"Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!"

Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der Antoniuswallfahrt


Der heilige Antonius
von Padua bei der Predigt
Dass man nicht "missionieren" darf, gehört zu den Grundüberzeugungen des Zeitgeistes, zumindest in unseren Gegenden. Ü;ber manchen Briefkästen kann man den Hinweis lesen: "Bitte keine Werbung einwerfen!" Mission wird gleichgesetzt mit lästiger Werbung, vor der man sich schützen müsse. Das hätte den hl. Antonius, in seiner Zeit ein begnadeter Prediger und Verkünder des christlichen Glaubens, sehr verwundert. Er hat den Missionsbefehl Christi ernst genommen: "Geht in alle Welt und verkündet das Evanglium allen Geschöpfen!" (Mk 16,15). Gilt diese Aufforderung auch für uns heute?


Wer ein Jünger Jesu sein will, muss das Evangelium verkünden.

Fragen wir zunächst: Was meint das eigentlich - Evangelium ?



1. Das Evangelium - die Einladung in die neue Welt Gottes


Evangelium ist die Botschaft vom Ostersieg Christi über Sünde und Tod. Jesus verkündet nicht nur das Evangelium, er ist das Evangelium, in seiner Person, in seinem Leben, Sterben und Auferstehen. Das Evangelium verkünden heißt also: Jesus bekannt machen. Genauer: das, was er bewirkt, was er für uns Menschen an Veränderung gebracht hat.


Evangelium ist die Ansage eines grundlegenden Machtwechsels, einer "Wende", für die die letzte politische Wende in unserem Land nur eine schwache Analogie ist. Durch Jesu Ostersieg sind alle gottfeindlichen Mächte und Gewalten aus ihren angemaßten Machtpositionen vertrieben. Der Auferstandene ist zum Herrn über alle Welt und ihre Geschichte eingesetzt.


Jesus selbst spricht in seiner Verkündigung vom kommenden und schon jetzt angebrochenen Reich Gottes. Ü;berall, wo Gottes Herrschaft anerkannt wird, beginnt etwas Neues, eben: das Reich des Vaters. Auch wenn das endgültige In-Erscheinung-Treten des Gottesreiches noch aussteht, bestimmt es doch schon die Gegenwart.


Das gibt es ja: Es gibt Wirklichkeiten, auf die man schon "im Vorgriff" leben kann, so wie ein Wintersportler schon im Sommer für die Wettkämpfe im Winter trainieren wird. Oder so ähnlich, wie osteuropäische Staaten in den Jahren vor dem Beitrittsjahr 2004 sich schon auf den kommenden Einritt in die Europäische Union vorbereitet hatten. So ähnlich ist das mit unserem Christsein: Es ist ein "Leben aus dem Vorgriff" auf das, was sicher bevorsteht: Gottes Herrschaft, sein Himmel.


Diese Herrschaft Gottes hat schon angefangen. Gott hat schon durch das Kommen Jesu, in seinem Sterben und Auferstehen die Welt endgültig und für immer in das Osterlicht getaucht. Diese Botschaft ist ein geschichtsmächtiges Faktum, bis in unsere Tage. Dieses Evangelium veränderte nicht nur Kulturen, es veränderte Herzen. Das Evangelium macht aus alten Menschen neue.


Freilich: Noch stehen wir "im Kampf", wie Paulus sagen würde. Wir sind noch nicht in die Himmel versetzt. Wir sind noch auf dem Weg durch die Wüste. Aber: Der Kampf um Heil oder Unheil meines Lebens ist schon positiv von Gott entschieden. Sein Reich ist unaufhaltsam am Kommen.


Diesem Evangelium trauen ist eine Welt- und Lebenssicht, die alles in ein neues, österliches Licht taucht. Dem Evangelium folgen bedeutet so etwas wie eine Horizonterweiterung für das Leben des Menschen. Evangelium meint die innerste Zielorientierung für mein persönliches Navigationssystem, das wir Glauben nennen.


Daraus ergibt sich aber auch Folgendes: Niemand wird als Christ geboren. Jeder Mensch, der in die Welt kommt, muss für sich selbst, ganz persönlich, Christ werden, das "Licht" aufnehmen, wie es im Johannesprolog heißt, um so Kind Gottes werden zu können. Die Geschichte des Christentums fängt gleichsam in jeder Generation, mit jedem Menschen neu an. Auch wir, die wir als Kleinstkinder getauft und christlich erzogen wurden, auch wir mussten und müssen ständig fragen, was unser Getauftsein eigentlich bedeutet. Wir müssen immer wieder neu diese Grundentscheidung des Herzens treffen: Wem will ich gehören? Gott - oder den Mächten und Gewalten dieser Welt, die mit uns machen, was sie wollen?


Jetzt haben wir die eigentliche Tiefe dieses so harmlos daherkommenden Wörtchens Evangelium ausgelotet. Das Evangelium ist letztlich Jesus Christus selbst, die Begegnung mit ihm, der von Gott gekommen ist und dennoch ganz unser Menschenbruder bleibt. So gesehen ist das Evangelium Jesu Christi und unsere Antwort darauf die Mitte unseres Christseins. Es ist in der Tat so etwas wie eine grandiose Orientierung für unser Leben. Es ist Licht von oben, Stimme, die vom Himmel her Wegweisung gibt. GPS des Heiligen Geistes! Das wollen wir noch ein wenig näher bedenken.



2. Das Evangelium - ein Licht für uns (Getaufte und Gefirmte)


Jesus sagt einmal: "Kann ein Blinder einen Blinden führen?" (Lk 6,39). Man muss selbst erst einmal in die Wanderkarte hineinschauen, um anderen den richtigen Weg zeigen zu können. Man muss selbst erst einmal etwas gesehen haben, ehe man andere auf etwas Sehenswertes aufmerksam machen kann.


Was meine ich damit? Unsere Ü;berlegungen für die Aufgabe, missionarische, auskunftsfähige Kirche zu werden greifen zu kurz, wenn wir nur ein Schwarz-Weiß-Schema haben: hier wir Getaufte und Gefirmte - und auf der anderen Seite die anderen, die das Evangelium nicht kennen. Natürlich ist daran etwas Richtiges. Aber dieser Gegensatz wird sofort irreführend, wenn wir meinen: Das Evangelium sei uns näher als den anderen. Das stimmt nicht.


Es gibt eine prinzipielle Offenheit aller Menschen für Gottes Anruf. Christi Ostersieg ist ja für alle errungen und Gottes Heilswille umschließt alle Menschen. Das ist Grundüberzeugung der Kirche von Anfang an. Darum hat die Kirche sich niemals zur Sekte machen lassen, zu einem Zirkel der Besserwissenden, die sich hochmütig von der Masse der anderen absetzt oder mit ihr nichts zu tun haben will.


Wir Christen sind nicht besser als unsere Mitmenschen. Aber wir haben es besser. Wir haben in unseren Händen - im Bild gesprochen -, was andere nicht haben, eine sehr präzise Wanderkarte, die das Lebensterrain im Ü;berblick zeigt und die gangbaren Wege zu dem alles entscheidenden Ziel.


Das ist übrigens für mich das entscheidende Argument, warum Auskunftsfähigkeit im Glauben nicht notwendig einen hundertprozentigen persönlichen Heiligenschein voraussetzt. Auch der Kranke kann einem anderen Kranken sagen, wo er den Arzt findet und die helfende Therapie. Zum Arzt hingehen muss freilich jeder selbst.


Wir sehen also: Das Evangelium ist nicht einfach so in unsere Verfügung geben, dass wir es wie eine Tablette weiterreichen könnten. Wir bedürfen selbst dieser Medizin, dieser Speise, dieser Lebensorientierung vom Wort Gottes her - und zwar ständig und ohne darin zu einem abschließenden Ende zu kommen.


Daraus folgt für mich: Zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden kann es nur ein Verhältnis existentieller Solidarität geben. Hilfsbedürftig vor Gott sind alle Menschen. Aber uns Glaubenden hat Gott die Gnade geschenkt, dass wir 1. unsere Hilfsbedürftigkeit einsehen und vor allem 2. wissen, woher uns Hilfe kommen kann. Daraus ergibt sich nun unsere Aufgabe:



3. Das Licht des Evangeliums zum Licht für alle (zu) machen


Wie kann das gehen?


Unseren Mitmenschen soll die Größe ihrer eigenen Berufung durch Gott aufgehen. Sie sollen Anwärter seines Reiches werden, Schüler des Evangeliums, Menschen, die erkennen, dass wirkliche Rettung aus dem Tod und wirkliche Befreiung von Lebensschuld nur von Gott her kommt.


Darum gilt es sich zu mühen: Menschen mit Gott in Berührung zu bringen, mit dem Evangelium Jesu Christi, mit dieser österlichen Lebenssicht, aus der wir selbst zu leben versuchen.


Manchmal fragen Christen, was ihr Glaube an Christus denn Besonderes sei. Mühen sich andere Menschen nicht auch um ein anständiges Leben? Leisten sie denn nicht auch Vorbildliches in Alltag und Beruf? Der Apostel Paulus würde antworten: Ja, aber sie vergessen dabei den Dank. Von Chesterton, einem berühmten englichen Literaturkritiker um 1900, stammt das Wort: Es ist das Unglück der Atheisten, dass sie niemandem danken können.


So manche Menschen treibt insgeheim die Angst um, ihr Leben werde mehr und mehr sinnlos, besonders, wenn die aktive Lebensphase sich dem Ende zuneigt. Ich werde nicht gebraucht, die ersten ernsten Krankheiten melden sich, die Freunde und Bekannten sterben weg. Es wird rings um einen einsamer. Da fragen sich manche: Was soll eigentlich mein Leben? Macht es noch Sinn? Ich vermute, auch das manchmal geäußerte Verlangen nach Sterbehilfe hat hier seinen Ursprung. Man sieht eigentlich keinen Grund mehr, für das Leben zu danken.


Paulus schreibt einmal, als er sich fragt, warum er eigentlich so rastlos als Apostel tätig ist: "Alles tun wir euretwegen, damit immer mehr Menschen aufgrund der überreich gewordenen Gnade den Dank vervielfachen, Gott zur Ehre" (2 Kor 4,15).


Wir Christen bringen in diese Welt die Dankagung an Gott ein, die große Lebenseucharistie, hier am Altar und in der Liturgie unseres Alltags. Darum, um diese Anstiftung zur "Danksagung" bemühe ich mich hier in diesem Land als Bischof mit unseren Priestern und Seelsorgern.

  • Aber dazu trägt jede Mutter, jede Großmutter bei, die ihr Kind, ihr Enkelkind beten lehrt,
  • Dazu trägt bei, wer einsame Menschen besucht und sie nicht mit sich und ihren Zweifeln und enttäuschten Hoffnungen allein lässt.
  • Dazu trägt bei, wer einem abständigen Christenmenschen, der sich alleine nicht traut, hilft, wieder in die Pfarrgemeinde hineinzufinden,
  • Oder der durch kleine Zeichen, etwa das Tischgebet, ein Segenswort an die Gottesgegenwart erinnert unter Freunden, in der Ehe, in der Familie, bei Festen und Gedenktagen.
  • Dazu trägt bei, der sich gegen die Miesmacherei und Nörgelmentalität unserer Tage auch einmal öffentlich zu Wort meldet und sagt, dass wir alle miteinander Grund haben zum Danken - auch für viele gute irdische Gaben.

Ja, möglichst viele Menschen sollen durch uns Glaubende und Getaufte entdecken, dass sie Grund haben zum Danken, auch in Lebensabschnitten, in denen wir es nicht leicht haben. Christen wissen, dass sie sich in einem letzten und tiefsten Sinne "verdankt" wissen dürfen. Wir geben letztlich nur weiter, was wir selbst empfangen, und zwar immer wieder neu von Gott her empfangen - Hoffnung auf ewiges, unzerstörbares, von bleibender Freude umfangenes Leben.


Dankbarkeit ist ein anders Wort für Glauben. Wer im Danken nicht nachlässt, der hat das Evangelium verstanden. Er kann zum Zeugen des Evangeliums werden.


Unsere kirchenferne Gesellschaft ist durchaus ein offener Ackerboden für das Saatkorn des Evangeliums. Das ist der Wunsch vieler unserer Zeitgenossen: nicht ein beliebiges, austauschbares Produkt anonymer Gesetzmäßigkeiten zu sein. Sie wollen eine von außen kommende Stimme hören, die wirklich sie selbst meint. "Du bist angenommen!" "Du bist gewollt!" "Du bist von Gott geliebt!" Wo gibt es Menschen, die das im Namen des Evangeliums anderen zu sagen wagen?


Die Heiligen haben das gewagt, etwa auch zu seiner Zeit der hl. Antonius, der große Jünger des hl. Franziskus. Antonius ist für mich einer der menschlichsten Heiligen. Er weiß, wie schlimm es ist, wenn man etwas verloren hat - den Schlüsselbund, den Geldbeutel, den Ausweis. Er weiß vor allem, wie schlimm es ist, wenn man Gott verloren hat. Er ist der Heilige, der finden hilft - die irdischen Dinge und noch mehr den Schatz unseres Lebens: das Evangelium unserer Rettung, Jesus selbst, den für uns Gestorbenen und Auferstandenen.


Erbitten wir vom hl. Antonius zuallererst für uns selbst dieses vertiefte Wiederfinden Gottes, die immer neue Umkehr zum Evangelium, zum Osterglauben, dann werden auch heute Menschen durch uns neu zu Gott finden. Amen.



Gehalten am 17. Juni 2007 in Worbis



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