Bischof Joachim Wanke:
An erster Stelle steht der Mensch
Ansprache von Bischof Joachim Wanke beim Jahrespresseempfang des Bistums Erfurt
Das Wunderbare an Europa entdecken - und wählen gehen
In drei Tagen wird das Europa-Parlament gewählt. Die Ankündigung dieses seit 1979, dem Jahr der ersten Direktwahl, regelmäßig stattfindenden Ereignisses löst heutzutage beim deutschen Wähler weniger Aufregung aus als jede Schwankung des Benzinpreises. Hatten vor 30 Jahren immerhin zwei Drittel der Bundesbürger ihre Stimme abgegeben, gingen gerade einmal 43 Prozent zur letzten Wahl. Dieses Mal könnten es, den Prognosen zufolge, sogar noch weniger sein. Auch in anderen EU-Ländern sieht es nicht viel besser aus. "[?] keine politische Respektbezeugung im Zyklus der Wahlen und Abstimmungen eines europäischen Staatsbürgers wird mit größerem Widerwillen vollbracht als eben die Europawahl", schreibt Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung (20./21.5.2009).
Die Gründe für diese Wahlabstinenz zu ermitteln, dürfte ebenso lang dauern, wie die Institutionen der Europäischen Union und das Wirken ihrer Akteure zu erklären - und vielleicht liegt hier ja auch der Hase im Pfeffer, wenigstens zu einem Teil. Eines aber muss deutlich herausgestellt sein: Der Rückzug der Bürgerinnen und Bürger aus den demokratischen Prozessen der Europäischen Union ist bedauerlich und wird der Geschichte und Bedeutung der EU nicht gerecht. Mag sich im europäischen Einigungsprozess manches auch wunderlich ausnehmen und anderes defizitär oder ärgerlich sein, unter dem Strich bleibt ungleich mehr Wunderbares zu vermerken.
Der durch seine Tagebücher aus dem Dritten Reich bekannt gewordene Viktor Klemperer schreibt unter dem Datum des 1.1.1942: "Man sagt, Kinder haben noch Sinn für Wunder, später stumpfe man ab. - Unsinn. Das Kind nimmt die Dinge als Selbstverständlichkeiten, die meisten bleiben dabei stehen; nur ein alter Mensch, der denkt, wird sich des Wunderbaren bewusst." (Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Bd. 2: Tagebücher 1942-1945. Darmstadt 8. Aufl. 1996, 5
In diesem Sinne müssen wir, meine ich, hinsichtlich Europas und seiner Zukunft - unser aller Zukunft! - denken lernen, nachdenklich werden, um das Wunderbare Europas (wieder) zu entdecken und im Bewusstsein zu halten. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass ein Kontinent in Frieden leben kann, dass nationale "Todfeinde" wie Frankreich und Deutschland Freunde und Bündnispartner geworden sind und die Teilung Europas in Ost und West überwunden wurde. Dafür allein dürfen wir schon dankbar sein. Wir haben aber auch Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.
So halten die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in ihrem gemeinsamen Aufruf zur Europawahl fest: "Die Europäische Union ist heute als Gemeinschaft von 27 Staaten mit fast einer halben Milliarde Menschen Garant für Frieden, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Gerade in Zeiten einer globalen Finanzmarktkrise und wirtschaftlicher Unsicherheit beweist die EU ihre Bedeutung als Stabilitätsfaktor."
Ich möchte darum alle Menschen in Thüringen, ob sie nun als Einwohner oder Gäste hier leben, aufrufen, von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen und an der Wahl zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Wenn Deutschland eine Zukunft hat, dann nur im Verein mit den Nationen der EU. Und in diesem Konzert der Nationen wird kein Land, auch Deutschland nicht, seine Identität verlieren. Die EU versteht sich nicht als die Vereinigten Staaten von Europa mit einer Zentralregierung. Es handelt sich vielmehr um ein Nationenbündnis, in dem jedes Land in seinem und aller Interesse seinen Beitrag leistet, damit es allen gut geht und so Frieden und Wohlstand in Europa gewahrt bleiben. Darum also: Wählen gehen - und schauen, wen man wählt!
Wahlinitiative "Wählen? Na klar!"
Ich darf in diesem Zusammenhang meine Dankbarkeit für die katholische Wahlinitiative "Wählen? Na klar!" zum Ausdruck bringen. Die Sozialverbände und der Katholikenrat im Bistum Erfurt, das Dekanat Gera (Bistum Dresden-Meißen) und das Katholische Büro Erfurt haben auf www.waehlen-na-klar.de nicht nur einen Wahlaufruf zu den Wahlen 2009 gestartet, sondern präsentieren zu ausgewählten Themen die Wahlprogramme aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und analysieren sie. Da steckt viel Arbeit drin, und es wird manchem vielleicht auch Mühe machen, die vielen, orientierenden Materialien zu lesen. Schließlich gibt es dieses Jahr in Thüringen vier Wahlen: Kommunal- und Europawahlen finden am Sonntag statt, im Spätsommer dann die Landtags- und Bundestagswahlen. Demokratie kann anstrengend sein, ja! Nur in Diktaturen wird einem diese "Anstrengung" abgenommen. Deshalb: Wählen? Na klar!
Die friedliche Revolution 1989 - ein europäisches Wunder
Die Wahl zum Europa-Parlament findet 20 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR statt. Ein epochales Ereignis, das unzweifelhaft zu den Wundern Europas gehört. Doch ist dieses Wunder, bei allen Ü;berraschungsmomenten, nicht einfach über uns gekommen. Es waren Menschen, aufmerksame Zeitgenossen, die die Entwicklungen in Europa und der DDR beobachteten und die Gunst der Stunde, den Kairos, erkannten und handelten - ohne die Sicherheit zu haben, ihr Ziel zu erreichen und selbst nicht zu Schaden zu kommen.
Doch gottlob, die Revolution blieb friedlich, und sie hatte Erfolg. Heute können auch die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR in einem freiheitlichen Rechtsstaat leben, frei ihre Meinung äußern, reisen, wann und wohin sie wollen, politisch mitbestimmen und an demokratischen Wahlen teilnehmen. Das ist mehr als ein Grund zur Freude und Dankbarkeit.
Kann uns nicht die Dynamik der Jahre 1989 und 1990 immer noch Schwung geben, die Herausforderungen anzugehen, die sich uns heute stellen? Sie sind nicht gering, das weiß jeder, der sich in den Medien über Armut in Deutschland, Arbeitslosigkeit und Stellenabbau in der Wirtschaftskrise informiert hat, um nur diese zu nennen. Aber wir haben doch schon so viel geschafft!
Wer hätte im Frühjahr 1989 geglaubt, dass die Mauer kurz nach dem 40. Jahrestag der DDR fällt? Aber sie ist gefallen! Da soll es uns heute nicht gelingen, andere Mauern zu Fall zu bringen, die zwischen uns stehen oder entstehen und Menschen trennen in Arme und Reiche, Arbeitslose und Arbeitnehmer, Gebildete und Ungebildete, Gesunde und Kranke? Mehr Mut, möchte ich ausrufen. Wir haben mehr Grund zur Zuversicht, als es vielleicht den Anschein hat. Unsere jüngste Geschichte ist da das beste Beispiel. Auch hier sollten wir das Nach-Denken auf uns nehmen, um mit dem Blick zurück zuversichtlich nach vorn gehen zu können.
Fragen angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise
Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen, es sind eher Fragen, zur Finanz- und Wirtschaftskrise. Theologen und Seelsorger zählen nicht zu den Erstberufenen, wenn es um Antworten auf Fragen der Ökonomie geht. Aber in Krisenzeiten werden selbst wir gerne gehört. Womit schon ein erstes Symptom beschrieben ist.
Ich stelle nämlich auch bei der derzeitigen Krise fest, dass so mancher in der Zeit der Not nach Wertebewusstsein und Solidarität ("Staatshilfen") schreit, der vorher nichts und später - eine traurige, aber realistische Prognose - nichts mehr davon wissen will. Wenn das "Interesse" an Werten ein ähnliches auf und ab erlebt wie die Aktienkurse, nur antizyklisch, darf sich niemand über Werteverluste wundern (und die kann man noch nicht einmal steuerlich abschreiben).
Sollen also Umsatz, Gewinn und Shareholdervalue die einzigen "Werte" sein, die im Wirtschaftsleben zählen? Die katholische Soziallehre hat dagegen immer herausgestellt: Der Mensch hat Vorrrang vor dem Kapital. Das scheint mir in den letzten Jahren zu oft vergessen worden zu sein.
Wenn Stellenabbau und Firmenverlegungen zu höheren Aktienkursen führen, mag das ökonomisch erklärbar sein - human ist es nicht. Ob nicht vielleicht der eine oder andere Aktionär sogar besser schlafen könnte, wenn die Rendite nicht so üppig daherkommt, aber Arbeitsplätze erhalten werden? Wer sagt eigentlich, dass alle immer nur das Maximale wollen - ohne Rücksicht auf Verluste?
Hier stellt sich auch die Frage nach der Ausbildung ökonomischer Entscheidungsträger. Welche Werte und Ziele bestimmen die Inhalte im Studium? Kommt dort auch Wirtschaftsethik vor, als Pflichtfach? Oder ist es später karrierehemmend, wenn jemand (soziales) Wertebewusstsein erkennen lässt und danach handeln will, selbst wenn es die Renditen schmälert?
Natürlich lässt sich kein Geschäft ohne den Käufer machen. Hier ist jeder von uns gefragt, ob es ihm um Haben oder Sein geht. Nicht immer beispielsweise lässt Not zu Billigartikeln greifen, deren geringer Kaufpreis sich Kinderarbeit und Billiglöhnen in der Dritten Welt oder ökologischer Rücksichtslosigkeit verdankt. Da hat jeder von uns die Möglichkeit, durch die Nachfrage das Handeln und den Handel des Anbieters zu beeinflussen.
Ich gebe zu, dass die Möglichkeiten, auf das Wirtschaftssystem einzuwirken und gegen den kapital-orientierten Strom zu schwimmen, nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen. Aber auch die Wirtschaft ist von Menschen gemacht und daher veränderbar - ob durch Konsumenten, Regierungen, Händler, Banker, Manager oder internationale Institutionen wie den IWF. Eine entscheidende Rolle spielt dabei neben dem wertorientierten Handeln der staatliche, besser noch internationale Ordnungsrahmen für die Wirtschaft. Denn auch wirtschaftliche Freiheit bleibt nicht ohne Grenzen denkbar, will sie nicht unmenschlich werden - um dieses wichtige Thema nur anzudeuten.
Zum Abschied von Landesbischof Christoph Kähler
Am 1. Juni 2009 wurde Landesbischof Dr. Christoph Kähler in einem Gottesdienst in der Georgenkirche in Eisenach aus seinem Dienst verabschiedet. Ich möchte ihm an dieser Stelle noch einmal ein öffentliches Dankeswort sagen für die Gemeinsamkeit der letzten Jahre, die zugleich auch die letzten Jahre der Evangelischen Landeskirche in Thüringen waren. Wie ich schon in meinem Grußwort bei der Verabschiedung zum Ausdruck bringen konnte, bin ich dankbar für das Vertrauen, das er unserer Kirche entgegenbrachte. Wir haben uns in unseren jeweiligen theologischen Ü;berzeugungen und unserer gewachsenen unterschiedlichen kirchlichen Praxis immer respektiert, doch spürte ich darüber hinaus die Bereitschaft, um des gemeinsamen Zeugnisses für das Evangelium willen, die Nähe zu anderen Kirchen und Christen zu suchen. Unsere beiderseitige Ausbildung und Verwurzelung in der biblischen Theologie haben diese Nähe zudem leicht gemacht.
Ich wünsche Herrn Dr. Kähler weiter gute Jahre fruchtbarer Arbeit, aber auch Erholung und viel Freizeit für die Familie. Frau Ilse Junkermann, die ich als designierte Bischöfin der neuen Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland schon kennen lernen durfte, wünsche ich für ihren kommenden Dienst Gottes Segen und gute Zuversicht. Meine Bereitschaft zu einer konstruktiven Ökumene zwischen unseren Kirchen in Thüringen ist weiterhin gegeben.
Erfurt, 4. Juni 2009
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