Sich selbst vergessen und Gottes Liebe
aufleuchten lassen
Am Jahresende
wird Bilanz gezogen. Das tun die Politiker und auch die Kirchenleute. War es
ein erfolgreiches Jahr oder mussten wir viele Misserfolge einstecken? Wir haben
manchmal den Eindruck, dass dann eine Diskrepanz besteht zwischen dem, was wir
empfinden und dem, was uns als Faktum der Gegenwart genannt wird. Es flattern
die Briefe ins Haus, die Kostenerhöhungen ankündigen und das Sinken der Zinsen,
und zugleich hören wir, dass die Wirtschaft in Europa anzieht und wir jetzt
nicht mit Kürzungen im Investitionsbereich anfangen sollen. Wir erleben die
Strukturreform im Bistum wegen sinkender Zahlen der Kirchenmitglieder und
Seelsorger und hören, dass an den Weihnachtstagen ein weit höherer Prozentsatz
der Bevölkerung als sonst in den Gottesdienst gegangen ist. Lag es nur an der
milden Witterung oder hat die bisweilen prognostizierte Bekehrungswelle
begonnen? Bei der Suche nach Orientierung greife ich gern zur Heiligen Schrift
und lass mich überraschen, was hier als bedeutsam für den Menschen genannt
wird.
Ein Mann kam
einmal auf Jesus zu und wollte ein neues Lebensprogramm von Jesus haben (Mk 10, 17-27). Er
hatte vermutlich Bilanz gezogen und festgestellt, dass sich in seinem Leben
noch etwas ändern müsste. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er eigentlich
schon ein ordentliches Leben führt und mit sich zufrieden sein könnte. Aber es
treibt ihn noch etwas um, was er nur von Jesus beantwortet bekommen kann. In
der Darstellung dieser Begegnung beim Evangelisten Markus fällt auf, dass es da
den Blick Jesu auf den Mann gibt, der für ihn bedeutungsvoll war. "Weil er
ihn liebte" mutete Jesus ihm eine letzte Konsequenz in der Nachfolge zu:
die radikale Armut. Was er schon alles im Befolgen der Gebote Gottes getan hat,
ist beachtlich. Weil er aber noch mehr tun wollte, lädt Jesus ihn zu diesem
radikalen Schritt ein. Dieser Schritt ist die Sinnspitze der 10 Gebote und
alles, was vorher gesagt wurde, dient diesem einen Ziel: Sich selbst
vergessen und Gottes Liebe aufleuchten lassen.
Egoismus ist gesetzlich nicht verboten
In unserem Land
ist zwar der Egoismus nicht gesetzlich verboten und alle gehen straffrei aus,
die im Rahmen des Ü;blichen nur an sich selbst denken. Manchmal aber gibt es
dann doch gesetzliche Regelungen, die mit dem Egoismus zu tun haben, weil sie
das Leben der anderen Menschen gefährden oder bedrohen. Der Sieg über den
Egoismus und alle anderen Verfehlungen, die im Weiteren genannt werden, ist nur
möglich, weil es die Entdeckung der Liebe Gottes gibt, die alles Bisherige
übersteigt. Wie oft kommt es vor, dass ein Mensch wegen einer Idee, einem Hobby
oder einer Liebe alles um sich vergisst, um dieses eine Ziel zu erreichen oder
diesen einen Menschen für sich zu gewinnen. Wenn ich mir bewusst werde, welche
Veränderungen erwachsene Menschen auf sich nehmen, die sich für den Glauben
entscheiden, dann erkenne ich neu den Schatz des Glaubens. Sie ändern die
Traditionen am Heiligabend und auch an jedem Sonntag, denn der Gottesdienst und
das Gebet werden in das Leben eingebaut und die Veränderung wird der Familie
zugemutet - sicher nicht immer ohne Konflikte.
Du sollst nicht die Ehe brechen und es als
belanglos bezeichnen
Unter den
Geboten, die der Mann schon als erfüllt ansieht, steht das Gebot: "Du
sollst nicht die Ehe brechen". Der Mann ist schon durchaus zu loben, wenn
er dieses Gebot erfüllt hat, denn es ist leider heute nicht gesetzlich
verboten, die Ehe zu brechen, indem außereheliche Beziehungen eingegangen
werden. Scheidung ist staatlich gesehen möglich und auch innerhalb der
christlichen Konfessionen gibt es unterschiedliche Auffassungen dazu, wie der
Ehebruch zu bewerten ist. Wer ermutigt jedoch heute noch zur Treue auf
Lebenszeit? Muss dieses Gebot dem Freiheitswillen des Menschen untergeordnet
werden? Ich freue mich, wenn beim Valentinsgottesdienst am 14. Februar Eheleute
über die unterschiedlichen Phasen der Ehe sprechen und erzählen, wie man trotz
aller Spannungen in der Ehe treu sein kann. Wir wissen, wie bedeutsam das Thema
der geschieden Wiederverheirateten in der katholischen Kirche diskutiert wird
und ich spüre bei ihnen eine große Sorge, wie trotz des Zerbrechens
menschlicher Beziehungen die Gottesbeziehung und auch Gemeindebeziehung
weiterhin lebendig erhalten bleiben kann. Die deutschen Bischöfe haben sich in
verschiedenen Gremien über die Frage des pastoralen Umgangs mit diesen
Gemeindemitgliedern ausgetauscht. Hier spielen mehrere Fragen eine Rolle: Was
schafft meine Gemeinschaft mit Christus? Ich sehe diesbezüglich noch einen
großen Gesprächsbedarf in der Bischofskonferenz, in den Gemeinden und Familien.
Vor allem sehe ich die Notwendigkeit von Geduld. Alle vorschnellen
Entscheidungen, die wie eine Provokation aussehen, können den Prozess nicht
beschleunigen.
Du sollst nicht stehlen - im Großen und im
Kleinen!
Diebstahl ist
strafbar! Besteht ein Unterschied, ob es sich um Millionen handelt oder nur um
einen Flaschenpfand, der von der Kassiererin einbehalten wurde? Manchmal haben
wir den Eindruck, dass man die großen Diebe laufen lässt und die kleinen Diebe
bestraft. Wenn Rohstoffe aus afrikanischen oder lateinamerikanischen Ländern zu
Schleuderpreisen eingekauft werden können und auf dem Weltmarkt große Gewinne
damit erzielt werden, spielt die Frage nach dem Diebstahl fast keine Rolle. Da
es dazu Verträge gibt, kann jeder vor Gericht sein Recht einklagen. In Kamerun
sah ich, dass im 10-Minuten-Takt Urwaldbäume an mir vorbeigefahren wurden,
obwohl alle sagten: "Nur geschnittenes Holz darf ohne Sondergenehmigung
exportiert werden." Wer aber erteilt im 10-Minuten-Takt
Sondergenehmigungen? - war meine Frage in diesem afrikanischen Land an den
Minister für Forst und Umwelt. "Es ist alles legal!" - sagte er. Wer
profitiert von den Bodenschätzen in den afrikanischen und lateinamerikanischen
Ländern, in den GUS-Staaten und in Saudi-Arabien? Ich bin auch derzeit
unsicher, wer von der Energiewende profitiert? Ist es nur die Umwelt oder sind
es auch Investoren? Wir hören, dass die Energiewende für den Bürger teuer wird.
Muss er nicht auch spüren dürfen, dass es zu seinem Nutzen ist? Diebstahl ist
strafbar, wenn die Gesellschaft geschädigt wird. Wer traut sich darauf
hinzuweisen und den Finger auf die Wunden zu legen? Der Mann, der Jesus
nachfolgen wollte, hatte alles getan, um seinen Egoismus zu bekämpfen. Wir
können das nur mit Respekt zur Kenntnis nehmen.
Du sollst nicht lügen!
Lüge ist
strafbar, wenn sie große Folgen hat. Es gibt schon in der Gesellschaft eine
gewisse Toleranz bei dieser Frage, ob man lügen darf. Mit dem Wort "Notlüge"
helfen wir uns, wenn das Gewissen plagt. Skandale mit Doktortiteln werden in
den Medien breit bearbeitet. Will man damit nicht von der allgemeinen Tendenz
ablenken, dass Unwahrheit toleriert wird, wenn sie nicht zu großen Schaden
anrichtet? Der Mann, der Jesus nachfolgen will, kann sagen, dass er von Lüge
frei ist. Ich staune über sein Selbstbewusstsein und seine moralische Integrität.
Ob er dabei gelogen hat?
Du sollst Vater und Mutter ehren, wenn ihr
Haar grau geworden ist!
Das Ehren von
Vater und Mutter ist für den Mann, der Jesus begegnet, kein Problem. An den
Weihnachtstagen erinnern sich die Kinder oftmals wieder an dieses Gebot. Ich
danke allen, die in großer Aufopferungsbereitschaft sich um die Eltern sorgen.
Ich muss aber auch feststellen, dass es dieses Verantwortungsbewusstsein nicht
in allen Gesellschaftsgruppen gibt. Wenn Pflegkosten im Heim für die Eltern
anfallen, werden auch die Kinder an den Kosten beteiligt. Gibt es dafür
ausreichend Verständnis? Sicherlich muss auch die Gesellschaft ihren Beitrag
dafür leisten, aber eigentlich ist es Aufgabe der Kinder - soweit es sie gibt
und sie es ermöglichen können - die Fürsorge zu übernehmen.
Selbstlosigkeit
soll helfen, dass die Menschen Gott erkennen und nach ihm fragen. "Warum
machen Sie das mit uns?" fragte ein Teilnehmer an der Vorbereitung zur
Lebenswendefeier. "Müssen Sie das machen oder wollen Sie das machen?"
Die Antwort, dass ich das freiwillig tue, weil mir die Jugendlichen am Herzen
liegen, hat ihn still gemacht. Der selbstlose Einsatz von Kindern für ihre
pflegebedürftigen Eltern macht mich sprachlos. Müsste nicht von solchen
Beispielen der Selbstlosigkeit unser Alltag geprägt werden und müssten nicht
die täglichen Nachrichten davon gefüllt sein?
Du sollst nicht töten oder dazu helfen!
Und da ist noch
die Aussage, dass der junge Mann keinen getötet hat. Seine Selbstlosigkeit hat
ihn auch zu einer Haltung geführt, dass er Respekt vor Leib und Leben des
anderen hat. Den deutschen Bischöfen liegt ein Gesetzentwurf vom 22.10.2012
vor, den die deutsche Bundesregierung unter § 217 des Strafgesetzbuches unter
der Ü;berschrift "Gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung" so formulieren
soll:
"(1) Wer
absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung
gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ein nicht
gewerbsmäßig handelnder Teilnehmer ist straffrei, wenn der in Absatz 1 genannte
Andere sein Angehöriger oder eine ihm nahestehende Person ist."
Man kann
begrüßen, dass damit das Ziel unterstützt wird, Suizid grundsätzlich nicht zu
gestatten, aber das Verbot einer ausschließlich gewerbsmäßigen Förderung der
Selbsttötung greift zu kurz. Man muss befürchten, dass damit die
Handlungsmöglichkeiten der bereits existierenden Selbsthilfeorganisationen
legitimiert werden und damit organisierte Formen der Suizidhilfe schrittweise
zu gesellschaftlich anerkannten normalen Dienstleistungen werden. Diese
Regelung widerspricht der Grundüberzeugung der katholischen Kirche von der
Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. Der Nationale Ethikrat hat schon 2006 in
seinem Text "Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende" seine
grundlegenden Bedenken gegen jede Form der organisierten Vermittlung von
Suizidbeihilfe mitgeteilt. Niemand wird denjenigen verurteilen, der Hand an
sich legt. Die Psychologen sagen uns, dass hier ja jemand ein Problem und nicht
sich selbst dabei beseitigen wollte. Deshalb wird diesen Menschen auch ein
christliches Begräbnis ermöglicht. Es ist jedoch eindeutig festzustellen, dass
der im Grundgesetz genannte Schutzauftrag des Staates mit diesem Gesetz nicht
erfüllt werden kann.
Es muss der
Politik darum gehen, den Menschen ein weitestgehend schmerzfreies Leben und
Sterben zu ermöglichen. Todkranke Menschen sehnen sich in Wahrheit nach einer
menschlichen Sterbebegleitung und nicht nach Hilfe zum Selbstmord. Die
Suizidwilligen benötigen Hilfe zum Leben und nicht zum Sterben. Ihnen darf in
der Not nicht der vermeintlich einfache Weg eines begleiteten Suizids nahe
gelegt werden. "Du sollst nicht töten!" - ein altes Gebot, dass durch
den Gesetzentwurf eine neue Brisanz bekommen hat.
Die Selbstlosigkeit lässt Leben möglich
werden und Gott finden
Alle
Selbstlosigkeit des Menschen soll helfen, das Ebenbild Gottes zu erahnen und zu
erkennen. Der Mann, der Jesus nachfolgen wollte, wird zur gänzlichen Aufgabe
seines Besitzes eingeladen. Ob er es getan hat, wissen wir nicht. Dieser
Bericht hilft uns aber, die Prioritäten zu erkennen, die wir uns zu Herzen
nehmen sollen, wenn wir Brüder und Schwestern Jesu sein wollen:
Selbstlosigkeit. Das galt im Jahr 2012 und das gilt auch für das neue Jahr.
Leben soll dadurch möglich werden. Wenn wir auch vom Ewigen Leben wissen, so
bleibt doch der Schutz des irdischen menschlichen Lebens von der Zeugung bis
zum Tod unser Auftrag. Jeder möge sehen, wie er dazu seinen Beitrag im Jahr
2013 geben kann.
31.12.2012