"Was hält unsere heutige Gesellschaft zusammen?"
Ansprache von Bischof Dr. Joachim Wanke zum
Elisabethempfang 2000
für die Abgeordneten des Thüringer Landtages,die Repräsentanten der Thüringer Landesregierung,die Europa- und Bundestagsabgeordneten aus Thüringenund den Magistrat und die Vertreterdes Parlamentes der Stadt Erfurt
am Donnerstag, den 23. November 2000, 19.15 Uhr,
in der Bildungsstätte St. Martin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
verehrter Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren
aus dem politischen und öffentlichen Leben unseres Landes,
Ich begrüße Sie meinerseits hier in unserer Bildungsstätte zum jährlichen Elisabethempfang und freue mich, dass wir uns heute hier begegnen können.
In meiner Einladung zu diesem Abend habe ich darauf verwiesen, dass unsere Begegnung im Heiligen Jahr 2000 und 10 Jahre nach der Deutschen Einheit stattfindet.
Auf diesem Hintergrund möchte ich in meiner kurzen Ansprache einmal der Frage nachgehen:
Was hält unsere heutige Gesellschaft zusammen?
Den Versuch einer Antwort werde ich mit einigen aktuellen Themen verbinden, die mir am Herzen liegen.
Günter de Bruyn (Einige von Ihnen konnten ihn am Tag der Deutschen Einheit in Erfurt erleben.) schreibt in seinem jüngst erschienenen Buch "Deutsche Zustände":
"Also hat die Nation schlechte Laune. Sie ist wieder vereint, aber nicht glücklich".
und er diagnostiziert weiter:
"Den Demokratien drohen die gemeinsamen Ideale und Leitlinien abhanden zu kommen, die auch für pluralistische Staaten notwendig sind. Bemühung darum ist wenig zu spüren. Die Parteiprogramme werden in Grundsatzfragen blasser und leerer. Laut artikulieren sich Gruppeninteressen, während die Gesamtheit kaum eine Lobby findet. Die politischen Freiheiten laufen Gefahr, sich durch Missachtung ihrer ethischen Grenzen selbst zu zersetzen. Die Ü;bereinstimmung in Bezug auf gültige Werte wird immer geringer. Man missachtet den Grundsatz, dass die Freiheit des Einzelnen an der Grenze der Freiheit des Nächsten endet, dass die ökonomische Antriebskraft Egoismus notwendigerweise im Gemeinsinn Ergänzung braucht."
Soweit Günter de Bruyn. Freilich, wir wissen: Schriftsteller sind sensibel, gleichsam wie Seismographen - sie zeichnen Bewegungen und Veränderungen auf, die uns im Alltag im Normalfall verborgen bleiben. Erst stärkere Erschütterungen - um im Bild zu bleiben - werden auch von uns wahrgenommen.
Zweifellos, 10 Jahre Deutsche Einheit haben vielen Menschen in Ost und West neue Chancen und Perspektiven eröffnet. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, insbesondere in Thüringen, haben sich die Lebensverhältnisse grundlegend verbessert, kaum jemand möchte in die Zeit vor der Wende zurück.
Sie als Regierung, Parlamentarier, Wirtschafts- oder Gewerkschaftsvertreter und nicht zuletzt die einzelnen Bürgerinnen und Bürger haben die Aufgabe, die Einheit Deutschlands hier in Thüringen mit Leben zu erfüllen, verantwortungsvoll und engagiert mit gestaltet.
Aber, es herrscht auch Unbehagen über den Zustand und die Zukunft unserer Gesellschaft. Ich nenne nur einige Stichworte:
* Die ständige Beschleunigung des Wandels der Lebensverhältnisse
* Probleme der unvollendeten Vereinigung, etwa die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands
* Erkennbare Defizite der sozialen Sicherung
Schließlich bestehen berechtigte Sorgen um das Wertebewusstsein unseres Gemeinwesens:
* Hat die Sorge um die Zukunft unserer Familien die erforderliche Priorität?
* Verliert unsere Rechtsordnung an moralischer Verbindlichkeit?
* Driften Teile unserer Jugend in eine Orientierungslosigkeit?
* Können wir Gewalt und Extremismus in unserer Gesellschaft wirksam und nachhaltig begegnen?
* Schwindet der Gemeinsinn unter dem Druck an der Individualisierung?
* Steht unserer Gesellschaft eine stärkere Entsolidarisierung ins Haus?
Ohne alle Fragen gleich beantworten zu können, steht eines fest:
Auch unsere moderne Gesellschaft wird und kann nur durch gemeinsame Werte und Normen zusammengehalten werden.
Zwar ist im Zuge der Säkularisierung die religiöse Legitimation gemeinsamer Werte und Normen im allgemeinen Bewusstsein zurückgetreten, aber nach wie vor bezieht sich unser Gemeinwesen auf Werte wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit und daraus abgeleitete Pflichten, die der gesellschaftlichen Verfügbarkeit entzogen sind.
Dabei ist es für den Zusammenhalt und den Bestand eines Gemeinwesens entscheidend, dass bestehende Regelungen auch anerkannt werden.
Papst Johannes Paul II. hat dies in einem Brief an die Familien bezüglich der Menschenrechte einmal so formuliert:
"Sämtliche Menschenrechte sind letzten Endes hinfällig und wirkungslos, wenn ihrer Grundlage der Imperativ "ehre!" fehlt, wenn die Anerkennung des Menschen durch die einfache Tatsache, dass er Mensch, "dieser" Mensch ist, fehlt. Rechte allein genügen nicht."
Der Einsatz für Menschenwürde und Menschenrechte im Licht des christlichen Menschenbildes ist für die Kirche konstitutiv. Dieser Einsatz erwächst ihr als Verpflichtung aus der Zusage Gottes an die Menschen.
Hieraus ergeben sich quasi als Bindekräfte unserer Gesellschaft grundlegende ethische Perspektiven. Ich möchte einige Stichworte kurz nennen:
1. Die vorrangige Option für Arme, Schwache und Benachteiligte:
In dieser Perspektive muss es uns immer wieder in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik darum gehen, Schwache und Benachteiligte nicht auszugrenzen, sie möglichst durch Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen.
Wir brauchen in der Gesellschaft so etwas wie eine "Kultur der Leid-empfindsamkeit", der Sensibilität für die offene und verborgene Not von Mitmenschen.
2. Beteiligungsgerechtigkeit
"Zur Verwirklichung von Gerechtigkeit gehört es, dass alle Glieder der Gesellschaft an der Gestaltung von gerechten Beziehungen und Verhältnissen teilhaben." (Gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, Nr. 112)
Beteiligung schafft dann Gerechtigkeit, wenn der Einzelne am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben partizipieren kann.
3. Solidarität und Subsidiarität
Eine sich erneuernde Sozialkultur basiert auf den sich ergänzenden Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität.
Das bedeutet etwa im personalen Bereich sowohl der Würde eines jeden einzelnen als auch seiner Verantwortungsfähigkeit Rechnung zu tragen.
4. Nachhaltigkeit
Schließlich muss das Bemühen um die Bindekräfte der Gesellschaft durch Kontinuität und Dauerhaftigkeit gekennzeichnet sein, damit der Zusammenhalt unseres Gemeinwesens von einer zukunftsfähigen Perspektive getragen wird.
Zusammenfassend möchte ich festhalten: Grundlegende Fragen in unserer modernen Gesellschaft können nicht allein durch Wirtschaft, Wissenschaft, Technik oder Politik gelöst werden; wir brauchen gemeinsame Werte und Normen, die unser Denken und Handeln bestimmen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
auf dem soeben skizzierten Hintergrund lassen Sie mich auch in diesem Jahr einige aktuelle Themen benennen, die mir als Bischof am Herzen liegen:
1. Erhalt des besonderen Schutzes von Ehe und Familie
Nach wie vor gilt der Sorge um die Zukunft unserer Ehen und Familien meine besondere Aufmerksamkeit, weil mit ihnen untrennbar die Lebensfähigkeit unserer Gesellschaft verbunden ist.
Um Ehe und Familie wirksam zu schützen und zu fördern, ist der Abbau der weiterhin bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen unabdingbar. Das Grundgesetz bekräftigt die einzigartige Stellung von Ehe und Familie gegenüber anderen Lebensgemeinschaften. Die Sonderstellung ist keine Benachteiligung anderer Lebensformen, sondern "Ausdruck des besonderen Charakters und der besonderen Leistungen von Ehe in ihrem Zusammenhang mit Familie." (vgl. Die deutschen Bischöfe, "Ehe und Familie in guter Gesellschaft") Ungleiches ist auch ungleich zu behandeln. Das schließt überhaupt nicht aus, Diskriminierungen der in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften lebenden Menschen und anderer "Einstehensgemeinschaften" abzubauen (etwa im Miet- oder Zeugnisverweigerungsrecht).
Der nun am 10. November im Bundestag beschlossene Teil des Lebenspartnerschaftsgesetzes, der keine bundesratszustimmungspflichtigen Vorschriften enthält, zusammen mit den noch ausstehenden Regelungen, denen die Bundesländer zustimmen müssten, bedeuten faktisch eine rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit Ehe und Familie. Das bestehende Ehe- und Familienrecht wird regelrecht kopiert. Rund einhundert Gesetze wurden geändert oder sollen noch verändert werden.
Ich begrüße deshalb ausdrücklich, dass sich die Thüringer Landesregierung in ihrer Erklärung zu Familie und Jugend (vom 14.09.2000) für den besonderen Schutz von Ehe und Familie ausgesprochen hat und sich bezüglich des Gesetzentwurfes der Berliner Regierungskoalition im Bundesrat im Sinne des Artikel 6 des Grundgesetzes verhalten wird.
2. Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Von der Familie weg möchte ich kurz einen Blick auf ein Element des europäischen Integrationsprozesses - dem vorliegenden Entwurf einer EU-Grundrechtscharta - richten, an dem stellvertretend für die Bundesländer der Freistaat Thüringen (durch Herrn Minister Gnauck) mitgearbeitet hat.
Kirchlicherseits wird die Schaffung einer EU-Grundrechtscharta begrüßt, mit der die Grundlagen des europäischen Gemeinwesens erkennbarer und sicherer gemacht werden sollen.
Es ist jedoch unverständlich, dass die Bezugnahme auf das religiöse Erbe der Europäischen Union in der Präambel nicht verankert werden konnte. Die christlich geprägte Geschichte sehe ich als ein nach wie vor wertbestimmendes Element einer in diesem Sinne verstandenen "europäischen Leitkultur".
Die Kompromissformel vom spirituellen und moralischem Erbe befriedigt nicht, auch wenn die deutsche Ü;bersetzung vom geistig-religiösen Erbe spricht. Auch Formulierungen zum Status der Kirchen und zu bioethischen Fragen sind notwendig bzw. verbesserungsbedürftig, wohl wissend, dass Thüringen nicht allein die Grundrechtscharta noch verändern kann.
3. Bioethik als neue Herausforderung für den gesellschaftlichen
Diskurs
In den letzten Jahren und Monaten sind wir mehrfach mit aktuellen Entwicklungen im Bereich der Fortpflanzungsmedizin (pränatale Diagnostik, Präimplantationsdiagnostik) sowie mit neueren biotechnischen und gentechnischen Entwicklungen (Entschlüsselung des menschlichen Genoms, Stammzellenforschung, Patentierung von Gensequenzen) konfrontiert worden.
Wir benötigen eine sachliche Diskussion und eine fundierte Urteilsbildung. Die Kirchen werden sich dieser Diskussion auch weiterhin stellen; dabei geht es weder um ein fundamentalistisches "Nein" noch um ein blindes unreflektiertes "Ja".
Ich freue mich an dieser Stelle besonders, dass der Thüringer Landtag eine Enquetekommission "Wahrung der Würde des menschlichen Lebens in Grenzsituationen" gebildet hat und sich diese noch in den kommenden Wochen mit dem Schutz des ungeborenen Kindes beschäftigen wird.
4. Fortführung der katholischen Schwangerschaftsberatungsstellen
Die Katholische Kirche in Thüringen bleibt weiter in der Beratung für das ungeborene Leben tätig. Es ist bekannt, dass die Beratungsstellen der Caritas ab Januar 2001 nicht mehr den sogenannten "Beratungsschein" ausstellen werden. Diese Bescheinigung war in die Kritik geraten, weil er häufig als Billigung einer nachfolgenden Tötung des ungeborenen Kindes missverstanden wurde.
Unsere katholischen Beraterinnen bedauern sehr, dass nicht deutlich gemacht werden konnte, dass die gesetzliche Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens dient und stets darauf ausgerichtet ist.
Auch in Zukunft hoffen die Beraterinnen für Frauen in schwierigen Konfliktsituationen Ansprechpartner zu sein und Hilfen geben zu können. Durch das Erstellen einer Konzeption für den Beratungsdienst wurde gemeinsam daran gearbeitet, dass die katholischen Beratungsstellen auch über das Jahr 2000 hinaus weiterhin fachlich qualifizierte Beratung anbieten können.
Auch künftig werden die Beraterinnen auf Hilfen der Bundesstiftung "Mutter und Kind" sowie der Landesstiftung "Hilfe für schwangere Frauen in Not" wirksam aufmerksam machen können. Die Türen der Beratungsstellen stehen wie bisher allen Frauen offen.
Ich hoffe über das Jahr 2000 hinaus auf die öffentliche Anerkennung unseres kirchlichen Beratungsangebotes, die sich auch in der Unterstützung durch den Freistaat Thüringen widerspiegeln sollte.
Bezüglich der Aktivitäten und Bestrebungen des Vereins "Donum vitae" bleibt es (auch angesichts der jüngst veröffentlichten Briefe) dabei:
Ich achte die Gewissensentscheidung und die Motivation der Männer und Frauen dieses Vereins. Es muss jedoch deutlich werden und klar bleiben, dass "Donum vitae" nicht im Auftrag der Kirche handelt.
5. Beratungen zum Landeshaushalt 2001/2002
Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung zu den Sie als Landtagsabgeordnete zur Zeit in Anspruch nehmenden Haushaltsberatungen machen:
Die Gründe für Kürzungen im Haushalt in Verbindung mit Änderungen der Leistungsgesetze sind hinlänglich bekannt und auch grundsätzlich verständlich.
Dabei sollte jedoch zweierlei bedacht werden:
* Unter Berücksichtigung notwendiger Sparmaßnahmen ist eine ausgewogene Verteilung der Lasten zwischen Land, Kommune, freien Träger und Familie geboten.
* Erfüllen etwa im Schulbereich Schüler bei einem freien Träger ihre Schulpflicht, sollte der freie Träger eine der staatlichen Einrichtung vergleichbare Unterstützung erhalten. Ich sage dies auch mit Blick auf unbefriedigende Regelungen in alten Bundesländern, die aus bekannten Gründen Thüringen in Zugzwang gebracht haben.
Meine Damen und Herren, soweit einige meiner aktuellen Anliegen, vielleicht auch Gesprächsstoff am heutigen Abend.
Uns verbindet die gemeinsame Sorge und das Bemühen in dem einen oder anderen Anliegen. Möge diese gemeinsame Sorge und Anstrengung stets zu guten, für die Menschen unseres Freistaates förderlichen Ergebnissen führen!
Ich wünsche uns am heutigen Abend anregende Begegnungen und gute Gespräche.
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