Vorabend

In der Adventszeit werde ich zur Fundamentalistin. Alles muss so sein, wie es immer war. Und zwar genau so. Und wer es anders macht, hat diese Jahreszeit nicht verstanden.
Engel? Nur die aus dem Erzgebirge.
Stern? Natürlich der selbstgefaltete aus Herrnhut!
Das Wichtigste, der Baum: schlichte Strohsterne, ein paar Kugeln in Rot und selbstverständlich richtige Kerzen, aber nur die gelben aus echtem Bienenwachs.
Die Angst meines Mannes vor einem Wohnungsbrand lächle ich einfach fort.
Die glänzenden Augen des Kindes, wenn es Tannenbäume sieht, die glitzern und funkeln? Ignoriere ich und lese beharrlich vor, wie die in Bullerbü Weihnachten feierten, natürlich mit Strohsternen und ohne Lametta.
Doch diese Rolle gefällt mir 2016 nicht mehr.
Ich gestatte dem Kind ja auch sonst seinen eigenen Geschmack. Kaufe bunte Pferdchen, pinke Rüschenröckchen und leuchtenden Klimperschmuck.
Dann auch noch der Vorwurf des Mannes, meine Kindheitserinnerungen seien mir wichtiger als seine Ängste. Ü;bernommen von seinem Vater, bei dem nicht mal ein Teelicht brennen darf. Wofür es einen traurigen Grund gibt.
Ausgerechnet in der Adventszeit werde ich zur hohen Richterin über den wahren, den richtigen, und den falschen, den schlechten Geschmack. Angetrieben von meiner eigenen Angst, der vor Veränderung? Sagte nicht Wolf Biermann: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu"?
Darum wage ich es in diesem Jahr - und lege es nieder, das Zepter der gestrengen Zeremonienmeisterin.
Und bin gespannt, was sie uns beschert, die kommende Zeit.                                        ALEXANDRA BOUCSEIN


Aus: Kalender "Der Andere Advent, 2016/2017. Hamburg: Andere Zeiten e.V., www.anderezeiten.de

25.11.2016