Ein Leitartikler der Wochenzeitung "Die Zeit" , Bernd Ulrich kommentierte jüngst den Wahlsieg des sich in der Öffentlichkeit religiös outendenden amerikanischen Präsidenten. Er kam dabei zu bemerkenswerten Einsichten. Ich zitiere: "Wir Deutschen und mit uns ein Teil der Europäer sind in Sachen Religion und Öffentlichkeit Exoten. Grob geschätzt 5 Milliarden Menschen sehen die Sache entspannter!" Und weiter: "Glaubensferne ist ein Minderheitenprogramm, eher eine Episode in der Geschichte als ihr Ziel- und Endzustand." Alle Achtung! Wir fangen langsam an zu merken, dass nicht die anderen, sondern dass wir provinziell sind!
Damit möchte ich nicht sagen, Religion sei problemlos. Was ich sagen möchte, ist dies: Deutschland sollte sich wieder auf seine Religion besinnen - die Religion der hl. Elisabeth. Darum habe ich für den heutigen Abend diesen Text der Hl. Schrift ausgewählt: das Hohelied der Liebe aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther.
Umfragen sind heute sehr beliebt. Angenommen, man hätte das schon im 13. Jahrhundert gemacht: Elisabeth hätte sich sehr gewundert, wenn sie damals gefragt worden wäre: Sind Sie religiös? Vermutlich hätte sie diese Frage überhaupt nicht verstanden. Das lag sicher daran, dass damals die Religiosität eine Selbstverständlichkeit war - auch für jene, die nur selten in die Kirche gingen. Aber Elisabeth hätte nicht verstanden, was ein Leipziger Jugendlicher bei einer Umfrage geantwortet haben soll. Auf die Frage: "Bist du religiös?" antwortete er: "Religiös? Ich bin nicht religiös. Ich bin normal!"
Vermutlich hätte Elisabeth so auf die Frage geantwortet: "Ob ich religiös bin, weiß ich nicht. Aber das eine weiß ich: Ich kann nicht anders - als lieben!"
Damit kommen wir zum Kernpunkt dessen, was christliche Religion meint: Sie ist Einladung zur Liebe - zur Liebe, die auf Gottes Liebesofferte antwortet, zur Liebe, die jene liebt, die Gott in seine Liebe einschließt - den Mitmenschen, den Nächsten.
Mit Paulus können wir sagen: "Was nützt es uns, religiös zu sein, wenn wir die Liebe nicht haben!" Wir wären "dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke" oder wie Luther übersetzt "... eine klingende Schelle". Alle Erkenntnis und Weisheit und Frömmigkeit werden uns nichts nützen - ohne die Liebe. Eine kühne, gewaltige Aussage, die wir am heutigen Abend wieder recht bedenken sollten. "Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts."
Vielleicht sollten wir deshalb so sagen: Was unsere Gesellschaft braucht, ist nicht in erster Linie Religiosität - die kann zwiespältig bleiben. Auch Talibane sind religiös. Was unsere Gesellschaft braucht, sind liebende Menschen.
Ist unser Text nicht ein Spiegel, in den auch Politiker (noch mehr Seelsorger und Bischöfe) schauen sollten?
"Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig und sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach."
Kann man solche Worte mit der Frage zusammenbringen, wie man sich in Kommunen, Landtagen und Bundestagen zu verhalten hat?
"(Die Liebe) freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit."
Es mag schon sein: Ein Politiker (übrigens auch ein Bischof) braucht nicht alles zu glauben - aber er soll "alles hoffen und allem standhalten".
Ein großartiger Text - ich empfehle ihn Ihrem abendlichen Gebet - und wer nicht beten kann, möge ihn besinnlich und offenen Herzens einfach lesen und meditieren. Was von uns einmal Bestand haben wird, ist die Liebe - jene, mit der wir geliebt wurden und jene, die wir verschenkt haben!
In Erfurt haben wir ein Kabarett. Eines der letzten Programme entließ das Publikum mit diesen Worten: "Wir kommen aus dem Nichts - und wir gehen in das Nichts. Eigentlich fehlt uns nichts!" Höflicher Applaus! Ob die Leute merken, was sie da eigentlich beklatscht haben?
"Wir kommen aus einer Liebe und sind für eine bleibende Liebe bestimmt. Wenn uns die Liebe fehlt, fehlt uns alles, fehlt uns das Menschsein!" Jetzt haben wir das Niveau der hl. Elisabeth erreicht. Das hätte sie verstanden, weil sie wusste: Ob Landgräfin oder nicht, ob in Reichtum oder in Armut, ob anerkannt oder geschmäht und verleumdet: Was unser Leben wertvoll macht, ist die Liebe. Denn - "die Liebe hört niemals auf".
Was wird nicht alles aufhören! Von der Gesundheitsreform wird in fünfzig - in zwanzig Jahren keiner mehr reden. Nicht, dass sie unwichtig wäre, aber was wirklich bleibt, ist, dass sich die Menschen für andere und für deren Zukunft einsetzen. Nennen Sie es Solidarität, nennen Sie es politische Verantwortung, nennen Sie es engagierter beruflicher Einsatz, der eigentlich selbstverständlich ist - ich nenne es Liebe, weil jedes Tun, das einem anderen Zukunft eröffnet, eine Form der Nächstenliebe ist.
Denken Sie manchmal, wenn Sie bis spät in die Nacht in Kommissionen sitzen oder - wenn die Kinder schlafen - am Schreibtisch Ihre Unterlagen studieren: Warum tue ich das eigentlich? Weil ich daran glaube, dass mein Einsatz, meine Mühe, mein Beitrag für das Leben und die Zukunft anderer nicht umsonst ist: Das alles ist aufgehoben bei Gott, dem im Tiefsten mein Lieben antwortet - ob ich es weiß oder nicht. Besser ist es freilich, man kennt den, dem man für etwas danken kann.
Auch im Lieben gibt es so etwas wie eine Kindheit und ein Reifen zum Erwachsen-Werden. Das sage ich zum Trost allen, die mit Gott nichts so Rechtes anzufangen wissen. Paulus sagt: "Jetzt (gleichsam wie Kinder) schauen wir in einen Spiegel und
sehen nur rätselhafte Umrisse. Dann aber (wenn wir das Reifealter im Himmel erreicht haben) dann schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt (auf Erden, im Alltagsgeschäft unserer Aufgaben) erkenne ich unvollkommen, dann aber (in der Ewigkeit) werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch (von Gott nämlich) erkannt worden bin."
Ich meine, das Wort, mit dem Paulus das ganze Lied beschließt, könnte auch für Sie in Ihrer Berufsverantwortung, in Ihrem ganzen Lebensalltag - auch persönlich - ein großartiges Lebensmotto sein: "Für jetzt bleiben Glaube - Hoffnung - Liebe, diese drei; doch am größten ist die Liebe!"
Dafür steht die hl. Elisabeth von Thüringen und mit ihr jeder, der seinen Einsatz für den Nächsten nicht von irdischer Anerkennung abhängig macht. Wir kommen nicht aus dem Nichts und wir gehen nicht in das Nichts. Uns erwartet eine Liebe, die umso intensiver sein wird, je mehr wir uns schon heute auf sie einlassen. Amen.
Erfurt, 18.11.2004
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