Was für den Menschenbedeutsam ist

Diözesanadministrator

Reinhard Hauke zur Jahresschlussandacht 2012

Sich selbst vergessen und Gottes Liebe

aufleuchten lassen

Am Jahresende

wird Bilanz gezogen. Das tun die Politiker und auch die Kirchenleute. War es

ein erfolgreiches Jahr oder mussten wir viele Misserfolge einstecken? Wir haben

manchmal den Eindruck, dass dann eine Diskrepanz besteht zwischen dem, was wir

empfinden und dem, was uns als Faktum der Gegenwart genannt wird. Es flattern

die Briefe ins Haus, die Kostenerhöhungen ankündigen und das Sinken der Zinsen,

und zugleich hören wir, dass die Wirtschaft in Europa anzieht und wir jetzt

nicht mit Kürzungen im Investitionsbereich anfangen sollen. Wir erleben die

Strukturreform im Bistum wegen sinkender Zahlen der Kirchenmitglieder und

Seelsorger und hören, dass an den Weihnachtstagen ein weit höherer Prozentsatz

der Bevölkerung als sonst in den Gottesdienst gegangen ist. Lag es nur an der

milden Witterung oder hat die bisweilen prognostizierte Bekehrungswelle

begonnen? Bei der Suche nach Orientierung greife ich gern zur Heiligen Schrift

und lass mich überraschen, was hier als bedeutsam für den Menschen genannt

wird.

Ein Mann kam

einmal auf Jesus zu  und wollte ein neues Lebensprogramm von Jesus haben (Mk 10, 17-27). Er

hatte vermutlich Bilanz gezogen und festgestellt, dass sich in seinem Leben

noch etwas ändern müsste. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er eigentlich

schon ein ordentliches Leben führt und mit sich zufrieden sein könnte. Aber es

treibt ihn noch etwas um, was er nur von Jesus beantwortet bekommen kann. In

der Darstellung dieser Begegnung beim Evangelisten Markus fällt auf, dass es da

den Blick Jesu auf den Mann gibt, der für ihn bedeutungsvoll war. "Weil er

ihn liebte" mutete Jesus ihm eine letzte Konsequenz in der Nachfolge zu:

die radikale Armut. Was er schon alles im Befolgen der Gebote Gottes getan hat,

ist beachtlich. Weil er aber noch mehr tun wollte, lädt Jesus ihn zu diesem

radikalen Schritt ein. Dieser Schritt ist die Sinnspitze der 10 Gebote und

alles, was vorher gesagt wurde, dient diesem einen Ziel: Sich selbst

vergessen und Gottes Liebe aufleuchten lassen.

Egoismus ist gesetzlich nicht verboten

In unserem Land

ist zwar der Egoismus nicht gesetzlich verboten und alle gehen straffrei aus,

die im Rahmen des Ü;blichen nur an sich selbst denken. Manchmal aber gibt es

dann doch gesetzliche Regelungen, die mit dem Egoismus zu tun haben, weil sie

das Leben der anderen Menschen gefährden oder bedrohen. Der Sieg über den

Egoismus und alle anderen Verfehlungen, die im Weiteren genannt werden, ist nur

möglich, weil es die Entdeckung der Liebe Gottes gibt, die alles Bisherige

übersteigt. Wie oft kommt es vor, dass ein Mensch wegen einer Idee, einem Hobby

oder einer Liebe alles um sich vergisst, um dieses eine Ziel zu erreichen oder

diesen einen Menschen für sich zu gewinnen. Wenn ich mir bewusst werde, welche

Veränderungen erwachsene Menschen auf sich nehmen, die sich für den Glauben

entscheiden, dann erkenne ich neu den Schatz des Glaubens. Sie ändern die

Traditionen am Heiligabend und auch an jedem Sonntag, denn der Gottesdienst und

das Gebet werden in das Leben eingebaut und die Veränderung wird der Familie

zugemutet - sicher nicht immer ohne Konflikte.

Du sollst nicht die Ehe brechen und es als

belanglos bezeichnen

Unter den

Geboten, die der Mann schon als erfüllt ansieht, steht das Gebot: "Du

sollst nicht die Ehe brechen". Der Mann ist schon durchaus zu loben, wenn

er dieses Gebot erfüllt hat, denn es ist leider heute nicht gesetzlich

verboten, die Ehe zu brechen, indem außereheliche Beziehungen eingegangen

werden. Scheidung ist staatlich gesehen möglich und auch innerhalb der

christlichen Konfessionen gibt es unterschiedliche Auffassungen dazu, wie der

Ehebruch zu bewerten ist. Wer ermutigt jedoch heute noch zur Treue auf

Lebenszeit? Muss dieses Gebot dem Freiheitswillen des Menschen untergeordnet

werden? Ich freue mich, wenn beim Valentinsgottesdienst am 14. Februar Eheleute

über die unterschiedlichen Phasen der Ehe sprechen und erzählen, wie man trotz

aller Spannungen in der Ehe treu sein kann. Wir wissen, wie bedeutsam das Thema

der geschieden Wiederverheirateten in der katholischen Kirche diskutiert wird

und ich spüre bei ihnen eine große Sorge, wie trotz des Zerbrechens

menschlicher Beziehungen die Gottesbeziehung und auch Gemeindebeziehung

weiterhin lebendig erhalten bleiben kann. Die deutschen Bischöfe haben sich in

verschiedenen Gremien über die Frage des pastoralen Umgangs mit diesen

Gemeindemitgliedern ausgetauscht. Hier spielen mehrere Fragen eine Rolle: Was

schafft meine Gemeinschaft mit Christus? Ich sehe diesbezüglich noch einen

großen Gesprächsbedarf in der Bischofskonferenz, in den Gemeinden und Familien.

Vor allem sehe ich die Notwendigkeit von Geduld. Alle vorschnellen

Entscheidungen, die wie eine Provokation aussehen, können den Prozess nicht

beschleunigen.

Du sollst nicht stehlen - im Großen und im

Kleinen!

Diebstahl ist

strafbar! Besteht ein Unterschied, ob es sich um Millionen handelt oder nur um

einen Flaschenpfand, der von der Kassiererin einbehalten wurde? Manchmal haben

wir den Eindruck, dass man die großen Diebe laufen lässt und die kleinen Diebe

bestraft. Wenn Rohstoffe aus afrikanischen oder lateinamerikanischen Ländern zu

Schleuderpreisen eingekauft werden können und auf dem Weltmarkt große Gewinne

damit erzielt werden, spielt die Frage nach dem Diebstahl fast keine Rolle. Da

es dazu Verträge gibt, kann jeder vor Gericht sein Recht einklagen. In Kamerun

sah ich, dass im 10-Minuten-Takt Urwaldbäume an mir vorbeigefahren wurden,

obwohl alle sagten: "Nur geschnittenes Holz darf ohne Sondergenehmigung

exportiert werden." Wer aber erteilt im 10-Minuten-Takt

Sondergenehmigungen? - war meine Frage in diesem afrikanischen Land an den

Minister für Forst und Umwelt. "Es ist alles legal!" - sagte er. Wer

profitiert von den Bodenschätzen in den afrikanischen und lateinamerikanischen

Ländern, in den GUS-Staaten und in Saudi-Arabien? Ich bin auch derzeit

unsicher, wer von der Energiewende profitiert? Ist es nur die Umwelt oder sind

es auch Investoren? Wir hören, dass die Energiewende für den Bürger teuer wird.

Muss er nicht auch spüren dürfen, dass es zu seinem Nutzen ist? Diebstahl ist

strafbar, wenn die Gesellschaft geschädigt wird. Wer traut sich darauf

hinzuweisen und den Finger auf die Wunden zu legen? Der Mann, der Jesus

nachfolgen wollte, hatte alles getan, um seinen Egoismus zu bekämpfen. Wir

können das nur mit Respekt zur Kenntnis nehmen.

Du sollst nicht lügen!

Lüge ist

strafbar, wenn sie große Folgen hat. Es gibt schon in der Gesellschaft eine

gewisse Toleranz bei dieser Frage, ob man lügen darf. Mit dem Wort "Notlüge"

helfen wir uns, wenn das Gewissen plagt. Skandale mit Doktortiteln werden in

den Medien breit bearbeitet. Will man damit nicht von der allgemeinen Tendenz

ablenken, dass Unwahrheit toleriert wird, wenn sie nicht zu großen Schaden

anrichtet? Der Mann, der Jesus nachfolgen will, kann sagen, dass er von Lüge

frei ist. Ich staune über sein Selbstbewusstsein und seine moralische Integrität.

Ob er dabei gelogen hat?

Du sollst Vater und Mutter ehren, wenn ihr

Haar grau geworden ist!

Das Ehren von

Vater und Mutter ist für den Mann, der Jesus begegnet, kein Problem. An den

Weihnachtstagen erinnern sich die Kinder oftmals wieder an dieses Gebot. Ich

danke allen, die in großer Aufopferungsbereitschaft sich um die Eltern sorgen.

Ich muss aber auch feststellen, dass es dieses Verantwortungsbewusstsein nicht

in allen Gesellschaftsgruppen gibt. Wenn Pflegkosten im Heim für die Eltern

anfallen, werden auch die Kinder an den Kosten beteiligt. Gibt es dafür

ausreichend Verständnis? Sicherlich muss auch die Gesellschaft ihren Beitrag

dafür leisten, aber eigentlich ist es Aufgabe der Kinder - soweit es sie gibt

und sie es ermöglichen können - die Fürsorge zu übernehmen.

Selbstlosigkeit

soll helfen, dass die Menschen Gott erkennen und nach ihm fragen. "Warum

machen Sie das mit uns?" fragte ein Teilnehmer an der Vorbereitung zur

Lebenswendefeier. "Müssen Sie das machen oder wollen Sie das machen?"

Die Antwort, dass ich das freiwillig tue, weil mir die Jugendlichen am Herzen

liegen, hat ihn still gemacht. Der selbstlose Einsatz von Kindern für ihre

pflegebedürftigen Eltern macht mich sprachlos. Müsste nicht von solchen

Beispielen der Selbstlosigkeit unser Alltag geprägt werden und müssten nicht

die täglichen Nachrichten davon gefüllt sein?

Du sollst nicht töten oder dazu helfen!

Und da ist noch

die Aussage, dass der junge Mann keinen getötet hat. Seine Selbstlosigkeit hat

ihn auch zu einer Haltung geführt, dass er Respekt vor Leib und Leben des

anderen hat. Den deutschen Bischöfen liegt ein Gesetzentwurf vom 22.10.2012

vor, den die deutsche Bundesregierung unter § 217 des Strafgesetzbuches unter

der Ü;berschrift "Gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung" so formulieren

soll:

"(1) Wer

absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung

gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei

Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ein nicht

gewerbsmäßig handelnder Teilnehmer ist straffrei, wenn der in Absatz 1 genannte

Andere sein Angehöriger oder eine ihm nahestehende Person ist."

Man kann

begrüßen, dass damit das Ziel unterstützt wird, Suizid grundsätzlich nicht zu

gestatten, aber das Verbot einer ausschließlich gewerbsmäßigen Förderung der

Selbsttötung greift zu kurz. Man muss befürchten, dass damit die

Handlungsmöglichkeiten der bereits existierenden Selbsthilfeorganisationen

legitimiert werden und damit organisierte Formen der Suizidhilfe schrittweise

zu gesellschaftlich anerkannten normalen Dienstleistungen werden. Diese

Regelung widerspricht der Grundüberzeugung der katholischen Kirche von der

Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. Der Nationale Ethikrat hat schon 2006 in

seinem Text "Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende" seine

grundlegenden Bedenken gegen jede Form der organisierten Vermittlung von

Suizidbeihilfe mitgeteilt. Niemand wird denjenigen verurteilen, der Hand an

sich legt. Die Psychologen sagen uns, dass hier ja jemand ein Problem und nicht

sich selbst dabei beseitigen wollte. Deshalb wird diesen Menschen auch ein

christliches Begräbnis ermöglicht. Es ist jedoch eindeutig festzustellen, dass

der im Grundgesetz genannte Schutzauftrag des Staates mit diesem Gesetz nicht

erfüllt werden kann.

Es muss der

Politik darum gehen, den Menschen ein weitestgehend schmerzfreies Leben und

Sterben zu ermöglichen. Todkranke Menschen sehnen sich in Wahrheit nach einer

menschlichen Sterbebegleitung und nicht nach Hilfe zum Selbstmord. Die

Suizidwilligen benötigen Hilfe zum Leben und nicht zum Sterben. Ihnen darf in

der Not nicht der vermeintlich einfache Weg eines begleiteten Suizids nahe

gelegt werden. "Du sollst nicht töten!" - ein altes Gebot, dass durch

den Gesetzentwurf eine neue Brisanz bekommen hat.

Die Selbstlosigkeit lässt Leben möglich

werden und Gott finden

Alle

Selbstlosigkeit des Menschen soll helfen, das Ebenbild Gottes zu erahnen und zu

erkennen. Der Mann, der Jesus nachfolgen wollte, wird zur gänzlichen Aufgabe

seines Besitzes eingeladen. Ob er es getan hat, wissen wir nicht. Dieser

Bericht hilft uns aber, die Prioritäten zu erkennen, die wir uns zu Herzen

nehmen sollen, wenn wir Brüder und Schwestern Jesu sein wollen:

Selbstlosigkeit. Das galt im Jahr 2012 und das gilt auch für das neue Jahr.

Leben soll dadurch möglich werden. Wenn wir auch vom Ewigen Leben wissen, so

bleibt doch der Schutz des irdischen menschlichen Lebens von der Zeugung bis

zum Tod unser Auftrag. Jeder möge sehen, wie er dazu seinen Beitrag im Jahr

2013 geben kann.


31.12.2012