinen Füßen abladen, damit sie von ihm, unserem Herrn und Heiland, die befreienden Worte hören können: "Deine Sünden sind dir vergeben!"


Genau das ist das Anliegen dieses Tages, der ja überschrieben ist: Elisabeth bewegt - zu einer Liebe, die verkündet.


Es muss nicht immer die Verkündigung mit Worten sein. Der Arzt muss die Wunde behandeln und der Berater das Lebensproblem einkreisen. Aber noch einmal: Ist der Mensch nicht etwas Ganzes? Hat er neben dem, was ihn äußerlich bedrängt, nicht auch ein Inneres? Hat er nicht ein Recht darauf, von uns ganz, in seiner ganzen Wirklichkeit wahrgenommen und angesprochen zu werden?


Bei Matthäus ist das Wort Jesu überliefert: "Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, wird dein ganzer Körper hell sein. Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper finster sein" (Mt 6,22f).


Wir müssen den Menschen helfen, wieder sehen zu können. Sich selbst. Die ganze Wirklichkeit ihres Lebens. Und noch mehr: Jenen Quell des Lichtes, der uns wahrhaft hell und frei und froh machen kann.


Liebe - die verkündet. Noch einmal: Es muss nicht eine Verkündigung mit Worten sein. Aber warum nicht auch einmal diese Worte, die auf Gott hinweisen, , besonders im vertraulichen Gespräch unter vier Augen.

Es kann aber auch eine Verkündigung sein, die durch dein Tun und dein Leben spricht. Ich erinnere an das Wort von Mutter Teresa, dass sicher durch ihre Erfahrung in dem ganz anderen religiösen Umfeld Indiens geprägt ist: "Sprich niemals von deinem Glauben, wenn du nicht gefragt wirst. Aber lebe so, dass du gefragt wirst!"


Es ist eindeutig, dass Elisabeths Zuwendung zum leidenden Mitmenschen gespeist wurde durch ihre Nähe zum Herrn, besonders zum leidenden Herrn. Diese Quelle der Christusverbundenheit steht auch uns offen, um unsere Zuwendung zum Mitmenschen stark zu machen, um in dieser Zuwendung nicht zu erlahmen - und um aus dieser Quelle zu schöpfen und sie anderen Menschen als Lebensquelle anzubieten.


Manchmal sagen Leute, besonders hier im Osten, dass sie gar nicht wissen, dass die Caritas etwas mit Kirche zu tun hat. Das mag sein. Doch meine ich: Nach ihrem Besuch bei der Caritas sollten sie es wissen. Besser noch: Sollten sie wissen, dass Caritas etwas mit Gott zu tun hat.


Wie heißt es am Schluss unserer Geschichte vom Gelähmten? Als die Leute sahen, was mit ihm geschehen war, seine Heilung an Seele und Leib, da gerieten sie außer sich. Sie priesen - nicht den Geheilten, nicht die vier Männer, die ihn herangeschleppt hatten, nicht einmal Jesus als den Wundertäter. Sie priesen vielmehr Gott - dass er sich als ein Gott des Lebens erwiesen hat.


Seht - das soll durch euch, liebe Frauen und Männer in Caritas und Gemeindecaritas, geschehen. Gott möchte sich durch euch als Gott des Lebens erweisen, auch heute, auch hier im Land der hl. Elisabeth. Amen.



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