Predigt von Bischof Joachim Wanke am Fest der heiligen Elisabeth
"Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns hingegeben hat" (1 Joh 3,16)
Das ist merkwürdig: Es gibt etwas, woran man Liebe erkennen kann. Zumindest behauptet das Johannes in seinem Brief, den wir heute als Lesungstext hörten. Es heißt dort nicht: seine Liebe, Gottes Liebe (haben wir erkannt). Es heißt vielmehr ganz allgemein: die Liebe - als ob der Autor eine Aussage über jedwede Art von Liebe machen wollte.
Wir sollen wohl so verstehen: Eine Liebe, die nicht bereit ist, das eigene Leben einzusetzen, ist keine Liebe. Sie ist vielleicht Selbstliebe, vielleicht Sozialtrieb, vielleicht auch Suche nach Anerkennung - aber eben nicht Liebe. Denken wir daran, wie manchmal Psychologen sehr schmerzlich unsere Illusionen über uns selbst und unsere Gefühle kritisch auseinander nehmen. So manches, was sich als Liebe präsentiert, kann sich als sublimer Egoismus erweisen.
Es ist, als ob der biblische Autor uns auf das Urbild von Liebe verweisen will, bei dem es keine Täuschung und keinen Irrtum geben kann: Gottes herabsteigende, uns suchende Liebe, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist.
Unser Schrifttext geht also nicht von Beispielen heroischer, menschlicher Liebe aus. Und auch dafür gäbe es in Geschichte und Gegenwart viele durchaus eindrucksvolle Beispiele. Johannes geht den umgekehrten Weg: Er setzt oben an, bei Gott selbst, dem Urbild und Quell der Liebe - und von ihm her, der in Jesus an uns seine Liebe erwiesen hat, nimmt er Maß an dem, was auch hier unter uns auf Erden Liebe sein soll: Sie muss sich messen lassen an der Bereitschaft, notfalls das geliebte eigene Leben (oder zumindest Teile davon) herzugeben. Dieser Maßstab zählt, wenn etwas Liebe sein soll. Alles andere wäre nur Spielerei, Konvention oder gar - wie gesagt - Selbstbespiegelung des eigenen Ichs im anderen.
Es ist konsequent, wenn unser Text dann sofort sehr konkret die christliche Bruderliebe anspricht, und zwar am Beispiel der Bereitschaft, vom eigenen Vermögen etwas für die Bedürftigen herzugeben. Liebe ist nur Liebe, wenn sie in Tat und Wahrheit liebt, nicht nur mit Wort und Zunge. Wahrlich - ein gefährliches, hochexplosives Wort, auch für uns Christen heute.
Dass dieser Bibeltext am Fest der heiligen Elisabeth verkündet wird, ist einsichtig. Elisabeth ist ein Beispiel für ein Leben, das angesichts dieses strengen Kriteriums von echter Liebe jeder kritischen Prüfung standhält. Und Elisabeth steht da gottlob in einer unübersehbaren Schar anderer Menschen, bekannter und unbekannter, die ihre Liebe in der Lebenshingabe als echt erwiesen haben. Ihnen darin nachzueifern, ist bleibende Aufgabe des Christen, als Einzelne und in Gemeinschaft. Das vergangene Jahr des Elisabeth-Jubiläums hat dazu wieder manche Ermutigung gegeben.
Heute möchte ich nur diesen einen Gedanken hervorheben: Wenn es so ist, dass Gottes Gott-Sein sich in der Liebe erweist, und diese Liebe daran erkannt wird, dass er um unsretwillen sich seiner Stärke entkleidet, ja schwach wird bis zum Tode - dann bedeutet das eine Revolution im herkömmlichen Gottesbild der Religionen. Das hat schon Paulus erkannt, wenn er im Nachdenken über Jesu Tod am Kreuz und dessen heilbringende Wirkung für uns schreibt: "Diese Botschaft ist den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit."
Wir sind gewohnt, so zu fragen: Braucht es nicht einen starken Gott, um alles Widergöttliche zu vernichten? Braucht es nicht Macht und Gewalt, um die Welt in Ordnung zu bringen? Wie kann Gott noch Gott sein, wenn er sich klein macht, unscheinbar und verletzlich?
Mit solchen Fragen hat das antike Heidentum, aber auch alles nachchristliche Heidentum bis in die Moderne hinein den christlichen Glauben an den gekreuzigten Gott ad absurdum führen wollen. Das Spottkreuz vom Palatin, mit dem ein heidnischer Soldat seinen christlichen Kameraden ärgern wollte: eine am Kreuz hängende Gestalt mit Eselskopf und dazu die Worte gekritzelt: "Alexamenos betet zu seinem Gott!" - das bringt auf den Punkt, warum das Christentum als Störung, ja als Provokation der herkömmlichen Religion empfunden wurde.
Hier wird ein Gott verkündet, der die Verhältnisse auf den Kopf stellt: Hier steht die Hingabe über der Selbstbehauptung, die Schwachheit über der Macht, die Liebe über dem Hass und jeder Form von aggressiver Abgrenzung. Hier leuchtet auf, was Jesus in der Bergpredigt von Gott sagt - und was er selbst im eigenen Leben vollzieht: die Liebe, die - uns zugute, uns zuliebe - bis zum Äußersten geht.
Heute ist allenthalben von der Wiederkehr der Religion die Rede. Ich halte von dieser Diagnose nicht allzu viel: Die Religion war auch in der Vergangenheit da - wir haben sie hier im aufgeklärten Europa nur nicht bemerkt. Was jedoch gefährlicher an dieser neuen Wahrnehmung von Religion ist, dass damit eine Angst vor der Rückkehr gewalttätiger Götter verbunden ist. Der Gott des christlichen Glaubens wird mit solchen Gottesvorstellungen gleichsam in einen Topf geworfen und jeder Christ, der seinen Glauben ernst nimmt, als potentieller Terrorist angesehen.
Aber könnte diese Angst vor der Religion auch damit zusammenhängen, dass wir hier in den Ländern der europäischen Christenheit vergessen haben, welchen Gott uns das Evangelium verkündet - den Gott und Vater Jesu Christi, der seine Macht in seiner Liebe erweist, und dessen Liebe sich um unsretwillen arm macht, klein und gering - in der Geburt Jesu in einem Stall ebenso wie in seiner (von uns Sündern provozierten) Hinrichtung am Kreuz.
Diesen Gott gilt es neu und tiefer zu erkennen - um darin alle Angst untergehen zu lassen, die meint, Gott könne nur groß sein, wenn wir Menschen klein und armselig sind.
Nein, umgekehrt ist es - und dafür steht unser Glaube, dafür steht Elisabeth mit ihrem Leben: Gott will, dass wir groß sind, dass wir heil sind, dass wir reich werden im Erkennen und im Lieben - und darum ist die Schwäche Gottes, die Schwäche seiner Liebe unsere Rettung.
"Daran haben wir Gott als den Gott Jesu Christi erkannt, dass ER, der Herr, sein Leben für uns dahingab." Dieses Erkennen Gottes als hingebende, sich verschenkende Liebe hat Elisabeths Leben und Handeln bestimmt. Auf diese Liebe hat sie zu antworten gesucht. Und das hat Elisabeths Leben so liebenswert gemacht - für uns Menschen, und noch mehr für Gott. Amen.
Gehalten im Erfurter Dom St. Marien, 19.11.2008
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