"Wir haben allen Grund, die Familie zu feiern"

Predigt von Bischof Joachim Wanke am Fest der hl. Familie am Silvestertag im Erfurter Dom

Bischof Wanke am Fest der hl. Familie...

Neuerdings gibt es an der Universität Erfurt einen Lehrstuhl für Familienwissenschaft. Das ist ein Signal. In der Tat: Die Familie ist wieder neu in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Oder sollte ich sagen: Die Familie ist ins Gerede gekommen? Hier bewahrheitet sich erneut die alte Einsicht: Was nicht mehr selbstverständlich ist, wird Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Die Familie gehört offensichtlich zu diesen nicht mehr selbstverständlichen Dingen, zumindest nicht die auf Ehe begründete Familie.


Die Kirche macht es anders. Sie errichtet keinen Lehrstuhl für die Familie, sondern sie feiert ein Fest der Familie, das Fest der Heiligen Familie. Ich muss freilich zugeben: Das Fest stammt erst aus dem Jahr 1920. Damals wurde es für die ganze Kirche verbindlich eingeführt, wobei natürlich die Verehrung der heiligen Familie eine längere Tradition hat. Doch auch für dieses Fest gilt: Seine Einführung hat etwas mit den Schwierigkeiten und Nöten der Familien in den modernen Zeiten zu tun. Das heutige Fest möchte unseren Blick auf die Bedeutung der Familie im Allgemeinen und der christlichen Familie im Besonderen lenken.


Wenn ein katholischer Bischof etwas zur Familie sagen möchte, dann sieht er sich in einer gewissen Verlegenheit. Als einem unverheirateten Mann hält man ihm vor, zu wenig von der Situation der Familie heute zu verstehen, zumindest nicht existentiell und ganz praktisch. Zudem sieht man sich bei jedem Versuch einer Betrachtung der Situation der Familien heute sofort umringt von vielen Fachleuten, die alle etwas kompetent über die Familie sagen können: von Psychologen, Juristen, Ökonomen, von Erziehungswissenschaftlern und Politologen. Nicht zuletzt haben auch Literaten und Filmemacher ihre Meinung zu diesem Thema, meist keine gute.


Was also soll ein Prediger am Fest der Hl. Familie tun? Natürlich: Er darf das Bild der Familie nicht romantisieren. Er darf die heute anstehenden Probleme nicht verdrängen. Aber er sollte das Bild der Familie auch nicht in ein zu düsteres Licht tauchen. Anhand so mancher Schreckensmeldungen der letzten Tage wäre das ein Leichtes. Ich meine freilich: Damit wird man dem Anliegen des Festes und seines Gegenstandes nicht gerecht.


Gottlob, ich brauche hier keine familienwissenschaftliche Vorlesung zu halten. Und ein Gottesdienst am Fest der Hl. Familie kann und will nicht ersetzen, was ein kluges Buch über die Familie und ihre heutige Lage ans Licht heben kann.


Was dieses kirchliche Fest uns sagen möchte, ist zunächst einmal dies: Wir haben allen Grund, die Familie zu feiern. Meine Predigt möchte die Familie in das Licht des Glaubens rücken. Sie möchte helfen, 1. die Familie als ein Geschenk Gottes wahrzunehmen und 2. sie als bleibende Chance für eine gelingendes menschliches und christliches Leben zu würdigen.



1. Die Familie als ein Gottesgeschenk


Zumindest eine gelungene Familie scheint es gegeben zu haben, eben die Heilige Familie zu Nazareth. Es gibt über die verborgenen Jahre Jesu in Nazareth keine verlässlichen historischen Quellen. Aber eines scheint sicher: Dieses verborgene Leben war keine Idylle, sondern wohl sehr alltäglich, eben das Leben einer Handwerkerfamilie unter den damaligen, wahrlich nicht einfachen gesellschaftlichen Bedingungen.


Zur Menschwerdung des ewigen Wortes gehört die Realität einer menschlichen Familie. Zur Menschheit Jesu gehört die Erfahrung von Geborgenheit und Annahme. Zu ihr gehört die Erfahrung, lernen zu müssen, was Zusammenleben auf engstem Raum vom Einzelnen verlangt. Zu ihr gehört auch das Aushalten von Not und Mangel bis hin zu der Erfahrung, wie kostbar Solidarität und menschliche Anteilnahme in schweren Stunden sein können.


So meine ich: Wir sollten mit diesem Fest der Heiligen Familie von damals den Dank an Gott verbinden für alle heiligen und weniger heiligen Alltagsfamilien heute. Behalten wir uns angesichts des Geredes über kaputte Ehen und Familien den Blick für die Wirklichkeit der vielen gelingenden Ehen und Familien, von denen unsere Gesellschaft lebt. Und auch dort, wo menschliche Schuld, manchmal auch ein unverschuldetes Geschick Ehen zerstört und Familien ins Schleudern bringt: Wir haben kein Recht, ausschließlich auf das Kaputte und das Misslingen von Beziehungen zu schauen.


Wir dürfen feiern, was Gott auch heute schenkt: dass ein Mann und eine Frau in Treue zueinander stehen, dass sie Kindern das Leben schenken und ihnen helfen, ins Leben hineinzuwachsen, dass jüngere für ältere Familienmitglieder sorgen, manchmal bis hin zu einem heroischen Durchhalten von Dienstleistungen über Jahre hinweg, etwa bei Pflege und Krankheit. Wir dürfen feiern, dass Gott in sakramentalen Ehen Menschen die Gnade schenkt, durch diese Verbindung die Treue Christi zu seiner Kirche für uns alle aufleuchten zu lassen.


Es ist ein Segen, dass es Familie gibt. Und dass es dort auch chaotisch zugehen kann, dass es dort auch Neurotisches und Krankhaftes, ja sogar Verbrechen geben kann - das alles darf uns nicht abhalten, die Familie zunächst einmal als ein Geschenk Gottes für uns Menschen anzusehen, geheiligt durch das Leben des Gottessohnes in einer menschlichen Familie zu Nazareth, geheiligt durch den Glauben und die Geduld und die Alltagsliebe so vieler christlicher und auch nichtchristlicher Menschen. Auch heute noch finden unzählige Menschen in Ehe und Familie ihr eigenes Glück und auch heute noch werden unzählige Menschen in ihren Familien zum Segen für ihre Angehörigen. Heute - am letzten Tag des Jahres ist eine gute Gelegenheit, dafür einmal bewusst Gott zu danken.


Kluge Geschenke sind Geschenke, die zur Aktivität, zur Betätigung herausfordern. Das gilt auch für Gottes Geschenke, auch für das Geschenk der Familie. Darum dieser zweite Gedanke:



2. Die Familie ist auch heute ein Einübungsort für gelingendes menschliches und christliches Leben.


Ich nenne nur drei Aspekte, die mir als Seelsorger wichtig sind.

Die Familie hilft, junge Menschen in das Gottesgeheimnis einzuführen und in ihm verwurzelt zu bleiben. Die Aussage unseres Glaubens, von Gott geliebt zu sein, begreift man nur, wenn man erfahren hat, wie das ist: von einem Menschen angenommen und gewollt zu werden. Die Geborgenheit in den Armen von Mutter und Vater, die tätige Sorge von Eltern, die Gemeinschaft von Geschwistern, von Angehörigen, von Freunden: Das alles ist Einführung in das Mysterium der Gegenwart Gottes auch in der heutigen, so rational und technisch bestimmten Zeit. Vergessen wir es nicht: Was wir einander an Liebe und Solidarität schenken, ist umfangen, ja ermöglicht von Gottes Liebe und Erbarmen. Vater- und Mutterliebe sind in der Hl. Schrift Hinweise auf eine größere Liebe, die uns auch dann trägt, wenn irdische Geborgenheiten versagen.


Und weiter: Das Zusammenleben in der Familie ist Schule der Selbstlosigkeit. Es gibt keinen Ort, an dem dies besser eingeübt werden kann als in der Familie: die Erfahrung, im Loslassen nicht ärmer, sondern reicher zu werden. Vor allem: Hier wird es in einem geschützten Raum eingeübt. Hier gibt es Menschen, die gerade dem Kind und Heranwachsenden mit einem Vertrauensvorschuss entgegenkommen, den später kein Psychologe oder Therapeut einem Erwachsenen vermitteln kann. In der Familie wird mehr gelernt als gute Manieren und artiges Danke-Sagen. Hier werden die Fundamente gelegt für die Fähigkeit, mit anderen zusammen - im Kleinen wie im gesellschaftlich Großen - ein menschliches Lebenshaus, eine menschliche Gesellschaft zu bauen. Familie ist und bleibt eine Schule der Mitmenschlichkeit, der Solidarität, der Fähigkeit zum Mitleid, zum Vergeben und Erbarmen. Diese Schule ist durch nichts zu ersetzen.


Und schließlich: Im Schoß der Familie lernt sich am besten, was wir Christliche Lebenspraxis nennen. Die Feste im Jahreskreis als Eingangstüren zum Gottesglauben, das gemeinsame Beten und Singen zu Hause und in der Kirche, das Lebensgespräch am Küchentisch, bei dem alles zur Sprache kommen kann, was es an Problemen und Glaubensschwierigkeiten gibt, und nicht zuletzt das praktische Vorbild christlich-katholischer Eltern und Großeltern, die nicht viele Worte machen, sondern unbeirrt und in Treue ihren Weg im Glauben mit der Kirche gehen - das alles sind kostbare Hilfen für die Nachwachsenden, selbst zu aufrechten Christen heranzureifen. Ich möchte allen von Herzen danken, die in ihren Familien dieses stille, unspektakuläre Glaubenszeugnis geben. Seid überzeugt: Das ist nicht vergebens, auch wenn sich heute manchmal die Wege der Kinder und Kindeskinder sehr verschlungen gestalten. War es früher wirklich so ganz anders?


Ich meine: Das war heute durchaus auch eine Silvesterpredigt. Beim Jahreswechsel schauen wir auf das Vergangene mit Dank - und fassen Mut, das Neue, Unbekannte, auch das uns Ängstigende im vor uns liegenden Jahr mutig anzunehmen. Was uns bei der Annahme des noch unbekannten Kommenden Zuversicht geben kann, ist das Wissen um unsere Familien. Sie bleiben auch morgen ein kostbares Gottesgeschenk, selbst wenn manches im Alltag der Familien anders gehen muss als früher. Und unsere Familien werden auch morgen Lebens- und Glaubensschulen bleiben, die nachhaltiger wirken als Bischofspredigten. Und das wiederum tröstet auch mich - und ich hoffe, Sie alle gönnen mir dies. Amen.



Erfurter Dom "St. Marien", 31. Dezember 2006



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