Wer ist mein Nächster?

Elisabeth-Predigt von Bischof Gerhard Feige, Magdeburg, beim Burgengottesdienst auf der Neuenburg


Bischof Gerhard Feige aus Magdeburg
Elisabeth-Predigt von Bischof Gerhard Feige beim Burgengottesdienst auf der Neuenburg

1. Unvorhergesehene Fälle


Es gab eine Zeit, da war bei den Juden das öffentliche und private Leben durch Gesetze und Vorschriften geregelt und derjenige galt als fromm, der alle Vorschriften kannte und sich peinlichst daran hielt. Schwierig wurde es dann, wenn sich die Situation veränderte und auf einmal unvorhergesehene Fälle eintraten.


Wer ist mein Nächster?


Das ist für den jüdischen Gesetzeslehrer - den uns das heutige Evangelium vor Augen führt - durchaus keine primitive Frage gewesen. Bisher hatte für einen frommen Juden als Nächster gegolten, wer zu seinem Volke gehörte. Inzwischen waren aber viele Fremde - also Nichtjuden - eingewandert; und man fragte sich verunsichert:


Sind das auch Nächste, die es zu lieben gilt?


Und später gab es Zeiten und Gegenden, da war unter uns Katholiken das öffentliche und private Leben durch Gesetze und Vorschriften geregelt, und diese wurden weithin auch eingehalten. Verließen Katholiken jedoch ihr heimatliches Gebiet oder wurde die Gesellschaft pluralistischer, gerieten viele äußerlich und innerlich in die Zerstreuung und mussten ihr Verhältnis zu den anderen Mitmenschen neu bestimmen.


Wer ist mein Nächster?


Diese Frage ist auch für uns keine primitive Frage.

  • Ist mein Nächster der, der genauso wie ich als überzeugter Christ lebt?
  • Ist mein Nächster der, der mir sympathisch ist?
  • Ist mein Nächster der, der sich meiner Hilfe als würdig erweist?
  • Oder ist mein Nächster auch jeder andere, selbst jemand, der mich in Frage stellt?

Wer ist mein Nächster?


Jeder, der sich wirklich einmal die Mühe macht, intensiv darüber nachzudenken, wird sicher immer betroffener werden. Die Zahl derer nämlich, die theoretisch in Frage kämen, steigt heute ins Unermessliche. Da fällt der Blick nicht nur auf solche Menschen, mit denen man regelmäßig zu tun hat oder die einem hin und wieder begegnen; die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel haben es mit sich gebracht, dass sogar "Fernste" oftmals zu "Nächsten" werden können. Und mit wie viel menschlicher Not in aller Welt werden wir fast täglich konfrontiert!


Ist es da nicht eine unerhörte Zumutung, was Jesus in seiner Erzählung vom barmherzigen Samariter zum Ausdruck bringt: Dein Nächster ist schlicht und einfach, wer deine Hilfe braucht, wer "unter die Räuber gefallen" ist. Ihm bist du der Nächste. In ihm begegnet dir sogar Gott selbst. Ü;berfordert das uns nicht maßlos? Ich selbst erlebe immer wieder angesichts von Bettlern das Dilemma, betroffen zu sein und doch zu meinen, nicht angemessen helfen zu können. Ein paar Cent oder Euro sind doch keine wirkliche Lösung. Wo bleibt denn da die Würde des Bedürftigen? Und zu mehr - wer ist da schon bereit?



2. Reaktionen


Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit einem solchen Problem fertig zu werden. Man kann weiter im Brustton der Ü;berzeugung das Ideal christlicher Nächstenliebe hochhalten, gleichzeitig aber sich im konkreten Fall mit angeblich vernünftigen Gründen herausreden. Und die lassen sich meistens finden: Warum gerade ich? Mir geht es auch nicht besonders gut! Sollen sich doch offizielle Stellen darum kümmern! Und schließlich: Wer weiß, ob die Not auch echt ist? Vielleicht verbirgt sich dahinter nur ein "Geschäft mit dem Mitleid"?


Wie oft versucht doch unsere Vernunft, spontane Nächstenliebe zu verhindern und andere als unserer Hilfe nicht nötig zu entlarven!


Jaques Debout - ein französischer Schriftsteller - hat dieses Bestreben einmal kurios auf die Spitze getrieben. In seiner "Vernünftigen Kritik des barmherzigen Samaritans" bekennt er, nie daran gedacht zu haben, diesen nachzuahmen. Jesus habe bei dieser Erzählung wohl aus pädagogischen Gründen etwas stark aufgetragen und orientalisch übertrieben. Der Samariter hätte sich erst einmal erkundigen sollen, was der Sterbende für ein Individuum sei, vielleicht "selber ein Räuber ?, den anständigere Räuber aus einem Rest von Gewissenhaftigkeit" zusammengeschlagen hatten, ein "streitsüchtiger Kerl", ein "Landstreicher" oder "Schlafwandler", womöglich ein "aufrührerisches Element". Wer instinktiv jedem ersten Besten helfe, "verpfusche und entehre den wahren Begriff der Nächstenliebe". Und dann sei der Samariter "nicht einmal so klug, es bei einem kleinen Almosen oder bei einem guten Wort bewenden zu lassen", sondern pflege "irgendeinen Unbekannten wie seinen Bruder". Außerdem habe er sicher seine "Familienpflichten vernachlässigen" müssen, "um sich solche Extravaganzen erlauben zu können". Da er bestimmt zu spät ins Büro gekommen sei, habe er seinen Vorgesetzten hintergangen, so gut wie er den Gastwirt hereingelegt und seine Kinder um das volle Erbe gebracht habe. Und Debout schließt seine Kritik am barmherzigen Samariter mit dem provokanten Satz: "Ich weiß, dass er einen Sterbenden gerettet hat, aber ich frage mich, ob dies zu seiner Entschuldigung genügt."


So verrückt kann man eigentlich gar nicht denken, wie hier argumentiert wird. Aber verbergen sich hinter dieser Kritik nicht doch manche unserer heimlichen Einwände gegenüber dem, was Jesus im Anschluss an die Erzählung vom barmherzigen Samariter sagt: "Geh und handle genauso."?


Manche versuchen sich auch nicht unbedingt mit Vernunftargumenten davon freizusprechen, sondern kapitulieren ganz einfach. Sie würden schon gerne helfen, kommen aber über den guten Vorsatz nicht hinaus und finden sich eines Tages mit ihrer Unvollkommenheit ab. Andere halten vielleicht individuellen Einsatz nur für einen "Tropfen auf den heißen Stein"; ihrer Meinung nach müssten globale Lösungen angestrebt werden. Und wieder andere lassen keine salbungsvollen Worte ertönen, sondern sind da zur Stelle, wo sie gebraucht werden, und tun das, was in ihren Kräften steht.



3. Christus folgen


Wenn wir der heiligen Elisabeth gedenken, dann ist es das, was uns so beeindruckt und 800 Jahre nach ihrer Geburt immer noch nachgeht: Sie hat sich nicht theoretisch mit der Frage nach dem Nächsten auseinandergesetzt, sondern spontan und konkret gehandelt. Sie konnte das menschliche Leid und die gesellschaftliche Ungerechtigkeit ihrer Zeit nicht einfach übersehen oder hinnehmen. Sie konnte auch nicht alle Probleme lösen. Sie hat aber die Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung standen, leidenschaftlich eingesetzt und weder ein kaltes Herz noch den Krampf in den Fingern gehabt. Gegen alle Widerstände hat sie die Schranken von Herkunft und gesellschaftlich anerkannten Maßstäben durchbrochen und ihr kurzes Leben ganz in den Dienst der Kranken und Armen gestellt.


Das war für sie weit mehr als ein Gebot. Sie wusste sich von Gott geliebt und fühlte sich gedrängt, diese Liebe an ihre armseligen Mitmenschen weiterzugeben. In ihnen hat sie Jesus Christus selbst erkannt. Gerade in seiner menschlichen Schwäche wurde er für sie anschaulich. Er ist es, den sie aufsucht, tröstet und speist; seine Wunden sind es, die sie verbindet.


Und so wird Elisabeth zu einer Zeugin Jesu Christi selbst. In einer Zeit der Gnadenlosigkeit gibt sie der Gnade ein Gesicht. Im Unheil zeigt sie auf, wie Heilung aussehen kann. Elisabeth bezeugt, dass die Gnade keine Grenzen kennt. Von der Liebe zu Gott und den Menschen bewegt richtet sie sich nicht nach der Vernunft, sie fragt nicht, ob es etwas bringt, einem anderen Menschen zu helfen; sie tut es ganz einfach.


Wer ist mein Nächster?


Auch wir begegnen vielen, die im Sinne Jesu unter die Räuber gefallen sind. Da sind die unzähligen Opfer der gesellschaftlichen Umbrüche, in denen wir leben: Arbeitslose, allein gelassene alte Menschen oder Kinder aus instabilen Verhältnissen. Da sind die unzähligen Opfer ihres persönlichen Schicksals: unglücklich Verheiratete oder Geschiedene, Suchtkranke, Pflegebedürftige oder Demenzkranke. Da sind die unzähligen Opfer politischer oder wirtschaftlicher Verhältnisse: Obdachlose, Migranten oder Asylanten.


Wir können sie links liegen lassen. Wir können uns rechtfertigen und finden sicher viele vernünftige Gründe dafür. Wir können in ihnen aber auch schlicht und einfach unsere "Nächsten" sehen, die uns etwas bedeuten - egal, ob sie unvorsichtig waren, egal, ob sie selbst Schuld auf sich geladen haben, egal, ob sie anders denken und leben als wir. Wir können die heilige Elisabeth nicht ehren und feiern, ohne selbst anderen, die "unter die Räuber gefallen sind", zum Nächsten zu werden.


Von Albert Schweitzer stammt der Ausspruch: "So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie im Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen." Das wäre ein Ansatzpunkt, um neuen Mut zu schöpfen. Niemand von uns kann und soll sich um alle kümmern, die Not leiden. Es gibt aber immer wieder Gelegenheiten, wo wir ganz gefordert sind; und da kommt es darauf an, ob wir achtlos vorübergehen oder wie der Samariter und Elisabeth barmherzig reagieren.


Das letzte Wort Jesu im Evangelium war: "Dann geh und handle genauso!" Es galt nicht nur dem jüdischen Gesetzeslehrer, es gilt auch uns! Und wenn wir davon wirklich gepackt würden und es ernst nähmen, könnte unsere Welt tatsächlich heller, wärmer und liebevoller werden.



Burgengottesdienste eröffnen die Elisabethwallfahrt