Als Bischof Franz-Josef mich zu diesem Vortrag einlud, bat er darum, besonders die geistlichen Herausforderungen in den Blick zu nehmen, die uns aus den derzeitigen Umbruch-Erfahrungen in Kirche und Gesellschaft erwachsen. Diesem Wunsch will ich gern folgen. Ich kann und werde also nichts sagen zu dem aktuellen Gespräch über das Zukunftsbild der Kirche im Ruhrbistum Essen und den damit zusammenhängenden Struktur- und Personalfragen. Darüber kann wohl nur vor Ort gemeinsam gesprochen und nach Lösungen gesucht werden.
Gleichwohl teilen wir Priester und Diakone, wo immer wir wirken, zusammen mit vielen Gläubigen in allen Ortskirchen Deutschlands die tiefen Verunsicherungen, die unser kirchliches Leben bis in die Fundamente hinein tangieren.
Ich denke dabei auch an die aktuelle Diskussion um die Missbrauchsstudie, die speziell uns Kleriker insgesamt unter Verdacht stellt, auch wenn wir redlich unseren Dienst tun und selbst zutiefst erschrocken und beschämt sind über das, was sich da an abgründiger Schuld offenbart. Wir alle sind gleichsam angesichts zerstörten Vertrauens in eine gemeinschaftliche Haftung hineingenommen.
Zudem verdunkelt sich dadurch auch die innere Akzeptanz eines sakramentalen Priestertums als einer besonderen Gnadengabe Gottes für seine Kirche. Es kommt aus dem Blick, dass diese Gnadengabe nicht uns auszeichnen will, sondern um der Gläubigen willen der Kirche geschenkt wird. Die Empfänger der Sakramente sollen die feste Gewissheit haben, in den Sakramenten – unabhängig von der moralischen Vollkommenheit des jeweiligen Spenders – Zugang zum Herzen Gottes zu erhalten. Wir spüren hier die zerstörerische Macht der Sünde, die in ihren Folgen nicht nur den einzelnen Sünder betrifft.
Was kann ich Ihnen also angesichts dieser Situation Hilfreiches sagen?
I.
Ich möchte meine Überlegung damit beginnen, dass ich einmal aus meinen Erfahrungen als Priester und Bischof erzähle – tröstliche Erfahrungen, aber eben auch solche, die ratlos machen. Ja, das gibt es wirklich: Ab und zu wird der durch die Zeiten pilgernde Kirche vom „Himmel“ her unverhofft Trost zugesprochen – und zudem, freilich meist in Gestalt von Zumutungen, die uns herausfordern, der eine oder andere konkrete Impuls für deren weiteren Weg in die Zukunft geschenkt.
Unsere Ortskirchen im Osten Deutschlands etwa haben vor knapp 30 Jahren ein Trostzeichen vom Himmel her geschenkt bekommen. Es war „eingepackt“ in das Ereignis der unblutigen Revolution 1990/91, die uns im Osten bekanntlich, auch als Kirche und Christen, erstaunliche Freisetzungen gebracht hat.
Die Tröstung Gottes für uns bestand in der Tatsache, dass sich vor unseren Augen der alte Ideologiestaat DDR lautlos in Luft auflöste – und zwar in kürzester Zeit. Und man muss sich das noch einmal bewusst machen: wie hat dieser sich vorher gewaltig in Szene gesetzt! Über Jahrzehnte hatte die alte Parteiideologie die Kirche und das Leben der Christen drangsaliert. Diese Ideologie beruhte auf den Thesen der marxistischen Religionskritik und auf der Lenin´schen Praxis eines gewaltsamen, brutalen „Aushungerns“ alles Religiösen. Der Kampfruf der kommunistischen Partei lautete damals: „Religiöser Glaube verdirbt das Denken.“ Ich erinnere mich an meine damaligen Jugendjahre. Immer wieder war da zu hören: Das Christentum sei eine Weltanschauung für „Rückwärtsgewandte“ und mache unfähig, sich zusammen mit allen „Werktätigen“ für die helle Zukunft des Sozialismus mit allen Kräften einzusetzen. Das Christentum sollte eben absterben – und der atheistische Staat half kräftig dabei mit.
1990 war plötzlich davon nicht mehr die Rede. Es zeigte sich sehr anschaulich, auf welch tönernen Füssen manchmal weltanschauliche Überzeugungen und selbst staatliche Willkür stehen. Das war und ist für mich ein tröstlicher, ermutigender Zuspruch vom Himmel her! Ein Hinweis des Geistes, dem lieben Gott auch heute und morgen Überraschungen zuzutrauen!
Aber gilt diese positive Deutung auch für die neue Situation, in die uns Gott nun hineingeführt hat? Mit dem Eintritt des Ostens in eine freiheitliche, pluralistische Gesellschaft mit all ihren, besonders auch wirtschaftlichen Freiheiten, kam ein neuer Verdacht in der Gesellschaft auf. Der lautet nun: „Religiöser Glaube verdirbt das Leben!“ Er mache es zumindest eng und kleinkariert. Man müsse das eigene Leben schon jetzt voll ausschöpfen und möglichst intensiv auskosten – den „Himmel Gottes“ (wenn es ihn denn überhaupt gibt) könne man vergessen.
Ist dieses Szenario auch „Trost vom Himmel her“? Wohl kaum! Es ist (zumindest für das Gottesvolk im Osten) eine Zumutung. Diese neue Herausforderung scheint pastoral schwieriger zu bewältigen als die frühere ideologische Bedrückung in DDR-Zeiten. Das macht nun auf andere Weise ratlos, manchmal auch mutlos. Wie umgehen mit einer verbreiteten Mentalität und Lebensgestaltung, die Gott abgeschrieben, ja vergessen hat? Gott ist ja offensichtlich „privatisiert“, er ist kein Störfaktor mehr, noch nicht einmal eine zu bekämpfende Größe. „Wer Religion braucht, möge sie – bitte schön – praktizieren. Wir freilich, die gesellschaftliche Mehrheit, benötigen sie nicht.“ – Worin besteht da wohl die erhoffte Wegweisung durch Gottes Geist für seine Kirche?
Ich meine: Auch diese Erfahrung enthält eine „Botschaft von oben“. Grundsätzlich gilt: Dieser veränderte geistige und kulturelle Gegenwartshorizont sollte – wie bei Kulturumbrüchen in vergangenen Jahrhunderten – zunächst einmal angenommen werden. Wir können uns die Zeiten, in denen wir als Priester und Seelsorger tätig sind, nicht aussuchen. Es mag unsere Vorgänger in der Pastoral damals in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg durchaus die breite und fraglos geübte kirchliche Praxis der Gläubigen mitgetragen haben. Aber Probleme gab es auch damals.
Für uns heute muss gelten: Es ist – wie es ist! Also nicht die Veränderungen leugnen, sie nicht schön reden, nicht nach den Schuldigen fahnden oder sonst die Probleme verdrängen (nach dem Motto: „Es wird schon irgendwie weitergehen und im Übrigen bin ich dann in Rente!“). Das kann nicht gut gehen. Denn es gilt: Was nicht angenommen wird, kann nicht verwandelt werden. Es muss sich auch in Zeiten gesellschaftlicher Liberalität und Pluralität erweisen, was sich (bei uns im Osten etwa) in den Jahren der Bedrängnis bewährt hat. Es braucht auch in religiöser Hinsicht geistigen Selbststand. Eine bloße religiöse „Dressur“ reicht nicht. Es gilt vielmehr: Was nicht in Freiheit gedeiht, gedeiht überhaupt nicht.
Worin könnte die Chance der von mir hier angedeuteten neuen Situation für uns bestehen? Meine These lautet: Die Situation einer liberalen, offenen Gesellschaft gibt uns die Gelegenheit, sich jetzt auf eine Vertiefung unseres Glaubens und Bekennens einzulassen, gleichsam eine geistliche „Tiefenbohrung“ vorzunehmen. Ich muss es einmal so drastisch sagen: Wir Christen im Osten Deutschlands leben jetzt „ehrlicher“ als früher. Wir können uns nun nicht mehr hinter den Schikanen und Behinderungen religiösen Lebens wie in DDR-Zeiten verstecken. Es ist jetzt eben bei uns im Osten nicht „alles anders“ als „drüben“ (eine Formel, die manchmal auch eine faule Entschuldigung war). Wir teilen nun die Erfahrungen, die auch hier in der gesellschaftlichen liberalen „Luft“ einer freien Gesellschaft den Gottesglauben und eine profilierte christliche Existenz zersetzen will.
Ich fasse den vom Himmel ausgehenden Impuls an die Kirche unserer Tage und speziell hier bei Ihnen in einer noch „christentümlichen“ Gesellschaft in die etwas saloppe Formulierung: Gott hat mit uns eine Art „Glaubens-TÜV“ vor, eine „geistliche Qualitätskontrolle“.
Etwas seriöser formuliert: Die geistliche Herausforderung dieser Stunde zielt darauf, sich dem „Licht“ des Evangeliums neu auszusetzen, sich bereitwilliger dem Anspruch des Evangeliums zu stellen! Und speziell für uns geweihte Kleriker: uns auf das zu besinnen, was uns in diesen „Beruf“ einst hat antreten lassen; die Offenheit, auf den Anruf des Herrn mit der persönlichen Bereitschaft zu seiner Nachfolge zu antworten; sie zu einer existentiellen, das ganze Leben prägenden Freundschaft mit ihm werden und wachsen zu lassen. Das ist der Sinn und die Zielrichtung unserer Weihe: Freundschaft und Gleichgestaltung mit Jesus Christus. Ich habe mich vom Herrn als „Erntehelfer“ für seine eschatologische Sammlung des Gottesvolkes anwerben lassen – ganz und ein Leben lang. Mit diesem Vorsatz habe ich damals mein Adsum gesagt: Ich will mit ihm, meinem Herrn, Sauerteig sein, ohne selbst sauer zu werden!
Gern erzähle ich, wenn ich solch „fromme Zumutungen“ ausspreche, gleichsam zur Illustration ein kleines Erlebnis. Es war in einem großen Bekleidungskaufhaus. Ich bemerkte zufällig,, wie in der benachbarten Damenabteilung eine Dame ein Kleid für sich aussuchte – und auf einmal damit verschwand. Ich machte mir schon etwas Sorgen, aber die Frau ging damit nur aus dem Kunstlicht des Kaufhauses vor die Außentür und hielt das ausgewählte Stück in das helle Tageslicht. Die Verkäuferin hatte dafür durchaus Verständnis!
Das ist eine uns nicht fremde Erfahrung: Im Tageslicht wirkt manches anders als im Kunstlicht eines Warenhauses. Ich dachte mir im Stillen: So müssten wir Christenmenschen, und eben besonders auch wir Priester, wir Geweihte es machen: Uns (immer wieder und gezielt ab und zu auch ganz bewusst und intensiv) dem Licht des Evangeliums aussetzen, dem Licht „von oben“ – um dann zu schauen, ob die „Farben“ und der ganze „Zuschnitt“ unseres Lebens uns wirklich stehen! „Was kleidet mich, wenn Gott mich anschaut?“
Mein geistlicher Impuls am heutigen Tag will helfen, auch in unserer bunten, heterogenen und vor allem auch stressigen „Arbeits- und Unterhaltungsgesellschaft“ den Himmel Gottes als offen zu erfahren. Ich möchte Ihnen, liebe Mitbrüder, Mut machen, auch angesichts der Bodenlosigkeit und der Unabsehbarkeit der Erschütterungen, denen wir ausgesetzt sind, uns neu in unserer je eigenen Berufung, die doch vom Herrn her gesehen reuelos ist, fest zu machen.
Ich gebe zu: Seelsorgliche Strategien und Aktionen sind das eine. Diese sind gemeinsam zu überlegen und entsprechende Initiativen sind durchaus zu wagen. Am „Kirchenbild“ des Bistums Essen wird noch längere Zeit zu malen sein! Aber dem Glauben und Hoffen in unseren Herzen Halt zu geben – das steht hier und jetzt an. Das verträgt keinen Aufschub. Wir haben die Hand an den Pflug gelegt – da kann man sich eben nicht mehr umschauen nach vermeintlich gefüllten „Fleischtöpfen“ der Vergangenheit. Darum diese Einladung: Die Tröstungen des Himmels anzunehmen ebenso wie dessen Zumutungen, also bereitwillig den Weg einer geistlichen Existenzvertiefung, einer geistlichen „Qualitätserneuerung“ zu gehen.
Dies gilt ohne Zweifel für alle Christen, so sie bewusst Christen sein wollen. Auch die Getauften und Gefirmten, alle „christifideles“ müssen immer neu fragen: Was wird mir eigentlich „von oben“ her in der Taufe und in einem Leben der Nachfolge Jesu geschenkt – und zugemutet (!)? Das ist ähnlich wie bei einem handfesten Ehekrach. Entweder läuft das Paar bei dieser Gelegenheit auseinander – oder man erneuert die alte Liebe, erinnert sich des guten Anfangs, geht zusammen in die „Tiefe“ und fängt miteinander neu an, diesmal ein wenig gewitzter als in stürmischen Jugendzeiten.
So ähnlich gilt es heute, den „Grundwasserspiegel“ unseres Glaubens, unseres Hoffens und Liebens in den Blick zu nehmen. Ist der Pegel vielleicht doch gesunken? Wenn ja, dann helfen selbst die blitzblanken neuen pastoralen Wasseranschlüsse oben wohl auch nicht. Es braucht den Mut, geistlich in die „Tiefe“ zu gehen, nach den „Quellen“ zu schauen, nach „Qualität“ zu fragen und weniger nach Quantitäten.
Man möge mich nicht falsch verstehen: Es geht nicht um eine Abkehr von den konkreten Fragen, die in den Diözesen anstehen und auf Lösungen warten, oft auch eingebettet in einen weltkirchlichen Problem- und Fragehorizont. Keine Abkehr von diesen Fragen – eher ein Versuch, diese Problemfelder neu zu beleuchten, sie in das „vom Himmel her“ auf uns herabfallende Licht zu halten. Wir müssen unseren Fragen und manchmal auch Ratlosigkeiten einen größeren Horizont geben. Es braucht Deutung unserer Situation, und zwar in Kirche und (!) Gesellschaft, aus christlicher Hoffnung heraus. Es ist einfach eine oft bestätigte menschliche Erfahrung: Es sind nicht die Technokraten, die etwas bewegen, sondern die Visionäre (was nicht heißt, Forschung und Technik für die Bereicherung unseres Lebens gering zu schätzen!). Es braucht heute „Visionäre des Gottesreiches“. Ob das nicht eine Metapher für unseren Dienst als Priester und Diakone auch heute sein könnte (freilich nicht als klerikales Alleinstellungsmerkmal gedacht!)?
II.
Ich illustriere dies einmal durch eine weitere gute Erfahrung in meinem bischöflichen Dienst. 2007 konnten wir in Thüringen ein großes Elisabethgedenken feiern – anlässlich ihres 800. Geburtstages. Und viele, sogar Nichtchristen, feierten mit. Ich fasse diese Erfahrung gern in dem Satz zusammen: Die hl. Elisabeth, unsere Bistumspatronin, hat in diesem Jahr besser und intensiver „gepredigt“ als die Pfarrer einschließlich Bischof das je vermocht hätten. Es war einfach erstaunlich, wie Elisabeth, auch in einer weithin kirchenfernen Thüringer Bevölkerung, als Zeichen einer überzeugenden Menschlichkeit, einer barmherzigen Zuwendung zu Hilfsbedürftigen und Notleidenden aufmerksam und mit Sympathie gewürdigt wurde – auch weit über die Ränder der verfassten Kirche(n) hinaus.
Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie durch eine konkrete Biographie eine Glaubensvertiefung, eine Anhebung des „geistlichen Grundwasserspiegels“ erfolgen kann – damals im 13. Jahrhundert dank franziskanischer Impulse und dies mit einer erstaunlichen Ausstrahlungskraft bis in unsere Gegenwart hinein.
Mit zu dieser Konkretisierung des Evangeliums für das Hier und Heute hat damals im Jubiläumsjahr beigetragen die vom Bistum verbreitete „Übersetzung“ der herkömmlichen Werke der Barmherzigkeit. Sie waren ein Versuch, das, was Elisabeth bewegte, in die heutige Lebenswirklichkeit der Menschen hinein zu übertragen: Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute.
Mein Vorschlag heute ist: Drei dieser Barmherzigkeitswerke als geistliche Wegweisung in unserer gegenwärtigen Situation näher in den Blick zu nehmen. Sie könnten uns bei der Überlegung helfen, welchen „Stil“ kirchlichen Lebens wir noch intensiver im Bistum pflegen und befördern sollten, damit dieses – in seinen vielgestaltigen Verästelungen – in der Tat immer mehr ein „Biotop“, ein Laboratorium des uns geschenkten Evangeliums sein kann. – Eine erste Einladung, die es zu beherzigen gälte, lautet:
„Ich höre dir zu!“
Das ist eine mehrschichtige Aufforderung. Etwa, auf die oft gehörte und geäußerte Bitte und Klage zu achten: „Hab doch einmal etwas Zeit für mich!“, „Ich bin so oft allein!“, „Niemand hört mir zu!“ Die Hektik heutigen Lebens, die Ökonomisierung vieler Arbeits- und Lebensbereiche macht die Ressource „Zeit“ knapp und wertvoll. Zuhören – ein Werk der Barmherzigkeit. So weit, so gut.
Meine Frage freilich: Wertvoll nur für den, der Gehör finden will? Nicht auch für uns, die wir im Hören und Zeit-Haben für andere aus unserer Selbstbezogenheit heraustreten? Ja sogar das wage ich zu fragen: Ist das Hören und Zu-Hören-Wollen eine aktuelle Gnade, gleichsam ein „Aufwachmittel“ für eine Kirche, die manchmal sehr mit sich selbst beschäftig ist, mit der eigenen Befindlichkeit, mit ihren Lehrsätzen, ihren Strukturen – und ihren Sünden?
Der Dialog ist in der Tat eine Grundkategorie des Glaubens und der Glaubensbezeugung. Und da meine ich nicht nur den innerkirchlichen Dialog. Ich erinnere gern an die Dialogenzyklika von Papst Paul VI. Ecclesiam suam (1964), bis heute lesens- und bedenkenswert. Die Kirche hat – wie auch ich als einzelner wacher Christ– von denen zu lernen, die wie einst Zachäus in den Bäumen hocken und nach „Jesus“, sprich: nach Verheißungen ausschauen, auf die sie im Innersten hoffen, aber an die sie nicht glauben können. Noch (!) nicht glauben können – ehe sie nicht Jesus selbst in seiner entwaffnenden Liebe begegnen.
Ob wir bei dieser Begegnung mit dem Herrn helfen könnten, eben mit den spezifischen Gaben, die uns bei der Weihe geschenkt wurden: das Wort Gottes zuzusprechen, die sakramentalen Gaben von Brot und Wein darzureichen und mit Chrisam- und Krankenöl Wunden zu heilen. Das alles sind ja ausgesprochen immer neu zu wiederholende Wegstärkungen, (auf fränkisch:) „Brotzeiten“ für die Gläubigen auf ihren Lebenswegen. Und zudem gilt: Wir Priester und Diakone mit unseren „Standesgaben“ sind beileibe keine Einzelkämpfer, sondern hineingestellt in die Mitte von vielen einzelnen wachen Christen, von Freundeskreise, von Gruppen und Kommunitäten, die wir vielleicht gar nicht alle kennen. Gottlob: wir brauchen nicht alles allein machen!
Zu Erinnerung sei es betont: Unser Dienst als Seelsorger gilt geistbegabten Mitchristen, denen wir prinzipiell nichts voraushaben. Das bedeutet: Wir sind weder Funktionäre, die ein System aufrecht erhalten müssen, noch „Macher“, ohne die Gott hilflos wäre, noch Bildungsinstrukteure, die immer genau wissen, was zu tun ist. Unser aller Seelsorger, Lehrer und Hirt ist Gott selbst, der durch seinen Geist in den Herzen der Glaubenden wirkt. Wir sind gehalten, durch unsere Sendung dem von Gott gewirkten Glauben unserer Mitchristen zu dienen, so wie wir selbst auf den Dienst, auch den amtlichen Dienst der vom Herrn eingesetzten Hirten und Lehrer angewiesen sind.
Ich habe soeben in meine Patientenvollmacht, in der u.a. nach gewünschter Begleitung beim Sterben gefragt wird, hineingeschrieben: „durch einen katholischen Priester.“ Da bin ich doch sehr nachdenklich geworden!
Vergessen wir nicht: Dem Glauben dienen ist etwas anderes als den Glauben „machen“! Letzteres wäre Magie. Unser Dienst an den Gläubigen dagegen ist Zuspruch, ist Aufdecken einer schon vorhandenen Wirklichkeit, ist Hilfestellung beim Versuch, sich im Alltag des Lebens dem Licht vom Himmel her auszusetzen. Mein priesterliches Wort gegenüber dem Sterbenden: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ gilt, weil diese Sünden schon vergeben sind! Unsere Pastoral ist letztlich zeichenhafte Beglaubigung der Verheißungen des Evangeliums – durch Hinweis auf eigene Lebens- und Glaubenserfahrungen, aber noch mehr mit Hinweis auf den „uns zugute“ sich hingebenden Herrn am Kreuz.
Paulus kann die zu Christus bekehrten Thessalonicher auffordern: „Erkennt die unter euch an, die sich abmühen (kopiontes), die euch im Namen des Herrn vorstehen (prohistámenoi) und euch ermahnen (noutheténtes). Achtet sie hoch und liebt sie wegen ihres Wirkens!“ (1 Thess 5,12). Interessant ist, mit welchen Begriffen Seelsorge hier umschrieben wird. Es gibt in dieser frühen Zeit noch keine Amtsbezeichnung, aber der Sache nach ist alles da, was künftige Ämter ausmachen wird. Und der Gemeinde wird gesagt: „Nehmt ihren Dienst an!“
Auch meine Autorität als Bischof lebt davon, dass ich angenommen bin. Nicht meine Weisheit oder Eloquenz macht mein bischöfliches Wort wichtig und wirksam, sondern weil Mitchristen in meinem amtlichen Reden, Ermahnen und Tun Christus, dem Herrn gehorsam sein wollen. Darum versuche ich, mehr zu hören als zu reden. Darum bin ich mit meinem Reden zum einen sehr vorsichtig, zum anderen aber auch sehr zuversichtlich. Denn ich weiß: Was an meinem Dienst wirklich effektiv und für das Heil der Menschen belangvoll ist, das bewirkt der Geist Gottes. (Manchmal wird uns sogar dies – oft zufällig – nach langen Jahren durch ein dankbares Wort eines Gläubigen zurück gespiegelt – auch eine „Tröstung“ Gottes für mich, der oft unsicher ist, ob mein Dienst überhaupt Sinn macht!).
Und um auch diesen unseligen Streit kurz anzusprechen: Die eine Gruppe beschwört die Parole: Jesus allein – die andere, nein: Weltdienst bis in die letzte Konsequenz. Meine Rückfrage: Kann man Anbetungsstunden vor dem Allerheiligsten und Engagement in der Hospizarbeit, bei der Bahnhofsmission, in Beratungs- oder Besuchsdiensten wirklich gegeneinander ausspielen? Ich meine: nein! Heute Christ sein, heißt für mich: in Bewegung kommen, und – in mehrfachem Sinn – „beweglich“ bleiben. Es gilt – so oder so – den sublimen Verdacht auf den Marktplätzen dieser Welt auszustreuen, dass wir heutigen Zeitgenossen doch nicht über die ganze Wirklichkeit unseres Lebens hinreichend informiert sind. Ein Leben aus dem Horizont des Gottesreichs heraus führt in eine Freisetzung, die sich nicht allein in passiver Kirchenmitgliedschaft oder bei uns: sich im „Dienst nach Vorschrift“ erschöpft. Lasst uns jeder (Geweihte und Nichtgeweihte) das tun, was uns aufgetragen ist – und was mit unseren schwachen Kräften möglich ist! – Ein zweiter Aspekt für einen evangeliumsgemäßen Stil in unserer Mitte: Menschen zu sagen:
„Du gehörst dazu!“
In einem vorgründigen Sinn gilt dieser Satz der Abwehr von gedankenloser oder gar bewusster Ausgrenzung. Ich erspare mir, die bitteren Folgen einer Aus- bzw. Abgrenzungsstrategie auch in der Pastoral aufzuzeigen. Mir kommt es hier mehr auf das positive Signal an, auf welche Weise immer auch ausgesendet, wie ich die Menschen um mich herum wahrnehme: „Du bist für mich zunächst und vor allem ein Mitmensch!“. „Du gehörst dazu!“ Ja sogar: „Du gehörst zu uns!“ – zu unserer Gemeinde etwa, auch wenn Du dich an Sonntagen selten oder nie blicken lässt.
Das führt zu einer wichtigen theologischen Einsicht. Unter uns muss das Bewusstsein wachsen: Es gibt eine prinzipielle Offenheit aller Menschen für Gottes Anruf. Christi Ostersieg ist für alle errungen und Gottes Heilswille schließt alle Menschen ein. Das ist die Grundüberzeugung der Kirche von Anfang an. Es gibt das Heil nur universal. Darum hat sich die Kirche in ihrer Geschichte niemals zur Sekte machen lassen, zu einem Zirkel der Besserwissenden, die sich hochmütig von der Masse der anderen absetzt oder mit ihr nichts zu tun haben will.
Ich warne deshalb vor einer Pastoral, die nur die Engagierten, die Starken und Überzeugten sammeln will. Die Kirche hat nichts zu „erfassen“, zu verwalten, geschweige denn zu klassifizieren. Sie ist Rast- und Tankstelle für gestresste Zeitgenossen, wegen mir auch „Lazarett“ (Papst Franziskus). Sie hat aus der Haltung der Grundsolidarität und Empathie die Menschen, wie sie konkret begegnen, zu begleiten, ihnen das Evangelium als österliche Weitung ihres Lebenshorizontes anzubieten und sie in ihren Suchbewegungen auf Gott hin zu bestärken.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die wenigsten Menschen in Thüringen im tiefsten Herzen wirkliche Atheisten sind. Schon in den Zeiten des alten Ideologiestaates DDR habe ich manchmal scherzhaft gesagt: Wir Christen sind zusammen mit den wenigen „gläubigen“ Marxisten in der DDR gemeinsam in der Diaspora!
Meine Frage ist freilich: Woran glauben die vielen, die angeblich an nichts mehr glauben? Haben die säkularen Hoffnungen von Nichtchristen (franz.: esperances) doch etwas mit der großen Hoffnung (franz.: espoir) zu tun, in die uns die Nachfolge Christi einweisen will? Also (beispielsweise) die Hoffnung auf das dringliche Bemühen um die Rettung des Weltklimas mit dem Bemühen, sich auf das hier schon auf Erden beginnende Gottesreich einzustellen?
Die Wahrheit, um die es im kirchlich verbürgten Glauben geht, hat ein wichtiges Fundament in der Lebenserfahrung des Einzelnen. Außerhalb der ersten Person Singular gibt es keine lebensrelevante Bezeugung des Evangeliums. Freiheit ist nur durch anschaubare, konkret erfahrene Freiheit anderer zum Wagnis eines Sprunges ins „Tiefe“ zu bewegen. Bemerkt man an uns als den ausdrücklichen „Freunden Jesu“ (vgl. Joh 15,15) eine solche Freiheit, die auch „loslassen“ kann?
Übrigens: Diese soeben nur angedeutete Einsicht steht einem postmodernen Denken und Lebensstil vielleicht näher als die Herleitung und Legitimierung des christlichen Gottesglaubens und seiner Ethik aus einer Seinsmetaphysik, die vom Grundempfinden vieler Zeitgenossen als willkürliche, autoritäre Setzung verdächtigt und darum abgelehnt wird. (Das war eine Überlegung von F-X. Kaufmann bei seinem Vortrag in Essen damals 2014). Die sog (Post)Moderne, die uns derzeit scheinbar nur von Gott entfremdet, bietet, so bin ich überzeugt, durchaus auch neue Hilfen („Geländer“, „Haltegriffe“) für den Weg einer glaubwürdigen, ehrlichen Christusnachfolge (und Kirchengestalt). Da sollten wir sehr aufmerksam und wach sein.
Ja, wir stehen heute besonders als „Kirchenoffizielle“ unter Ideologieverdacht. Was das heißt, hat mich meine DDR-Erfahrung gelehrt. „Ihr müsst ja so reden!“, so schallt es uns entgegen. Der Verdacht verliert sich dort, wo hinter dem Glaubenszeugnis eine Existenz in den Blick tritt, die ernsthaft umzusetzen sucht, wovon sie redet. Wie hörte einmal eine Frau von ihrer unreligiösen Arbeitskollegin, mit der sie befreundet war: „Du bist doch sonst eine ganz vernünftige Frau. Warum rennst du denn dauernd in die Kirche?“ Hier fängt das an, was ich „Berührung mit dem Evangelium“ nennen möchte: eine Ahnung, ein Staunen darüber, dass es österliche Existenzverwandlung vielleicht doch geben könnte.
In Mk 12 wird berichtet wie ein Schriftgelehrter – obgleich er um die Gebote weiß – doch unruhig bleibt und weiter nach einem tragenden Grund für echte Lebenshoffnung fragt. Das findet bei Jesus Anerkennung, ja Lob: „Du bist nicht fern vom Reiche Gottes!“ (Mk 12, 34). Fragen etwa meine nichtchristlichen Thüringer nicht auch nach Lebensqualität, nach belastbaren, krisenfesten „Sicherheiten“? Die sich ausbreitende gesellschaftliche Angst ist mir ein Indiz für diese Sehnsucht.
Meine dritte Einladung, Menschen zu sagen:
„Ich gehe ein Stück weit mit dir!“
Vielen ist bekanntlich mit einem guten Rat allein nicht geholfen. Es braucht in der komplizierten Welt von heute oft Anfangshilfen, gleichsam ein Mitgehen der ersten Schritte, bis der andere den Mut und die Kraft hat, allein weiterzugehen. Das Grundsignal – etwa bei Hilfen für einen menschlichen oder sozialen Neuanfang lautet dann: „Du schaffst das! Komm, ich helfe dir beim Anfangen“. Mütter und Väter, die vielen amtlichen Helfer und Betreuer, auch die Pädagogen und Lehrausbilder wissen das. Und das gilt wohl auch als Grunderfahrung für einen Beginn oder Wieder-Einstieg in den Gottesglauben nach der Art Jesu. Nicht nur Flüchtlinge und Ausländer brauchen Hilfe bei ihrer jeweiligen „Integration“, sondern auch jene, die anfangen, nach Gott zu fragen.
Da sind (kirchliche) „Hebammendienste“ nötig. Das neue, österliche Leben ist uns in der Tat „von oben her“ geschenkt. Es ist nicht „machbar“. Aber dieses Leben bedarf der freundlichen Aufnahme und einer mitsorgenden Begleitung, zumindest am Anfang oder auf bestimmten Lebensstrecken, vor allem beim letzten Loslassen des Lebens als Selbstübergabe in das Geheimnis Gottes hinein. Und wiederum gilt: bei diesen „Hebammendiensten“ sind wir Priester und Diakone nicht allein – gottlob!
Aber gibt es dieses Fragen nach Gott überhaupt heute, so wird oft kritisch gefragt. Ich antworte darauf gern: Gottesferne ist auch Teil unserer Erfahrung als Gläubige. Im Alltag sind wir normalerweise voll mit uns selbst beschäftigt, mit der existentiellen Absicherung des Lebens, der Bewältigung beruflicher Aufgabe, ja selbst mit der lustvollen Ausgestaltung unseres Lebens, die ihre Zeit kostet und Aufmerksamkeit absorbiert (vgl. das Stichwort: „Freizeitstress!“). Doch dann gibt es immer wieder Augenblicke der Unterbrechung. Manchmal sind es Lebenskrisen (etwa wenn Beziehungen zerbrechen, bei bedrohlichen Erkrankungen) oder auch bei Lebensübergängen (etwa beim Einstieg oder bei Veränderungen im Berufsleben). Auch ekstatische Momente einer überwältigen Freude (Naturerfahrung, Kunst, Liebe und Sexualität) können den verhangenen Alltag plötzlich und unerwartet aufreißen. In solchen Situationen, die sehr vielgestaltig sein können, blitzt die Frage nach dem Ganzen des Lebens auf. Da weiß man spontan: Ja, das Leben ist kostbar, es ist liebenswert, es ist trotz aller Zerrissenheit, die auch mich belastet, in sich „stimmig“. Es lohnt sich zu leben!
Genau diese Erfahrung vermittelt der Auferstandene den zweifelnden und ratlosen Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Er führt sie, die durch das Golgota-Geschehen völlig desillusioniert sind, mit einfühlsamen Worten und in der Feier der Eucharistie selbst in das ganze Geheimnis seines Lebens, Sterbens und Auferstehens als rettende Tat „uns zugute“ ein. So macht er sie fähig, dass sie in ihre je eigene „Lebenseucharistie“ hineinwachsen und sich dann auf dem offenen gesellschaftlichen „Markt der Möglichkeiten“ (sprich: „Jerusalem“, wohin sie Lukas sofort aufbrechen lässt), sich bewähren können.
Das waren meine drei geistlichen Impulse. Dazu möchte uns der Geist Gottes jeden von uns und uns als Bistumskirche insgesamt hindrängen, Menschen zu sagen:
„Ich höre dir zu!“
Das ist die Gnade der heutigen „kirchlichen Stunde“: Wir lernen im geduldigen Gespräch mit anderen, auch mit Nichtglaubenden, das Geheimnis unserer eigenen, christlichen und priesterlichen Berufung tiefer zu begreifen. Wir erfahren, wie Gott menschliche Freiheit respektiert. Gott dekretiert nicht. Er spricht mit uns. Er hört uns zu. Und manchmal weint er mit uns. Zachäus, der im Baum Ausschau hält nach Jesus!
„Du gehörst dazu!“
Es gibt zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden eine existentielle Solidarität. Wir alle bedürfen der rettenden Hand, die uns aus den „Eisspalten“, in die wir gefallen sind, herauszieht. Keiner kann sich selbst erlösen. Wir verdanken uns alle einer Liebe, die unser Begreifen und Verstehen übersteigt. Aber jene, die Gott nicht kennen, wissen einfach nicht, bei wem sie ihren Lebensdank abstatten können. Was uns aufgetragen ist: durch unser Lebens- und Glaubenszeugnis, das wir allen Menschen schulden, auch heute, in Thüringen und hier im Ruhrbistum, „den Dank zu vervielfachen“, wie Paulus sagt (2 Kor 4,15). „Du bist nicht fern vom Reiche Gottes!“ Weiß ich wirklich immer ganz genau, wem dies Jesus sagt? – Und schließlich: Einem anderen zu sagen:
„Ich gehe ein Stück weit mit dir!“
Christlicher Glaube hat immer Kirchengestalt. Er ist ein „Mitglauben“, mit dem Glauben der Apostel, mit dem der Heiligen, derer, die im Kalender stehen und der vielen unbekannten Heiligen, die es auch heute in unserer Mitte gibt. Letztlich ist es ein Mitglauben mit dem Herrn, der nach Hebr 12,2 „Urheber und Vollender des Glaubens“ ist, eine sehr merkwürdige, aber bedenkenswerte Christusbezeichnung. Er hat uns schon im Voraus an seine Hand genommen, ehe wir unsere Hand (als schon „Gehaltene“) jetzt solidarisch anderen reichen. Nein, es geht nicht um Anklage und Verurteilung. Es geht um ein „Mitleiden“, ein Mittragen dessen, was Menschen heute auferlegt ist, manchmal auch in der wortlosen Solidarität des einfachen Daseins, welche das Ertragen und Aushalten leichter macht.
Das alles darf unsere Kirchengestalt prägen, gleichsam den „Stil“ unseres Kirche-Seins. Wie kommen wir Priester und Diakone von „Golgota“, dem Ort unserer Enttäuschungen, nach „Emmaus“, dem Ort vertiefter Begegnung mit dem Herrn? Und wie von dort neu und mit geistlicher Zuversicht nach „Jerusalem“, also in die offene bunte, schrille, pluralistische Gesellschaft von heute, wo durchaus auch der Auferstandene schon seine Jünger hat – aber vielleicht durch unser Zeugnis und Lebensbeispiel noch weitere hinzugewinnen will? Lassen wir uns gemeinsam auf diesen Weg ein.