Vierter Advent. Wie an jedem Adventssonntag hatte sich Familie Normalo um den Adventskranz versammelt. Das jüngste der drei Kinder durfte die letzte Kerze anzünden, deren Docht noch ganz weiß und unberührt war. Daneben stand die Krippe, die alljährlich zum ersten Advent hervorgeholt wurde. Genau wie der kleine Schuhkarton mit den Strohhalmen, deren einzige Bestimmung darin lag, am Heiligabend das Jesuskind in der Futterkrippe wenigstens einigermaßen weich zu betten. Das war so ein alter Brauch, den bereits ihre Eltern und auch deren Eltern, als sie selbst noch Kinder waren, Jahr für Jahr vollzogen hatten.
An jedem Abend im Advent durfte, wer sich entsprechend gut verhalten hatte, ein oder mehrere lange Strohhalme in die Krippe legen. Kurze oder gar abgebrochene Strohhalme durften auf gar keinen Fall hinein, denn diese, darin waren sich alle einig, könnten das Jesuskind, das ohnehin schon arm genug dran war, pieken. Oh, sie hatten sich alle etwas vorgenommen für diese Adventszeit, die nunmehr auf ihren Höhepunkt zuging, auf Weihnachten. Wie schnell war diese Zeit vergangen, und es blieben nur noch drei Tage Zeit, den Liegekomfort des kommenden Jesuskindes zu erhöhen.
Das Mädchen, mit ihren neun Jahren das Älteste der Kinder, hatte damit nicht allzu viel Mühe. Ü;berhaupt hatten es Mädchen viel einfacher, befand der Mittlere. Zwar zickten diese manchmal ganz schön rum, aber sie kamen selten mit völlig zerrissenem Anorak oder Eintrag im Klassenbuch heim. Und der Jüngste, dem wurde noch manches nachgesehen, weil er ja mit seinen drei Jahren wirklich noch nicht alles wissen konnte. Und so sah denn auch die Bilanz der Strohhalme aus. Was dort in der Krippe lag, hatte das Jesuskind mehrheitlich den Geschwistern des Mittleren zu verdanken. Gut, von ihm waren auch zwei oder drei dabei, aber was war das gegen die der anderen? Immerhin hatten die Eltern manches Mal auch Nachsicht walten lassen. Eigentlich hatte er sich wirklich große Mühe gegeben, aber was konnte er dafür, wenn die - eigentlich gut versteckten - Plätzchen so verführerisch dufteten? Oder dass der alte Nachbar ausgerechnet dann zu ihm herüberschaute, als er eine Grimasse zog? Er hatte zu seinen "Schand"taten gestanden und die Eltern befanden, dass dies wenigstens einen halben Strohhalm ausmachte.
Und jetzt saß er da, am Adventskranz, und sah, dass es für ihn nahezu aussichtslos war, noch eine erhebliche Menge langer Strohhalme bis zum Heiligen Abend beizusteuern. Und die vielen halben Strohhalme zählten ja nicht wirklich, denn, wie gesagt, die könnten das Jesuskind ja pieken und hatten somit Krippenverbot. Eigentlich könnte er sie, so nutzlos wie sie waren, wegwerfen.
Alle, die Eltern und die Geschwister hätten ihn gern getröstet. Aber was geschehen war, war geschehen, und verpasste Zeit lässt sich nicht mehr zurückholen. Es im nächsten Jahr besser zu machen, war auch kein wirklicher Trost. Bis plötzlich der Jüngste in die betretene Stille sagte: "Aber aus den abgebrochenen Strohhalmen können wir Sterne machen".
Und mit einem Mal wussten alle: diese Sterne würden den Stall und den Baum schmücken, und sie würden wirklich etwas ganz Besonderes sein.
Die eigenen Unzulänglichkeiten, verpassten Gelegenheiten, gemachten Fehler in Demut annehmen - und wir dürfen gewiss sein: Bei Gott hat scheinbar Wertloses Bestand. Er vollendet unsere "Bruchstücke"; er macht alles neu.
Andrea Wilke
20.12.2014