Warum Werte überzeugen

Predigt von Bischof Wanke beim "Werte-Symposium" des Handwerkstages und der Kirchen in Thüringen

Predigt von Bischof Wanke beim "Werte-Symposium" des Handwerkstages und der Kirchen in Thüringen...

Was könnte passender sein, unser Symposion zum Thema "Werteerhaltung braucht Quellen" mit einem Hinweis auf die hl. Elisabeth von Thüringen zu beginnen. In Kürze werden die beiden Kirchen ein Gedenkjahr anlässlich des 800. Geburtstages dieser Heiligen eröffnen. Ihr Festtag im Kalender ist der 19. November. Landesbischof Kähler und ich haben vereinbart, dass am Vorabend dieses Tages von allen Kirchtürmen ein festliches Geläut erschallen soll, um die Menschen auf dieses Jubiläumsjahr hinzuweisen.


Mit dem Lebenszeugnis der Thüringer Landgräfin verbindet sich die Erinnerung an tiefe Menschlichkeit, an Solidarität mit den Armen und ungewöhnliche Selbstlosigkeit. Auch in kommunistischer Zeit ist das Leben und Wirken dieser großen Frau bei Führungen auf der Wartburg durchaus respektvoll und mit Sympathie gewürdigt worden. Sie repräsentiert gleichsam in Person das, was wir Werte nennen. Nächstenliebe und Empfinden für soziale Gerechtigkeit bleiben als Begriffe abstrakt. In Biographien werden solche Prinzipien konkret, bekommen sie im buchstäblichen Sinn ein "Gesicht".


Manche Zeitgenossen, die keinen Zugang zur Gotteswirklichkeit haben, werden wohl auf das kurze Leben der Thüringer Landgräfin - sie ist nur 24 Jahre alt geworden - bei allem Respekt mit einem gewissen Bedauern schauen und sich im Stillen sagen: "Sie hat ja nichts vom Leben gehabt. Eigentlich schade um dieses Leben! Sie hätte mehr an sich und weniger an andere denken sollen!"


Und damit kommen wir zu dem Thema, das uns heute an diesem Tag des Handwerks und der Kirchen gemeinsam am Herzen liegt. Tragfähige, belastbare Werthaltungen, wie z.B. Gemeinsinn, Gerechtigkeit, solidarisches Verhalten, Hilfsbereitschaft, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit u.ä. brauchen Quellen. Das Wort Quelle ist in diesem Zusammenhang ein Bild. Aber an diesem Bild wird deutlich: Eine Quelle muss ständig fließen. Es reicht nicht, bestimmte Werte feierlich auszurufen, sie in die Verfassung zu schreiben und ab und zu einmal in Sonntagsreden zu erwähnen. Werthaltungen brauchen gleichsam ständige Erneuerung und Bekräftigung. Die Quelle für die Werte, von denen unsere Gesellschaft lebt, darf nicht versiegen. In jeder Zeit, in jeder Generation neu muss der Zugang zu dem Quellgrund, aus dem Werte entstehen, geschaffen werden. Gibt es denn einen solchen Quellgrund?



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Ehe wir hier eine Antwort geben, sollten wir noch einmal auf die Eigenart von Werthaltungen bei Menschen achten. Nehmen wir das Beispiel der Aufrichtigkeit, der Wahrhaftigkeit. Fragen wir einen Menschen, bei dem wir diese Haltung antreffen: "Warum machst du das eigentlich: aufrichtig, ehrlich zu sein, nicht zu tricksen oder gar zu lügen oder dich sonst wie zu verbiegen?" Da würde er vermutlich antworten: "Das hab ich von meinen Eltern gelernt. Das bin ich von Kindheit an gewohnt. So bin ich erzogen worden. Und zudem: Damit bin ich auf Dauer gut gefahren!"


In dieser Antwort stecken zwei Elemente: 1. Werthaltungen sind Ergebnis einer Erziehung, die auf Vorbild beruht. "Das hab ich von meinem Vater gelernt!" Das ist in diesem Fall ein großes Lob für Erziehung. Würde man - wenn möglich - noch den Vater fragen können: "Wie hast du denn das gemacht?" Dann könnte ich mir die Antwort denken: "Ich hab gar nichts besonderes gemacht. Ich hab einfach geradlinig gelebt und gehofft, dass mein Junge das mir abkauft." Der alte Thüringer Pädagoge Fröbel hat bekanntlich gesagt: "Erziehung ist Vorbild und Liebe - weiter nichts!" Das Vorbild ist entscheidend, auch heute. Das sage ich auch geplagten Handwerksmeistern und Lehrausbildnern: Ein gutes Vorbild ist auch heute niemals umsonst.


Aber in der Antwort unseres aufrechten, wahrhaftigen Zeitgenossen steckt noch ein 2. Element: "Ich bin auf Dauer mit Ehrlichkeit und Geradlinigkeit besser gefahren als mit Tricksereien!" Werthaltungen basieren auf Erfahrungen, die ihre eigene Ü;berzeugungskraft haben. Sie haben -wie man gelehrt sagen kann - ihre eigene Evidenz.


Und das gilt vor allem von sog. personalen Werten, also Haltungen. Einstellungen, die mich im Innersten des eigenen Herzens berühren und binden, z.B. bei einer Freundschaft, bei Kindes- oder Elternliebe, bei der Liebe zwischen Mann und Frau, oder eben auch die Bindung an Gott. Wenn man einem anderen erklären sollte, warum man gerade mit diesem Menschen freundschaftlich oder in Liebe verbunden ist, komm man meist in Erklärungsnot. Das hängt genau mit dieser Erfahrung zusammen: Die Liebe kann man nicht erklären. Man kann dieses oder jenes sagen, etwa wie es dazu gekommen ist. Aber warum diese und keine andere - das entzieht sich einer letzten Erklärung. Und vor allem: Wirkliche Liebe kann man sich nicht antrainieren - sie hat man, oder man hat sie nicht. Sie überfällt den Menschen - und im Glücksfall verwandelt sie das Leben.


Ich habe das einmal bei einem jungen Mann in einer befreundeten Familie erlebt. Der Bursche war für seine Eltern eine richtige Plage, "schlamprich" und frech, wie eben Jugendliche so manchmal sein können. Eines Tages kam ich zu Besuch und sah den Jungen wie verwandelt: adrett angezogen, ordentlich gekämmt und manierlich am Tisch sitzen. Ich frug verwundert: "Was ist denn mit dem Holger los?" Und da lächelte der Vater und sagte: "Er hat sich verliebt!"



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Mit diesem Beispiel nähern wir uns dem innersten Lebensgeheimnis der hl. Elisabeth von Thüringen. Sie war verliebt - nicht nur in ihren Ludwig. Sie war verliebt in Gott. Bei Elisabeth war es ja die religiöse Bindung, die Bindung an den höchsten Wert Gott, die immer neu ihre Liebe zum Nächsten, zu den Kranken und Armen, motivierte und konkret werden ließ. Gerade mit dieser Bindung an Gott haben wir als moderne Menschen unsere Schwierigkeiten. Macht das nicht unfrei und unfroh?


Wer selbst ein gläubiger Christ ist, der weiß: Die Bindung an Gott wird von innen her gerade nicht als Knebelung erfahren, sondern als ein tiefes und beglückendes "Zu-sich-Selbst-Kommen". Eine Lebenshaltung, die auf Gott setzt und darauf vertraut, bei der Nächstenliebe, überhaupt bei einem Leben nach Gottes Vorgaben selbst nicht zu kurz zu kommen, hat ihre eigene, von innen kommende Ü;berzeugungskraft. Sie ist auch nicht das Ergebnis einer freien Wahl aus vielen vorgegebenen Möglichkeiten. Das ist so wie das Wunder menschlicher, partnerschaftlicher Liebe. "Du bist für mich wie ein Geschenk des Himmels!" so sagen manchmal auch ganz unreligiöse Menschen zueinander. In der religiösen Sprache nennen wir das freilich nicht Wunder, sondern Gnade. (Dass beim Ü;berspringen des "Funkens" natürlich auch manche andere Dinge eine Rolle spielen, stelle ich nicht in Abrede!).


Das ist das Faszinierende an der Biographie der Landgräfin Elisabeth. Sie zeigt uns, wie das gehen kann: sich innerlich ganz an Gott zu binden und dabei frei zu werden. An ihr ist ablesbar, wie das geht: nicht vordergründig nach sich und seinen Lebenswünschen zu fragen und dennoch aus einer tiefer Freude und Ü;bereinstimmung mit sich selbst zu leben. Ich erinnere hier an das von Elisabeth überlieferte authentische Wort an ihre Dienerin: "Wir müssen die Menschen froh machen!"


Nochmals: Werte kann man nicht herbeipredigen. Es ist wie mit einem Geschenk. Wer meint, Geschenke einfordern zu können, der wird nie erfahren, welche Freude ein unverhofftes Geschenk bereiten kann. Werte kann man vorleben und darauf vertrauen, dass sie aus sich selbst heraus überzeugen. Und das tun sie auch. Auch heute. Manchen Politikern kauft man etwas ab, manchen nicht. Auch im Handwerk ist das so. Manche Handwerker genießen einfach Vertrauen, andere trotz intensiver Werbung nicht.


So ähnlich ist es auch mit der Spannung zwischen Freiheit und Bindung. Freiheit meint nicht, alles mögliche machen zu können. Der Forscher, der um eines großen Zieles willen alles von sich abverlangt - ist er frei oder ist er gefesselt? Ein Sportler, der einen olympischen Erfolg anstrebt und dafür viel Kraft und Zeit investiert - ist er frei oder ist er ein Sklave seines Vereins? Es gibt Bindungen, die frei machen - so wie ein Kletterseil in den Bergen mich zwar "anbindet", aber mir auch den Aufstieg zu neuen Horizonten ermöglicht. So binden mich auch Werte. Treue, Standfestigkeit, Wahrhaftigkeit, und noch mehr: Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Gottesliebe - natürlich können solche Werte manchmal unbequem sein. Aber auf Dauer überzeugen sie, weil ich in ihnen Gott, die Quelle alles Guten berühre.


Diese Erfahrung muss Elisabeth gemacht haben. Sie hat sich um Gottes willen in barmherziger Liebe an den Nächsten "gebunden", aber sie ist darin auch frei und souverän gegenüber gesellschaftlichen Zwängen geworden. Ich vermute einmal: Elisabeth würde ihr Leben nicht als Einengung und ständige Demütigung beschreiben, sondern als Ekstase einer unbändigen Liebe.



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In dem Bibeltext Matthäus 11,25-30, den wir als Evangelium hörten, klingt in den Worten Jesu dieses Ü;berwältigt-Sein von Gott auf. Jesus preist den Vater im Himmel - nicht weil er allmächtig, gerecht oder sonst wie überragend ist, sondern weil er unbegreiflich gut ist und den Kleinen und Geringen das Geheimnis seiner Liebe offenbart hat. Wer diesen Gott kennt, hat die kostbare Perle gefunden, von der Jesus in seinem Gleichnis erzählt hat.


Mit diesem Gott der Liebe und des Erbarmens will Jesus alle Menschen bekannt machen. Das ist der Auftrag unserer beiden Kirchen hier in Thüringen: Die Menschen unseres Landes, die oft so geplagt sind und schwere Lasten zu tragen haben, sollen diesen Gott kennen lernen, den Gott des Erbarmens und den Gott allen Trostes.


Wenn ich manchmal gefragt werde, was ich mir für das Elisabeth-Gedenkjahr erhoffe, kann ich auf dieses oder jenes verweisen, etwa dass junge Menschen auf Elisabeth aufmerksam werden, oder dass ihr Lebensbeispiel sich auf das heutige gesellschaftliche Klima positiv auswirken möge oder dass sie als gemeinsame Heilige der ungeteilten Christenheit uns Katholiken und Evangelische noch mehr miteinander verbindet. Mein zentrales Anliegen für das Gedenkjahres geht freilich noch mehr in die Tiefe. Ich bringe es einmal auf die Formel: An Elisabeths Leben Gott kennen lernen und sich von ihm verwandeln lassen. Ich meine, dass hilft auch den Werten in Thüringen auf.



Gehalten am Samstag, 28. Oktober 2006 im Augustinerkloster Erfurt



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