Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow,
sehr geehrte Frau stellvertretende Landtagspräsidentin Marx,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
Es wird viel nachgedacht, geredet und geschrieben über die Verrohung der Sprache. Viele von uns bekommen Mails, deren Sprache von abgrundtiefer Abneigung geprägt ist, ja von Hass. In Internetforen, in Chats und Kommentaren ist in Bild und Text eine zum Teil barbarische Unkultur gewachsen. Dass diese Worte in Taten umschlagen können, zeigt der blinde Terror des Mörders von Halle. Unverschämteste Beleidigungen geschehen längst nicht mehr nur in der Verborgenheit der Anonymität. Hasserfüllte Schreiben können die weit ausgelegte Meinungsfreiheit nutzen und andere beleidigen oder bedrohen. Beim Zentralrat der Juden gehen von antisemitischem Judenhass erfüllte Schreiben ein, deren Absender korrekt vermerkt sind. Auch Politikerinnen und Politiker beleidigen einander persönlich und öffentlich. Auch wenn manche ihre Kritik an ihren unflätigen Aussagen als „Maulkorb“ oder als „Diktat der political correctnes“ abtun, wird die Mahnung von Altbundespräsident Köhler immer akuter: „Es braucht wieder mehr Menschen, die sagen: Das tut man nicht.“
Das Problemfeld ist riesig und wird von vielen mit kritischen Augen beobachtet. Ich war erstaunt, wie schnell die Foren und Chats bekannt waren, in denen der Mörder von Halle unterwegs war, und wie viele kundige Fachleute und Journalisten äußerst rasch Auskunft gegeben haben – und auf Interesse stießen, was vorher nicht der Fall war. Dass es eigene Begriffe und eine eigene Sprache in diesen Szenen gibt, um sich im Hass zu bestärken, hat mich wirklich erschüttert.
Leider kann ich Ihnen heute kein Patentrezept für die Heilung dieser gesellschaftlichen Krankheit geben. In der nächsten Woche konstituiert sich der neue Landtag. Daher möchte ich mich heute auf einen besonderen Bereich des Umgangs mit der Sprache konzentrieren, nämlich die Rede. Viele von Ihnen sind mit der Aufgabe betraut, öffentlich zu reden. Im Begriff Parlament steckt das französische Wort parler -sprechen. Außerdem muss ich zugestehen, dass es offensichtlich erfolgreiche Reden auf Thüringer Markt- und Domplätzen gibt, deren Inhalt ich überhaupt nicht teile, deren Erfolg bei den Thüringern ich aber nicht übersehen kann.
So möchte ich gerne etwas zur Kunst der öffentlichen Rede sagen.
Wenn Sie wissen, dass ich mich in meiner Doktorarbeit mit der Kirche in der Antike beschäftigt habe, wird es Sie nicht weiter erstaunen, dass ich mich bei meinen Gedanken von der Antike habe inspirieren lassen. In einer Zeit ohne rasante Verkehrsmittel und ohne blitzschnelle Möglichkeiten der Kommunikation hatten die Menschen damals noch Zeit zum Nachdenken. Der Redner hieß in der griechisch-sprechenden Antike „rhetor“. Die Kunst der Rede, die Rhetorik, war in der Antike von zentraler Bedeutung. Das gesamte Erziehungssystem der Antike war darauf ausgerichtet, einen künftigen Redner heranzubilden. Die Rhetorik war nicht ein Fach neben anderen, sondern das Leitfach, an dessen Bedürfnissen sich alle anderen zu orientieren hatten. Die Bewährungsfelder für den „rhetor“ waren die Volksversammlung, die Gerichtsverhandlung und der Marktplatz. Hier galt es, andere mit der Kunst der Rede zu gewinnen. Einer der größten Redner des 4. Jahrhunderts war Ambrosius, der noch als Ungetaufter zum Bischof von Mailand gewählt worden war. Der spätere Bischof Augustinus berichtet, dass er als junger Mann nur deswegen nach Mailand gekommen war, um von der Redekunst des Ambrosius‘ zu lernen. Als ungetaufter Vater eines unehelichen Kindes, den man durchaus als Lebemann bezeichnen kann, hörte Augustinus die Predigten des Ambrosius nur wegen ihrer rhetorischen Klasse. Wohin das bei einem wirklich guten Redner führen musste, war absehbar: Augustinus wurde Christ, verurteilte jede Fleischeslust und wurde Bischof, was heute mit dieser Lebensgeschichte nicht mehr passieren würde.
Zurück zur Kunst der Rede: Der große und maßgebliche Vordenker der Rhetorik war Aristoteles, der Rhetorik definierte als „die Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten“. Er unterschied zwischen drei Formen der Überzeugung, nämlich der Glaubwürdigkeit des Redners (ethos), dem emotionalen Zustand des Hörers (pathos) und dem Argument (logos). Diese drei Formen der Glaubwürdigkeit gelten heute natürlich auch, wenn auch unter anderen Bedingungen:
Ethos meint die sittliche Lebensführung und Einstellung des Redners. Es hat sich in unserer Gesellschaft bewährt, dass auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihr privates Leben privat halten. Man kann sein Leben in Partnerschaft, Ehe oder Familie vor der Öffentlichkeit schützen. Selbst einem Bischof wird eine Privatsphäre zugestanden. Deswegen finde ich es unerträglich, wenn Privathäuser oder -wohn¬ungen von Politikern zum Ort öffentlicher Meinungsäußerung gemacht werden. Ich finde es genauso bedenklich, wenn Politiker in der Öffentlichkeit ihre Familie präsentieren, um ihre Menschenfreundlichkeit zu dokumentieren.
Der Respekt vor der Privatsphäre heißt aber nicht, dass das ethos, die sittliche Lebenseinstellung eines Redners und Politikers nicht maßgeblich zu seiner Überzeugungskraft beitragen. Das bezieht sich weniger auf seinen persönlichen Lebensstil als vielmehr darauf, dass seinen politischen Überzeugungen und Visionen auch seine persönliche Glaubwürdigkeit entspricht. Ich halte es für richtig, dass Menschen, die sich mit ihrem Beruf für das Gemeinwohl einsetzen, ihre Einkünfte öffentlich machen und sich darüber hinaus nicht heimlich Vorteile verschaffen. Noch wichtiger als der korrekte Umgang mit ihren Einkünften ist für Politiker, dass sie sich nicht nur für das Gemeinwohl, sondern auch für den Menschen interessieren. Sie müssen brennen für den Freistaat Thüringen und seine gute Entwicklung. Sie müssen viele Daten, Zahlen und Statistiken berücksichtigen. Sie müssen viele Verantwortliche mit einbinden. Sie müssen nach einem Weg suchen, den möglichst viele mitgehen können und bei all dem müssen sie den einzelnen Menschen und seine Fragen und Probleme sehen. Das ist eine große Aufgabe. Wir kennen in unserer Kirche die bischöfliche Visitation, den regelmäßigen Besuch der Kirchengemeinden, der kirchlichen Einrichtungen, das Gespräch mit politisch Verantwortlichen und Gewerbetreibenden. Das ist anstrengend, aber enorm wichtig. Auch die Politiker unter Ihnen sind unermüdlich im Land unterwegs und im Gespräch mit den Menschen. Dafür gebührt ihnen großer Dank und ein kleine Motivation: Das ist ein wichtiger Beitrag zur Glaubwürdigkeit Ihrer Reden. Natürlich darf dies nicht nur ein einseitiges Hören sein. Sie haben ja auch eine politische Botschaft für die Menschen.
Die Polarisierung unserer Gesellschaft macht es für Sie oft schwierig, überhaupt in Ruhe zuhören zu können und Gehör zu finden. Hoffentlich gelingt es, dagegen anzugehen, hoffentlich gelingt es, dass die Menschen ihre Verlustängste aussprechen können und dass die Menschen auch hinhören, was daran berechtigt oder was reine Emotion ist. Ich hoffe, dass es gelingt, den Menschen zu verdeutlichen, dass Deutschland keine Insel der Seligen sein kann. Ohne globale Beziehungen ist die Wirtschaft in Thüringen am Ende. Christentum und nationaler Egoismus gehen genauso wenig zusammen wie Humanismus und Nationalismus. Ich wünsche Ihnen die Kraft, wie in Wahlkampfzeiten das Gespräch mit den Menschen zu suchen und zu führen.
Hier knüpft die zweite Form der Überzeugungskraft des Redners an, die Aristoteles ausgemacht hat: der emotionale Zustand des Hörers, das pathos. Pathetische Reden treffen die Gefühle der Hörer und wecken ihre Leidenschaft. Aristoteles versteht das natürlich so, dass zunächst die eigene Vision oder das eigene Ziel feststeht und der Redner dann überlegt, bei welchen Gefühlen und Leidenschaften er anknüpfen kann – und nicht umgekehrt: dass der Redner zunächst die Gefühle und Befindlichkeiten seiner Zuhörer eruiert, um danach seine Ziele auszurichten. Die Bibel nennt solche Prediger falsche Propheten, die den Menschen nach dem Mund reden, anstatt ihnen ihren eigentlichen Auftrag zu verkünden.
Im alttestamentlichen Buch Jeremia heißt es über diese falschen Propheten: „Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen. Sie betören euch nur; sie verkünden Visionen, die aus dem eigenen Herzen stammen, nicht aus dem Mund des Herrn. Immerzu sagen sie denen, die das Wort des Herrn verachten: Das Heil ist euch sicher! Und jedem, der dem Trieb seines Herzens folgt, versprechen sie: Kein Unheil kommt über euch.“ (Jer 23,16f.) Der emotionale Zustand des Hörers stellt den Redner vor große Herausforderungen: Er steht in der Versuchung, wie ein falscher Prophet sich Stimmungen zu eigen zu machen, die eigentlich der Demokratie abträglich sind, die ihm aber zu Ansehen, Stimmen und Erfolg verhelfen. Oder er steht vor der Herausforderung, mit heftigen emotionale Befindlichkeiten umgehen zu müssen.
Viele Menschen in Ostdeutschland haben das Gefühl, benachteiligt zu sein gegenüber den Westdeutschen. In manchem haben sie Recht. Die Gehälter sind niedriger bei gleichen Lebenshaltungskosten. Viele haben in der Wende ihre Arbeit verloren und beziehen jetzt eine niedrige Rente. Die historische Leistung, eine Diktatur friedlich gestürzt zu haben, wird kaum gewürdigt. In vielem ist das Gefühl der Benachteiligung aber auch unberechtigt. Die Menschen in Erfurt leben nicht anders als die Menschen in Mainz, und die Versorgungssituation in Dörfern im Thüringer Wald ist genauso schwierig wie die im hessischen Vogelsberg. Eine weit tiefer liegende Gefühlslage in der Thüringer Bevölkerung macht mir aber größere Sorgen: Viele Menschen nehmen nationalistische und antisemitische Einstellungen, die öffentlich vorgetragen werden, entweder nicht zur Kenntnis oder akzeptieren sie. Ich sehe darin auch ein Nachwirken der SED-Diktatur, in der die NS-Vergangenheit nicht aufgearbeitet worden ist, ja verdrängt wurde entsprechend der Doktrin: Die Nazis sind im Westen.
Die Wirklichkeit war anders: Der Focus berichtete 2010: Noch beim Fall der Mauer saßen 14 ehemalige Mitglieder der NSDAP im SED-Zentralkomitee. Eine regionale Studie einer Soziologengruppe von der Friedrich-Schiller Universität Jena um Heinrich Best stellte fest, dass 13,6 Prozent der thüringischen SED-Spitzenfunktionäre, bei denen das vom Alter her möglich war, NSDAP-Mitglieder waren – mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung. Thüringen war ein nationalsozialistischer Mustergau. Der Historiker und Journalist Prof. Dr. Götz Aly hat dies bei seinem Vortrag im Thüringer Landtag am Holocaustgedenktag in diesem Jahr beeindruckend dargestellt. In der DDR wurde diese Geschichte verdrängt und in der Zeit nach der Wiedervereinigung nicht genügend aufgearbeitet. Erst im Jahr 2007 hat der Erfurter Stadtrat beschlossen, im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma Topf & Söhne einen Erinnerungsort zu schaffen und zu betreiben. Ohne Aufarbeitung und Aufklärung lebt nationalsozialistisches Gedankengut weiter. Der Film Schindlers Liste, der 1994 in die deutschen Kinos kam, hat einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur emotionalen Aufklärung der NS-Verbrechen geleistet, hat aber hierzulande in der Zeit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs nicht die ganz große Aufmerksamkeit gehabt.
Der Nationalsozialismus lebt nicht nur in Thüringen, sondern auch in München, dem Ursprungsort der NS-Bewegung. Dass dort gestern Hitlers Zylinder für 50.000 Euro versteigert wurde, ist für mich ein Skandal. Rechtlich ist das möglich. Noch leben wir in einem freien Land. Der Auktionator ein Herr Bernhard Pacher hat laut FAZ von heute gesagt: „Wenn bekannt wird, wer ihn gekauft hat, wird das Kritiker vielleicht zum Nachdenken bringen.“ Mich nicht! Allein der Verkauf dieses Zylinders, den Hitler nur einmal 1933 getragen hat, um gesellschaftsfähig zu erscheinen, beweist ein Doppeltes: Das Schicksal der Juden berührt hier niemand mehr. Und der Nationalsozialismus ist wieder gesellschaftsfähig. So ist es eine bleibende Herausforderung, die insgeheime Sympathie für die NS-Diktatur durch Aufarbeitung und Aufklärung sowie durch Sympathie mit den Opfern geduldig zu bekämpfen.
Selbstverständlich weckt man nicht nur durch Worte und Argumente die Gefühle seiner Hörer, sondern auch durch die äußere Erscheinung, die Stimme, die Gesten, die Geschwindigkeit des Redens, den Aufbau der Rede und vieles mehr. Ich mache hier etwas, das verhindert, dass diese Ansprache eine pathetische Rede wird: Ich lese von einem Manuskript ab. Bei seiner berühmten Rede am 28. August 1963 hielt sich Martin Luther King zunächst eng an sein Manuskript. Die Umstehenden merkten, dass er die sonst für seine Reden typische emotionale Verbindung zum Publikum nicht erreichte. Da rief ihm die zuvor aufgetretene Gospel-Sängerin Mahalia Jackson zweimal zu: „Erzähl ihnen von dem Traum, Martin!“ Daraufhin legte King das Redemanuskript aus der Hand und sprach die Schlusspassagen frei, beginnend mit „I have a dream.“ Er hatte offensichtlich keine Sorge, dass anwesende Journalisten ein spontanes nicht richtig überlegtes Wort aufgreifen.
Aristoteles unterschied zwischen drei Formen der Überzeugung: der Glaubwürdigkeit des Redners (ethos) dem emotionalen Zustand des Hörers (pathos) und dem Argument (logos), damit meint er die Überzeugung, durch Folgerichtigkeit und Beweisführung. Jetzt sind wir nicht mehr bei den Emotionen des Redners oder des Hörers, sondern jetzt sind wir bei nüchterner Sachlichkeit: „Argumente kommen aus dem Kopf, nicht aus dem Kehlkopf.“ Hat der SPD-Politiker Dieter Spöri gesagt. Der Redner steht vor der Herausforderung, die Argumente zu finden. Dafür braucht es die Zeit, nachzudenken, nachzulesen oder kundige Fachleute zu befragen – und es braucht die Zeit, die Argumente zu prüfen, die Fakten zu checken, wie es heute heißt.
Im Zeitalter bewusst verbreiteter fake news ist das eine große Herausforderung, aber auch unverzichtbare Aufgabe. Gerade in der hochemotionalen Frage, wie wir mit den Menschen umgehen, die aus dem Ausland zu uns kommen wollen, stehen verallgemeinernden oder falschen Informationen Tür und Tor offen. Ich danke dem statistischen Landesamt für die sorgfältige Zusammenstellung der Zahlen, wie viele Menschen welcher Nationalität in Thüringen leben. Kriminalitätsstatistik oder differenzierte Zahlen über die Ausgaben für Sozialhilfeempfänger können hoffentlich zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Wir Christen sehen die Migration positiv: Die ökumenische Landschaft wird bunt in Thüringen: Ein griechisch-katholischer Priester feiert regelmäßig mit ukrainischen orthodoxen Christen Gottesdienst in der Martini-Kirche in Erfurt. In Gotha wird eine katholische Kirche an die dortige große rumänisch-orthodoxe Gemeinde übergeben. Die russisch-orthodoxe Kirche in Weimar ist sonntags zu klein für die Gemeinde. Und auch wir römisch-katholische Christen bekommen Verstärkung aus Polen. In Jena ist regelmäßig englischsprachige Messe für die Katholiken verschiedener Muttersprachen dort. Wir können das internationale Christentum und die weltumspannende katholische Kirche hier in Thüringen erleben und gut gebrauchen.
Mein kleiner Ausflug in die Kunst der Rede hat viele aktuelle Herausforderungen in unserem Land gestreift. Ich danke Ihnen allen, die sie in allen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft diese Herausforderungen angehen, und ich bete für die Politikerinnen und Politiker, dass sie im Blick auf anstehende Fragen und Probleme das Land vor die Partei stellen. Vielleicht hilft dabei eine Mahnung, die die Bibel im Epheserbrief überliefert: „Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, stärkt und dem, der es hört, Nutzen bringt!“ (Eph 4,29).