Warum die eigene Schuld aussprechen?

Dieser und anderen Fragen ging Bischof em. Joachim Wanke in seinem Vortrag zu "Schuld - Vergebung - Versöhnung" im Gefängnis Arnstadt-Rudisleben nach

Beobachtungen zur Wahrnehmung von Unrecht und Schuld
Das Reden von "Schuldig sein/ schuldig werden" ist uns heute durchaus geläufig. Medial breit und nahezu täglich wird von den großen und kleinen Kriegen, Rechtsbrüchen, menschlichen Grausamkeiten und deren Folgen berichtet, die das Zusammenleben der Menschen und Völker belasten. Es wird nach den Schuldigen gefragt und deren Bestrafung. Die vielfältigen Verletzungen von Menschenrechten und menschlicher Würde in Vergangenheit und Gegenwart sind also durchaus im öffentlichen Bewusstsein präsent.

In manchen Bereichen gibt es sogar auch ein wachsendes Verständnis für gesellschaftliches und individuelles Fehlverhalten, etwa im ökologischen Bereich.  In der Breite ist jedoch in der Gesellschaft meist  ein fataler "Unschuldswahn" (vgl. Würzburger Synode, Hoffnung vor uns, Nr. 5) verbreitet, der zwar bei anderen Schuld ausmachen kann, aber im Blick auf sich selbst mit vielen Entschuldigungen und Alibis argumentiert und bei entsprechenden Nachfragen meist auf "unschuldig" plädiert. Ein Beispiel dafür ist die gesellschaftliche Blindheit der reichen Länder des Westens gegenüber den von ihnen mitverschuldeten Problemen in vielen sog. Entwicklungsländern. Unrecht und Schuld werden also einerseits als Realitäten anerkannt, aber anderseits auch verdrängt, verleugnet, wegerklärt, an andere delegiert.

Von "Sünden"  im engeren, religiösem Sinn des Wortes (Schuldig werden vor Gott) ist heute im säkularen Umfeld kaum noch die Rede, es sei denn in Büttenreden. Wenn überhaupt das Wort "Sünde" fällt , wird davon  meist in der Verniedlichungsform gesprochen, vor allem, wenn solche Taten mich selbst betreffen ("Verkehrssünder",  gegen die Gesundheit "sündigen" etc.).

Die Grenzen staatlicher Rechtsprechung
Menschliche Verbrechen rufen zunächst nach Bestrafung der Täter. Dafür stehen die staatlichen Gerichte und die Strafjustiz mit ihren Einrichtungen. Aber man sollte sich von der Illusion freimachen, staatliches Recht und die damit verbunden Rechtsmittel könnten Schuld aufheben bzw. zur Vergebung von Schuld beitragen. Auch wenn ein Unrechtstäter eine im Gesetz vorgesehene und von einem Gericht ordnungsgemäß verhängte Strafe abgebüßt hat,  bleibt die Schuld bestehen. Wir wissen, dass Schuld manche Menschen ein Leben lang begleiten und schwer belasten kann.

Eine vom Gesetz verhängte Strafe macht natürlich Sinn. Sie hat zunächst eine abschreckende Wirkung, wobei wir wissen, dass diese beschränkt ist, selbst bei der (von unserer Kirche abgelehnten) Todesstrafe. Sodann dient eine Strafe der Genugtuung der Opfer bzw. der durch die Unrechtstat geschädigten Menschen. Da schwingt ein gewisser Sühneaspekt mit. Man sagt dann: "Er/Sie soll merken, was das Verbrechen angerichtet hat!"

In der Vergangenheit war dieser Sühnegedanke viel dominierender als heute. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das archaische Institut der "Blutrache", das heute noch in manchen Regionen der Welt praktiziert wird. Freilich sei auch daran erinnert, dass im Alten Testament die der Tat entsprechende Vergeltung am Täter ("Auge um Auge, Zahn um Zahn") seinerzeit eine domestizierende, also die maßlose Rache eindämmende Wirkung haben sollte. In der Scharia-Rechtsprechung des Islam könnte das noch eine gewisse Rolle spielen. In der modernen Weiterentwicklung der Strafjustiz steht freilich neben dem Aspekt des Schutzes der Bevölkerung vor weiteren Straftaten mehr der Gedanke der Umerziehung des Täters in den Vordergrund, seine "Resozialisierung". Aber auch da sind dem Erfolg Grenzen gesetzt, gerade wenn wir an den Bereich der Gewalttaten bei Triebverbrechen denken.

Die Justiz bzw. das Gewalt- bzw. das Strafmonopol des Staates sind also durchaus bedeutsam, haben freilich auch eine beschränkte Wirkung. Strafbewehrte Gesetze können zudem nur einen Bruchteil des Unrechts in einer Gesellschaft verhindern, vermutlich nur die ganz groben Rechtsverstöße. Die Aufklärungsquote bei manchen Delikten (etwa Raub, Diebstahl, Drogenhandel, Korruption u.ä.) bleibt oft gering. Interessant ist neuerdings der Versuch, durch offizielle, von Gerichten vermittelte Mediation (Vermittlung) bzw. Mediatoren Streitfälle zu lösen, die die Strafjustiz entlasten. Es darf also auch im Justizwesen mit Weiterentwicklungen gerechnet werden. Hoffnungsvoll etwa ist die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes ("Haager Tribunal"), auch wenn es derzeit sehr schwierig ist, Straftaten gegen das Völkerrecht zu verfolgen und zu bestrafen. Das grundlegende Problem bleibt jedoch: Eine staatliche Justiz kann nicht in die eigentliche existentielle Tiefe von Unrecht und möglicher Vergebung vordringen, geschweige denn durch Strafrecht allein Versöhnung zwischen Tätern und Opfern bewirken. Dazu braucht es noch anderer Zugangswege.

Vom Umgang mit Schuld
Neben dem Straf-, Sühne- und Resozialisierungsgedanken bleibt also die Frage nach einer "Aufhebung" von Schuld, nach Versöhnung und Vergebung. Diese Frage ist im öffentlichen Bewusstsein durchaus virulent. Sie ist immer wieder auch ein Thema in der Literatur und bei Filmemachern. Ich verweise  beispielsweise auf Dostojewskis Roman  "Die Brüder Karamasow". Viele fragen: Kann es überhaupt Vergebung von Schuld  geben? Aller Schuld? Sind nicht manche Verbrechen, etwa die millionenfache Ermordung der Juden, der Roma und Sinti und anderer durch Nazideutschland wegen ihrer Schwere prinzipiell von einer möglichen Vergebung ausgeschlossen? Diese Problematik wird meist unter dem Stichwort  "gesellschaftliche Aussöhnung" thematisiert. Auch das fatale Stichwort "endlich einmal einen Schlussstrich ziehen!" zielt auf diese Fragestellung. Zuletzt etwa war und ist das ein Thema im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des DDR -Unrechts, bei der sich Opfer und Täter von Unrecht gegenseitig begegnen bzw. eben nicht begegnen (wollen).

Eine notwendige Voraussetzung für eine mögliche Vergebung und nachfolgende Versöhnung zwischen Opfern und Tätern ist das Eingeständnis von Schuld auf Seiten des bzw. der Täter. Dazu muss zudem die Bereitschaft des Opfers kommen, überhaupt den Gedanken der Vergebung in Erwägung zu ziehen. Beides ist bekanntlich nicht einfach. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, die eigenen und gemeinsamen Verstrickungen in menschliche Schuldgeschichten tiefer zu erkennen und zu verstehen. Um diese Tiefendimension von Schuld, die oft nicht so eindeutig auf der Hand liegt, muss man sich immer neu, in jeder Generation vertieft bemühen. Der eingangs konstatierte partielle gesellschaftliche "Unschuldswahn" ("Die anderen sind schuld!") ist diesbezüglich kontraproduktiv. Es gilt, ihn in Frage zu stellen, zumindest Nachdenklichkeit zu erzeugen. Das erleichtert den Zugang zu einer echten Versöhnungsbereitschaft, individuell und gesellschaftlich. - Dazu möchte ich hier  einige Verständnishilfen aus christlicher Sicht geben.

Der Apostel Paulus spricht im Römerbrief einmal an einer Stelle vom "Niederhalten der Wahrheit durch Ungerechtigkeit" (vgl. Röm 1,18). So etwas gibt es tatsächlich. Im Osten Deutschlands haben wir das seinerzeit als handgreifliche gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren: Das unwahre Ideologiesystem als Ganzes brachte immer wieder die Lüge als Einzeltat oder anderes individuelles Einzelunrecht aus sich hervor. Wie ein Pilzgeflecht, das verborgen im Erdreich liegt, immer neu Giftpilze an die Oberfläche treibt, so kam es in dieser gesellschaftlichen "Luft" des alten SED-Staates zu stets neuer Heuchelei, zu angepasstem Handeln, zu Lügen und Unrechtstaten. Wir wissen, wie schwer es ist, sich solch einer Gesamtatmosphäre zu entziehen und nicht durch Gewöhnung an solche Verhältnisse blind zu werden für das Unrecht als Einzeltat. Derzeit erleben wir ja, wie vieles im Nachhinein "schöngeredet" wird.

Oder ein anderes "systemübergreifendes" Beispiel: Das Lebensrecht der ungebore-nen Kinder. Es ist kaum zu glauben: In einem Land mit dem höchsten Lebensstandard auf Erden wird einem vorgerechnet, dass Kinder zu teuer sind. Ich gebe zu: Im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen brauchen die Familien eine noch stärker ausgleichende Finanzgerechtigkeit. Das sei unbestritten. Aber grundsätzlich gesprochen: Wenn das Lebensrecht des Ungeborenen davon abhängig gemacht wird, was dem Einzelnen an Einschränkung im Lebensstandard zugemutet werden darf oder nicht, wird die einzelne Abtreibung als Tötung von menschlichem Leben mehr und mehr bagatellisiert. Es entsteht gleichsam ein Verblendungszusammenhang, der durch allgemein verbreitetes Urteilen, durch öffentliche Meinung und Darstellung von Verhaltensweisen in Filmen und Literatur immer dichter gewoben wird. Das Unrecht als Einzeltat tritt fast nicht mehr in den Blick bzw. es wird zur schrecklichen Normalität. Und wehe dem, der überhaupt noch von Abtreibung als Unrecht spricht! Ihm wird vorgeworfen, er mache den Menschen nur ein schlechtes Gewissen.

Oder um noch  ein Beispiel aus dem engeren menschlichen Umfeld heranzuzie-hen: Die eine oder andere Handlungsweise, die eine Ehe langsam aber sicher zerbrechen lässt, weist erfahrungsgemäß auf eine tiefer liegende Entfremdung zwischen den Partnern hin, meist mit längerer Vorgeschichte, etwa auf ausbleibende Gesprächsbereitschaft, auf nachlassende Aufmerksamkeit für die Situation des anderen, auf das Verblassen von Empathie, Zuwendung und Liebe. Hier ist oft schwierig, die Anteile individueller Schuld genau festzumachen. Das staatliche Scheidungsrecht hat sich darum  schon lange vom Schuldprinzip verabschiedet und orientiert sich am Zerrüttungsprinzip.

Vergebungsbitte contra Selbstbehauptung
Wie kann es zu einer "Heilung" von Schuld kommen? Jede Heilung, oft auch rein körperlicher Art, kann nicht allein an der Oberfläche, sondern muss in der Tiefe an-setzen. Wir wissen, wie schwer, ja wie nahezu aussichtslos es ist, Menschen zu einer Vergebungsbitte zu bewegen, wenn ein bestimmtes Maß der Entfremdung erreicht ist. Jeder Seelsorger, jeder, der im Beratungsdienst steht, weiß da um seine Grenzen. Denn wir haben es ja hier nicht mit unpersönlichen Dingen zu tun, die man je nach Geschick und Möglichkeit wieder reparieren könnte, sondern mit freien Personen, die sich nicht einfach von außen bestimmen lassen wollen.

Es ist bekannt, wie empfindlich an dieser Stelle Menschen sind. Wenn wir nur den leisesten Verdacht haben: "Da will einer etwas von mir..." "Da will mich einer belehren..." "Da will einer meine Freiheit beschneiden, mich einzwängen, nötigen...", da gehen bekanntlich alle Türen zu. Derjenige, der helfen und heilen will, steht hilflos und ratlos mit seiner guten Absicht draußen. Diese Reaktion trifft auch auf ältere Menschen zu, bei denen man ehesten eine gewisse Lebensreife und Eigenerfahrung voraussetzen könnte. Aber angesichts ihrer Einsamkeit oder eines schweren Lebensgeschicks können gerade auch sie oftmals sehr verbittert sein und sich abweisend verhalten.

Wie kann solch ein (durch eigene oder fremde Schuld) verhärteter Lebenspanzer aufgebrochen werden? Durch gute Worte? Durch Zureden? Durch moralische Appelle an die bessere Einsicht? Hier kommen nun Einsichten unseres christlichen Menschenbildes in den Blick.

Jede Unrechtstat, jede "Sünde", ist - natürlich gestaffelt  in ihrer jeweiligen Schwere - auf ihre Weise wirklich hoffnungslos, weil der Täter im Grunde sich selbst von einer möglichen Rettung abschneidet. Er will gleichsam "untergehen". Er weist jeden "Rettungsversuch" von außen als freiheitsberaubende Zumutung von sich. Aus der Sicht des Gottesglaubens heraus formuliert: Das Kostbarste, was Gott dem Menschen geschenkt hat, die Freiheit, wird ihm in der frei gewollten Unrechtstat, zu der er "trotzig" weiter steht, zum Verhängnis. Darum kann der Apostel Paulus manchmal von der Sünde so reden, als handle es sich um eine den Menschen okkupierende Macht, um ein tragisches Geschick, aus dem es kein Entrinnen gibt. Sünde hält in der Tat "die Wahrheit nieder", macht unfähig, wahrhaftig zu leben, der Wirklichkeit ins Angesicht zu schauen. (Eine interessante säkulare Meditation dieser Erfahrung ist Vaclav Havels Buch "Versuch in der Wahrheit zu leben", noch vor der "samtenen Revolution" geschrieben).

Christlicher Glaube und Umgang mit Schuld
Hilfreich ist für mich diese Einsicht meines Glaubens: Wie geht Gott mit der Sünde um? Jetzt spreche ich hier als Theologe. Ich gebrauche einen Vergleich, der in diesem Zusammenhang hilfreich ist. Was macht eine Mutter, die ihr quengelndes Kind mit keinem Mittel beruhigen kann? Das Kind bockt und greint und weiß am Schluss gar nicht mehr warum. Es will eben bockig sein. Eine gute Mutter wird, so meine ich, ganz einfach das Kind in ihre Arme schließen, es fest an sich drücken und den kindlichen Trotz, das Aufbegehren und den Zorn des Kindes auf sich selbst "hinwegschmelzen" mit einer Geduld und Liebe, die das "Nicht-Wollen" des Kindes noch umfangen kann.

Für mich sind solche Erfahrungen aus unserem menschlichen Umfeld wichtig, weil sie das Verständnis für die christliche Versöhnungslehre  erleichtern. Es kann sich eine "Tür" für den Wunsch nach Vergebung bzw. Versöhnung öffnen, wenn ich erkenne: Mir streckt sich in meiner "Eisspalte", in der ich mich vorfinde, eine rettende Hand entgegen, die an nichts anderem als an mir selbst interessiert ist. Religiös gesprochen: In der Lebenshingabe Jesu bis in den Tod hinein berührt mich eine Liebe, die sich nicht selbst sucht, sondern ganz und radikal den "Verlorenen". Das übersteigt menschliches Begreifen. Der Glaubende erkennt hier freilich, angeleitet durch das Wort und Verhalten Jesu, Gott, wie er "wirklich" ist: als derjenige, der vor der Freiheit des Menschen, die auch eine "Freiheit zum Bösen" sein kann, nicht kapituliert.

Wir hatten das Problem je soeben angesprochen. Was passiert, wenn zwei menschliche "Freiheiten" miteinander kollidieren? Wir sahen: Gutes Zureden bleibt meist wirkungslos. Beratung findet oft schnell Grenzen, wenn es um innere Verletzungen geht. Vor allem gilt: Gewalt  scheidet mit Sicherheit als Konfliktlösung aus. Hier kann es nur einen Weg nach vorn, zu einem versöhnenden Ausgang geben, wenn sich die eine "Freiheit" angesichts der in ihrer Verletztheit, ja im Nicht-Wollen verstockten "Freiheit" des anderen selbst zurücknimmt, wenn sie ihre berechtigten Ansprüche zurücksteckt,  ihre Erwartungen,  bis hin zur Grenze der "Selbst-verleugnung", um den anderen nach und nach für eine gute "Lösung" des Konflikts zu gewinnen. Freilich: Für Menschen stößt diese Haltung einer "Selbstverleugnung" meist schnell an Grenzen. Menschen sind wohl nicht "groß" genug, um ganz "klein" werden zu können, so wie der christliche Glaube das von Gott aussagt.

Manchmal gelingt gottlob solche Versöhnung zwischen Menschen.  Das ist dann wie ein Wunder. Es gibt sogar so etwas wie "Spitzensituationen", in denen einer bis hin zur eigenen Lebenshingabe für einen anderen eintritt, damit dieser Leben und Zukunft gewinnen kann. Der Franziskaner Maximilian Kolbe hat das im KZ Auschwitz getan, als er freiwillig vortrat und für einen anderen, um ihn vor dem Tod zu bewahren, in den Hungerbunker ging. Aber das ist nicht der Alltag von Gewalt- und Unrechtsüberwindung.

Das Kreuz Jesu als Ursprungsort von Vergebung
Für mich als gläubigen Menschen und als Theologen eröffnet sich angesichts solcher Ü;berlegungen das innere Geheimnis des "Kreuzes" Jesu : Der Unschul-dige steht für die schuldig Gewordenen - so wie auch menschliche Katastrophen manchmal durch das Lebensopfer anderer gewendet werden können hin zu einem Neuanfang und zu einer besseren Zukunft. Ich denke da als Vergleich an das Lebensopfer und die Leiden jener alliierten Soldaten im 2. Weltkrieg, die das deut-sche Volk von der Barbarei des Nazi-Faschismus "erlöst" und unserem Volk insgesamt einen demokratischen Neuanfang ermöglicht haben - freilich nicht ohne unser eigenes (nachträgliches) Mittun.  Denn Erlösung im christlichen Sinn - das ist leider oft nicht im Bewusstsein - ist ja kein magisches Geschehen, das mir irgendwie übergestülpt wird, sondern es ein Ermöglichungsgeschehen, das mir bzw.einem schuldig Gewordenen einen Neuanfang schenkt und der zugleich (!) meine eigene Freiheit respektiert, ja diese aktiviert.

Das Kreuz Jesu (als Chiffre für seine Lebenshingabe insgesamt) ist ja kein tragisches Geschehen, kein göttlicher Verkehrsunfall, der bei besserem Zusammenspiel der Kontrahenten hätte vermieden werden können oder gar (was pervertiertes religi-öses Denken ist) als Konsequenz eines grausamen göttlichen Sühnebedürfnisses. Die Hingabe Jesu (als Repräsentant seines Gottes)  bis zum Äußersten ist "notwendig" (mit großer Vorsicht ist dieses Wort zu gebrauchen), so wie "notwendig" Trotz und Bosheit letztlich nur durch Liebe aufgehoben werden können, eine Liebe, die bereit ist, sich durch nichts erbittern zu lassen, auch nicht durch den schmerzbringenden Widerstand dessen, dem die Liebe gilt. Mütterliche Liebe muss eben manchmal "strapazierfähig" sein.

Vielleicht ist "notwendig" nicht das richtige Wort. Gottes "Größe", die sich "klein" machen kann, ist "mehr als notwendig" (Gerhard Ebeling). Wie immer man sich diesem Gedanken leidensbereiter Liebe nähern möchte: Es bleibt ein Geheimnis, das ratio-nal nicht bis ins Letzte auflösbar ist. Doch bietet die menschliche Erfahrung zumindest ansatzweise ein Verständnis dafür, dass es wahre Erlösung, wirkliches Heilwerden nur durch eine Liebe geben kann, die bereit ist, "schwach" zu werden. Dieser Gedanke ist übrigens nicht nur Eigengut des christlichen Glaubens, sondern breit in der Menschheitserfahrung verankert. Ü;brigens: Vermutlich liegt im Hinweis auf einen "leidensbereiten" Gott eine echte Grunddifferenz in der Gottesvorstellung zwischen salafistischem Islam und Christentum.

Genau hier sind wir bei dem Punkt, auf den es mir ankommt. Es ist ein Paradox, aber doch kein Unsinn, wenn ich sage: Liebe, die ganz stark ist, kann ganz schwach werden. Je stärker eine Liebe ist, desto mehr wird sie ihre alles überragende Kraft durch die Fähigkeit einer unbegreiflichen Schwäche offenbaren. Darauf hat Sören Kierkegaard überzeugend hingewiesen.  Es ist einfach wahr: Je lauter einer mit dem Säbel rasselt, desto mehr offenbart er seine Angst, letztlich seine Schwäche. Wahre Souveränität zeigt sich darin, dass einer seine Macht verbergen, ja nahezu verleugnen kann. Je größer eine Last ist, die ein Träger aufzuheben versucht, desto tiefer muss er sich bücken, desto kleiner muss er sich machen, um unter die Last zu kommen, um sie dann kraftvoll auf seine Schultern zu heben, um sie fortzuschleppen. Die Liturgie lässt Jesus sprechen: "Ich nehme hinweg, ich schleppe hinweg die Sünde der Welt." Das griechische Wort airo heißt: wegtragen, beseitigen durch vorheriges Aufheben.

Nochmals: Unsere menschliche Erfahrung stößt hier an Grenzen des Verstehens. Im rein zwischenmenschlichen Verhalten ist uns eben das, was Gott vermag, nicht möglich. Wir können nur ansatzweise "aufheben", aufzuheben versuchen. Aber es gibt Lasten, die wir nicht wegzuschleppen vermögen: den Verrat des Freundes, die in den Schmutz getretene Liebe, die menschenverachtende Folterung, den Genozid als die Vernichtung eines ganzen Volkes. Fassungslos stehen wir vor der Wirklichkeit unserer Sünde. Sie ist zu schwer für uns. Man muss wohl in diese Tiefen steigen, um wirklich zu ermessen, was wir da hören: "Seht das Lamm Gottes, das aufhebt und wegträgt die Sünde der Welt!" In diese Tiefendimension auch meines in der Sünde gefangenen und dennoch erlösten Lebens lässt mich der christliche Glaube Einblick nehmen. Hier berühre ich aber auch die Quelle, aus der schuldig gewordenes Leben sich erneuern kann.

Ein wichtiger Ort für einen Neuanfang versöhnten Lebens ist für den Christen das Institut der Beichte (das übrigens auch Luther sehr schätzte und die lutherische Kir-che lange beibehielt und praktizierte).

Von der Not und dem Segen der kirchlichen Beichte
Wir wissen um die Schwierigkeiten mit der Beichte. Auch wir Katholiken sind dabei, sie langsam zu vergessen. Wir werden nicht von heute auf morgen mit einer gewaltigen Neubelebung der überkommenen Andachtsbeichte zu rechnen haben. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Geschenk Christi an seine Kirche demnächst wieder neu in seinem wirklichen Glanz aufleuchten wird - als Ort der Versöhnung, des Neuanfangs, als Ort der Gnade, an dem wir ohne Angst vor Beschimpfung und Lächerlich-Machung Lebenslasten und Lebensängste ablegen können.

Vielleicht muss unsere Rede von Gottes Liebe tiefgründiger werden, den Beigeschmack des Billigen, des Niedlichen verlieren. Es ist gefährlich, sich auf diese Liebe einzulassen. Aber es gibt nichts Schöneres, als so brennend und fordernd zugleich geliebt zu werden. Ich denke an die großen Linien der biblischen Verkündigung, besonders bei den alttestamentlichen Propheten: Gottes Liebe ist "eifersüchtig", sie ist wie verzehrendes Feuer, sie nimmt ganz und radikal in Beschlag. Israel kann gar nicht anders, als sich diesem Gott ganz anheimzugeben. Ja, "es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen" (Hebr 10,31) - aber vergleichsweise so furchterregend, wie in steilen Alpenbergen auf schmalen Felswegen über Abgründe hinweg einem Gipfel zuzustreben.

Christliches Leben ist kein Spaziergang. Wer hohe Ziele anstrebt, kann auch tief fallen. Dort, wo Gottes Licht in unser Leben fällt, werden auch die Abgründe tiefer und bedrohlicher. Man spricht von einem Judas-Verrat dann, wenn es zuvor wirkliche Freundschaft gab, echte Lebenstreue. Aber es gibt nichts Schöneres, als das zu erleben: in einer lebenslangen Treue gehalten, in einer selbstlosen Freundschaft bereichert, in einer Liebe "bis zum Äußersten" geliebt zu werden... Der christliche Glaube kennt keine "billige Gnade" (Dietrich Bonhoeffer), keinen harmlosen, niedlichen Gott.

Buße und Umkehrbereitschaft kommen durch die Erkenntnis zustande, nicht richtig, nicht hinreichend genug auf umsonst empfangene, selbstlose Liebe geantwortet zu haben - oder diese sogar mit Füßen getreten, sie verraten zu haben. Darum wussten (merkwürdigerweise!) gerade die Heiligen, dass sie die größten Sünder waren. Wer ganz im Licht steht, sieht schärfer die Schatten! (Dieser Satz gilt auch umgekehrt: Wer keinen Schatten sieht, steht vielleicht nicht im Licht!) Das ist die Gabe Gottes in der Beichte: Ich erfahre, dass da jemand auf mich wartet, der Schuld aufheben und Versöhnung bewirken kann. Diese Grundbotschaft des christlichen Glaubens ist (übrigens auch literarisch beeindruckend) im Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) auf den Punkt gebracht.

Natürlich kann man sagen: Irgendwie "zu Hause" war der verlorene Sohn auch schon "bei den Schweinen", als er den Entschluss der Rückkehr fasste und sich zum Vater aufmachte. Da erkannte er nämlich, wie sehr er geliebt war und bleibend geliebt ist. Doch es gehört eben dazu, dass er - dem der Vater schon längst verziehen hatte - das Bekenntnis auch selbst ausspricht: "Vater, ich habe gesündigt..." und dann die Seligkeit erfährt, wieder in die Arme genommen zu werden.

Warum eigentlich die eigene Schuld aussprechen?
Vielleicht kann man mit dem Hinweis auf dieses Gleichnis ein verbreitetes Missverständnis beseitigen, das so sagt: Warum braucht es eigentlich das Bekennen von Schuld, die "Beichte", wenn Gott doch längst schon vorher verzeiht, auch außerhalb des sakramentalen Zeichens?

Hierauf möchte ich zweifach antworten. Zum einen: Sakramente machen ausdrücklich, was Wirklichkeit ist. Ich erwarte ja auch am Geburtstag ein Geschenk, obwohl ich weiß, dass meine Frau, mein Mann, die Kinder mich gern haben. Sakramente sind Besiegelung, Bekräftigung dessen, was Gott an mir ein für allemal getan hat - weil er eben in mir Jesus, seinen "Sohn" liebt. Wenn es nicht zu sentimental klingen würde: Das Bußsakrament ist für mich  ein "Liebes-Zeichen", und wer verzichtet schon gern darauf, Zuwendung und Liebe gezeigt zu bekommen? In den Zeichen kommt ja die Wirklichkeit des Bezeichneten zum Tragen. (Die Linguisten reden von "performativen" Zeichen.)

Und zum anderen: Sakramente empfange ich immer auch für andere. Der verlorene und angenommene Sohn soll seinem daheimgebliebenen, aber verbitterten Bruder zu einem tieferen Begreifen seiner Situation verhelfen. Seine Annahme durch den Vater soll diesem zeigen, dass auch er, der niemals von zuhause ausgerissen war, sich "verdankt" wissen darf.

Wir wissen: Im Gleichnis verweigert sich der Daheimgebliebene. Das wird offenbar durch die Rückkehr des Verlorenen. Diese Rückkehr ist also etwas, was auch den anderen Bruder angeht. Das Geschehen der Rückkehr und des Neuanfangs ist auf der Bildebene der Erzählung nicht nur ein Geschehen zwischen Vater und verlorenem Sohn. Aber das ist es auch nicht in der gemeinten Sache. Jede "Umkehr", die in Versöhnung mündet, betrifft auch andere. Sie verändert die Welt. Sie ist Anfang einer neuen Schöpfung.
 
Theologisch gesprochen: Sakramente haben eine Dimension des Sozialen, besser: eine ekklesiale Dimension. Sie sind Zeugnisse, die sprechen. Ich werde getauft - nicht nur für mich allein; zu einem Dienst geweiht - nicht für mich, sondern für andere; getraut - damit andere der Liebe und dem Leben "trauen" können; und eben: Mir wird in der Beichte "vergeben" - damit ich nun bezeugen kann, was Versöhnung und Angenommen-Sein heißt und wie es sich auswirkt, wenn einer nicht um sich selbst kreisen muss, sondern sich wieder befreit den Mitmenschen zuwenden kann. Wir müssen, seelsorglich geurteilt, die Sakramente aus der Ecke des "Privaten" herausholen, in die sie z. T. geraten sind, besonders auch die Beichte. - Ein letztes Stichwort:

Trotz allem: Versöhnungshelfer werden
Vielleicht war meine Ü;berlegung bezüglich der Möglichkeit, anderen bei Wegen der Versöhnung und des Neuanfangs zu helfen, etwas zu pessimistisch. Das möchte ich so nicht stehen lassen.  

Manchmal gelingt es doch einem guten Freund, einer guten Freundin, bei Zerstrittenen die Tür zur Versöhnung einen Spalt weit zu öffnen. Gerade wenn man sich so richtig in eine Verbitterung hinein verrannt hat, kann einer mit einem vorwurfsfreien Wort helfen, aus Sackgassen heraus zu finden. "Du hast es doch gar nicht nötig, so verbiestert zu sein!"  oder: "Schau mal, wie es wirklich zwischen euch steht!"  oder: "Erinnere dich doch einmal daran, wie es früher zwischen euch war!"

Ich gebe freilich den "Versöhnungshelfern" zwei Ratschläge mit auf den Weg.
•    Es gilt, dass die Kontrahenten sich vor allem ihrer eigenen Wirklichkeit stellen, ihrer eigenen Schuld, auch wenn diese oftmals ein Gemenge von Licht und Schatten ist, von Gewolltem und Nichtgewolltem, von echter Schuld und schwächlichem Sich-Treiben-Lassen. Aber eben diese Grautöne gehören auch zu meiner Biographie - und zu der des anderen. Es gilt anzuerkennen, dass es so ist. Es gilt, von falschen Podesten herab-zusteigen.
•    Falls ein religiöser Anknüpfungspunkt vorhanden ist, rate ich dazu, den Blick der Streitenden auf die verlässliche Barmherzigkeit Gottes zu lenken. Dazu kann die Beichte eine Hilfe sein. Die sakramentale Lossprechung ist ja mehr als ein noch so guter menschlicher Ratschlag. Sie schafft die Realität der Vergebung. Sie ist die "Umarmung", die den Neuanfang ermöglicht. Ich bin froh, nicht in Illustrierten oder Talkshows beichten zu müssen. Da ist sehr ungewiss, ob man eine Lossprechung erhält. Dort wird meist viel geredet, aber nicht vergeben. Selig, wer immer wieder neu diese Zusage hören darf: "Gott hat vergeben. Geh hin in Frieden!"

An dieser Stelle öffnet sich für mich der Anfang für eine wirkliche, in die Tiefe der eigenen Biographie vordringende Aufarbeitung von Schuld. Auch wenn einem Anfang bekanntlich noch manches andere zu folgen hat ...

02.03.2015