Vergesst den Einzelnen nicht

Bischof Wanke im TLZ-Gespräch: Menschliche Lösungen der anstehenden Probleme suchen


Foto: TLZ/Peter Michaelis
Bischof Wanke: Menschliche Lösungen der anstehenden Probleme suchen

(BiP). Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das Bischof Joachim Wanke der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) gegeben hat und das am 22.2.2007 veröffentlicht wurde:


Der Staat darf den Einzelnen nicht aus dem Auge verlieren. Diesen eindringlichen Appell richtet Erfurts katholischer Bischof Joachim Wanke an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft. Wanke äußert sich im TLZ-Interview anlässlich der Eröffnung der Vortragsreihe über die sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen. Die Reihe des Katholischen Forums wird von der TLZ mit präsentiert.


Welche Erwartungen haben Sie an die zahlreichen Veranstaltungen rund um das Elisbeth-Jahr in Thüringen?


Eine historische Persönlichkeit wie Elisabeth von Thüringen, von der uns immerhin acht Jahrhunderte trennen, kann zu uns nur sprechen, wenn ihre Biografie auch Anliegen der heutigen Zeit berührt. Und in diesem Fall muss festgestellt werden: Elisabeths Lebensprogramm ist hochaktuell.


Was meinen Sie?


Ich denke an das Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, von eigener Freiheit und Solidarität mit den Schwachen. Ich erhoffe mir, dass diese gesellschaftliche Spannungen ins Bewusstsein treten. Elisabeths Beispiel mahnt uns, menschliche Lösungen der anstehenden Probleme zu suchen.


Elisabeth hätte es heute sicherlich mit ihren radikal-sozialen Auffassungenschwer. Sie würde nicht unbedingt im Mainstream schwimmen.


Das ist richtig. Aber Elisabeth ist keine Fanatikerin. Fanatismus schreckt nur ab. Elisabeths Radikalität wächst dagegen aus der Wurzel ihrer Gottes- und Menschenliebe. Das ist eine Entschiedenheit, die nicht rücksichtslos gegen andere ist, sondern sich selbst ganz in die Pflicht nimmt. Ihre Gottesliebe bewährt sich in der Menschenliebe. Die Klarheit dieses Profils zieht Menschen an.


Das soziale Engagement Elisabeths wird gerne hervorgehoben. Es gibt aber noch eine andere Dimension.


Grundlage ihrer menschenfreundlichen Art zu handeln ist ihr Christusverhältnis. Auch war sie von den Anliegen und Idealen der franziskanischen Armutsbewegung durchdrungen. Beides gehört zusammen: die religiösen Quellen, die ihr Engagement hervorbringen, und ihre Praxis, die ihre Gottesliebe stärker werden lässt.


Was hat uns Elisabeth heute zu sagen?


Wir brauchen einen Staat, der den Einzelnen nicht aus den Augen verliert. Hier sehe ich den stärksten Impuls des Elisabethjahres. Natürlich gibt es unterschiedliche Sozialtheorien. Die einen plädieren für mehr Eigeninitiative, nur dadurch sei Hilfe für alle möglich, sagen sie. Die anderen wollen mehr Sozialstaat für alle. Als Seelsorger und Bischof kann und will ich mich nicht in alle Detailfragen einmischen. Aber ich möchte betonen: Vergesst den einzelnen Menschen nicht! Es gibt Leute, die in unserer Gesellschaft nicht mithalten können. Natürlich leben wir vom Einsatz der Tüchtigen, die ihrerseits Raum zur Entfaltung brauchen. Da entsteht eine Spannung. Doch ich sage ganz klar: Eine Gesellschaft, die zehn Prozent der Bevölkerung abschreibt, verdient nicht mehr das Attribut menschlich.


Hier sind wir genau bei der Prekariats-Debatte. Ist das, was Sie beschreiben, nicht schon längst eingetreten?


Es gibt ohne Zweifel Leute, die nicht mitkommen: Fortschrittsverlierer. Viele sind nicht in der Lage oder haben nicht die Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu organisieren. Hier muss gesellschaftliche Hilfe greifen. Ich denke an die Kinder, die Behinderten; die Alleinerziehenden und andere. Deren Teilnahme am gesellschaftlichen Leben muss abgesichert bleiben.


Macht es Ihnen Sorge, dass in Thüringen mehr als 20 Prozent der Kinder von Sozialhilfe leben, also in Verhältnissen, die der Kinderschutzbund als Armut bezeichnet?


Armut ist ohne Zweifel auch ein finanzielles Problem, aber nicht nur. Es gibt auch andere Formen der Armut. Armut an sozialer Kompetenz beispielsweise, Armut an Beziehungsfähgikeit. Menschen finden keine Annahme, werden nicht gehört. Deshalb macht es mir schon Sorge, dass man gerade bei Kindern und Jugendlichen manchmal eine geistige und menschliche Verwahrlosung feststellen kann. Natürlich ist es die erste Pflicht der Eltern, hier gegenzusteuern. Aber Hilfen von außen gerade für überforderte Eltern wäre ein Segen.


Die caritativ tätigen Organisationen klagen, dass ihnen die Mittel gestrichen werden.

Wir brauchen einen klaren Abwägungsprozess: Was sind uns unsere Kinder wert?

Diese Zuschüsse sind ja keine Almosen der Gesellschaft. Was hier versäumt wird, kann später noch viel kostenintensiver werden. Deshalb appelliere ich, gerade bei den Kindergärten, bei den Kinderheimen, bei den Beratungs- und Hilfsdiensten für Kinder und Familien nicht zu sparen. Lieber sollte man den Rotstift in anderen Bereichen ansetzen. Nicht jede Straße muss mit neuen Laternen üppig ausgeleuchtet sein.


Im vergangenen Jahr haben Fälle von Kindesvernachlässigung und Kindstötungen aufgeschreckt. Es gibt in Thüringen ein Kinderschutzkonzept des Landes, gestern hat es eine Kinderschutzkonferenz gegeben. Müssen diese Ansätze noch verstärkt werden?


Wir werden solche schrecklichen Einzelfälle, die uns alle bewegen und unser Mitleid hervorrufen, nie völlig verhindern. Sie sind die Spitze eines Eisberges von gestufter Verwahrlosung. Werden solche Fälle, nicht selten sind es ja sogar Verbrechen im strafrechtlichen Sinn, bekannt, müssen wir sie auch als eine Art Forderung - mit Ausrufezeichen - an uns verstehen: Werdet sensibler und seid wachsam! Seht in eurem näheren Lebensumfeld, in der Nachbarschaft, in der Kommune, genau hin! Nur so wird die Isolation des Einzelnen aufgehoben, werden die Mentalität des Wegschauens, die Einstellung "Das geht mich doch nichts an" aufgebrochen.


Die Thüringer Werke der Barmherzigkeit sind entstanden durch eine von Ihnen initiierte Befragung.


Wir haben im Bistum gewissermaßen an der Basis und vor Ort Menschen gefragt, wie sie heute Barmherzigkeit definieren. An den Ergebnissen ist für mich interessant, dass die Erwartungen auf der persönlichen Ebene bzw. ans Zwischenmenschliche formuliert wurden: Mir hört niemand zu, ich bin so allein, nach mir schaut keiner, ich bin sowieso abgeschrieben. Hier spürt man Not, der nicht allein durch staatliche Initiativen abgeholfen werden kann.


Ein Appell an jeden Einzelnen?


Ohne Zweifel. Wir dürfen nicht alles vom Staat erwarten, der in seiner Leistungsfähigkeit begrenzt ist. Er kann den Rahmen festlegen, aber der Einzelne muss diesen Rahmen ausfüllen. Doch ich sehe eine große Bereitschaft, Menschlichkeit substanziell zu stärken. Darüber kann man sich nur freuen.


Die Christen sind so etwas wie der Sauerteig in der Gesellschaft, um dieses Ziel zu befördern?


Wir können von unserem Selbstverständnis her wichtige und wertvolle Anregungen geben. Aber wir sollten nach Verbündeten suchen, Koalitionen bilden. Ich weiß, dass es genug Menschen gibt, die bereit sind, sich einzusetzen. Das fängt im Kleinen an: "Ich gehe ein Stück mit dir" kann beispielsweise heißen, jemanden zu unterstützen, die vom Sozialstaat gegebenen Möglichkeiten auch auszuschöpfen, indem man beim Ausfüllen der manchmal doch arg komplizierten Formulare hilft. Hier unmittelbare Hilfe zu leisten, ist ein Werk der Barmherzigkeit in der heutigen Zeit.


Welches von den sieben Werken ist Ihnen besonders wichtig?


Ich bete für Dich. Wer für jemanden betet, wird sensibler für den anderen. Beten verändert das Leben, die Einstellung, das Handeln. Es hebt das Miteinander der Menschen in eine neue Dimension. Geschwisterlichkeit kann wachsen, wenn man weiß, wir gehören alle zu dem einen Gott. Die Verknüpfung vom Wissen um Gottes Liebe zu den Menschen und meinem eigenen Engagement, bringt Nachhaltigkeit und führt uns auf die Spur, in der auch die

Heilige Elisabeth gegangen ist.


Sie haben beim Elisabeth-Empfang im vergangenen Jahr die Werke der Barmherzigeit heruntergebrochen auf die Ebene der Politiker. Wie haben die reagiert?


Was jeder Einzelne denkt, weiß ich nicht. Aber es ist verstanden worden, dass politisches Handeln immer auch eine mitmenschliche Dimension hat. Hanna Arendt hat gesagt: Politik ist praktische Nächstenliebe. Eine gute Politik macht unser Leben menschlich und hilft, dass jeder sich selbst entfalten kann.


Bitte vollenden Sie diesen Satz: Das Elisabethjahr ist eine Chance für Thüringen, weil...


... das Grundwasser der Barmherzigkeit notwendig ist, um auf Dauer in Frieden miteinander zu leben.


Was würden Sie sich wünschen, sollte am Ende des Elisabethjahres stehen?


Der größte Erfolg wäre für mich, wenn wir es schaffen, das neu Entdeckte auf Dauer auch in den Alltag unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens mit einzubringen. Vieles von dem, was wir in diesem Jahr wieder neu versuchen, sollte Normalität werden.


Interview: Hartmut Kaczmarek

www.tlz.de