Post aus Rom

Brief von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland

Bild: Norbert Staudt In: Pfarrbriefservice.de

Der Brief zum Download

Liebe Brüder und Schwestern,
 
Die  Betrachtung  der  Lesungen  der  österlichen  Festzeit  aus  der Apostelgeschichte hat mich bewegt, euch diesen Brief zu schreiben. In diesen Lesungen begegnen wir der allerersten apostolischen Gemeinde, die ganz von dem neuen Leben durchdrungen ist, das der Heilige Geist
geschenkt hat, der gleichzeitig alle Umstände so gefügt hat, dass daraus gute Anlässe  zur  Verkündigung  geworden  sind.  Die  Jünger  schienen damals  alles  verloren  zu  haben  und  am  ersten  Tag  der  Woche, zwischen  Bitterkeit und Traurigkeit, hörten sie aus dem Munde einer
Frau, dass der Herr lebe. Nichts und niemand konnte das Eindringen des Ostergeheimnisses  in  ihr  Leben  aufhalten  und  zugleich  konnten  die Jünger  nicht  begreifen,  was  ihre  Augen  geschaut  und  ihre  Hände berührt haben (vgl. 1 Joh  1,1).
 
Angesichts  dessen  und  mit  der  Überzeugung,  dass  der  Herr «mit seiner Neuheit  immer  unser  Leben  und  unsere  Gemeinschaft  erneuern  kann»1 , möchte ich Euch  nahe sein  und Eure Sorge  um die Zukunft der Kirche in Deutschland teilen. Wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht nur in einer
Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen  aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist. Die Sachlagen und Fragestellungen, die ich mit  Euren  Hirten  anlässlich  des  letzten Ad-limina-Besuches  besprechen
konnte,  finden  sicherlich  weiterhin  Resonanz  in  Euren  Gemeinden.  Wie bei  jener  Gelegenheit,  möchte  ich  euch  meine  Unterstützung  anbieten, meine  Nähe  auf  dem  gemeinsamen  Weg  kundtun  und  zur  Suche  nach einer freimütigen Antwort auf die gegenwärtige Situation ermuntern.

1.  Mit  Dankbarkeit  betrachte  ich  das  feine  Netzwerk  von Gemeinden und Gemeinschaften, Pfarreien und Filialgemeinden, Schulen und Hochschulen, Krankenhäusern und anderen Sozialeinrichtungen, die im  Laufe  der  Geschichte  entstanden  sind  und  von  lebendigem  Glauben
Zeugnis  ablegen,  der  sie  über  mehrere  Generationen  hinweg  erhalten, gepflegt  und  belebt  hat.  Dieser  Glaube  ist  durch  Zeiten  gegangen,  die bestimmt  waren  von  Leiden,  Konfrontation  und  Trübsal,  und  zeichnet sich  gleichzeitig  durch  Beständigkeit  und  Lebendigkeit  aus;  auch  heute
noch  zeigt  er  sich  in  vielen  Lebenszeugnissen  und  in  Werken  der Nächstenliebe  reich  an  Frucht.  Die  katholischen  Gemeinden  in Deutschland in ihrer Diversität und Pluralität sind weltweit anerkannt für ihr  Mitverantwortungsbewusstsein  und  ihre  Großzügigkeit,  die  es verstanden  hat,  die  Hand  auszustrecken  und  die  Umsetzung  von Evangelisierungsprozessen in Regionen  in benachteiligten Gegenden mit fehlenden  Möglichkeiten  zu  erreichen  und  zu  begleiten.  Diese
Großherzigkeit hat sich in der jüngeren Geschichte nicht nur in Form von ökonomischer und materieller Hilfe gezeigt, sondern auch dadurch, dass sie  im  Laufe  der  Jahre  zahlreiche  Charismen  geteilt  und  Personal ausgesandt  hat:  Priester,  Ordensfrauen  und  Ordensmänner  sowie  Laien, die ganz treu und unermüdlich ihren Dienst und ihre Mission unter oft sehr  schwierigen  Bedingungen  erfüllt  haben.2 Ihr  habt  der  Weltkirche große  heilige  Männer  und  Frauen,  große  Theologen  und  Theologinnen sowie  geistliche  Hirten  und  Laien  geschenkt,  die  ihren  Beitrag  für  das Gelingen einer fruchtbaren Begegnung zwischen dem Evangelium und den Kulturen geleistet haben, hin auf neue Synthesen und fähig, das Beste aus beiden  für  zukünftige  Generationen  im  gleichen  Eifer  der  Anfänge  zu erwecken.3 Dies  ermöglichte  bemerkenswerte  Bemühungen,  pastorale Antworten  auf  die  Herausforderungen  zu  finden,  die  sich  Euch  gestellt haben.
 
Hingewiesen  sei  auch  auf  den  von  Euch  eingeschlagenen  ökumenischen Weg,  dessen  Früchte  sich  anlässlich  des  Gedenkjahres  „500  Jahre Reformation“  gezeigt  haben.  Dieser  Weg  ermuntert  zu  weiteren Initiativen im Gebet sowie zum kulturellen Austausch und zu Werken der Nächstenliebe,  die  befähigen,  die  Vorurteile  und  Wunden  der Vergangenheit  zu  überwinden,  damit  wir  die  Freude  am  Evangelium besser feiern und bezeugen können.
 
2.  Heute  indes  stelle  ich  gemeinsam  mit  euch  schmerzlich  die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was dies  nicht  nur  auf  geistlicher,  sondern  auch  auf  sozialer  und  kultureller Ebene  einschließt.  Diese  Situation  lässt  sich  sichtbar  feststellen,  wie  dies bereits Benedikt XVI. aufgezeigt hat, nicht nur «im Osten, wie wir wissen, wo  ein  Großteil  der  Bevölkerung nicht  getauft  ist und keinerlei  Kontakt zur Kirche hat und oft Christus überhaupt nicht kennt»4, sondern sogar in sogenannten  «traditionell  katholischen  Gebieten  mit  einem  drastischen Rückgang  der  Besucher  der  Sonntagsmesse  sowie  beim  Empfang  der Sakramente»5. Es  ist  dies  ein sicherlich  facettenreicher  und  weder  bald noch  leicht  zu  lösender  Rückgang.  Er  verlangt  ein  ernsthaftes  und bewusstes Herangehen und fordert uns in diesem geschichtlichen Moment wie  jenen  Bettler  heraus,  wenn  auch  wir  das  Wort  des  Apostels  hören: «Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!» (Apg  3,6).
 
3.  Um  dieser  Situation  zu  begegnen,  haben  Eure  Bischöfe  einen synodalen  Weg  vorgeschlagen.  Was  dieser  konkret  bedeutet  und  wie  er sich  entwickelt,  wird  sicherlich  noch  tiefer  in  Betracht  gezogen  werden müssen.  Meinerseits  habe  ich  meine  Betrachtungen  zum  Thema Synodalität  anlässlich  der  Feier  des  50-jährigen  Bestehens  der Bischofssynode  dargelegt 6 .  Es  handelt  sich  im  Kern  um  einen synodos, einen gemeinsamen Weg unter der Führung des Heiligen Geistes. Das aber bedeutet, sich gemeinsam auf den Weg zu begeben mit der ganzen Kirche unter dem Licht des  Heiligen  Geistes,  unter  seiner  Führung  und  seinem Aufrütteln, um das Hinhören zu lernen und den immer neuen Horizont zu erkennen, den er uns schenken möchte. Denn die Synodalität setzt die Einwirkung des Heiligen Geistes voraus und bedarf ihrer.
 
Anlässlich  der  letzten  Vollversammlung  der  italienischen  Bischöfe  hatte ich die Gelegenheit, diese für das Leben der Kirche zentrale Wirklichkeit nochmals in Erinnerung zu rufen, indem ich die doppelte Perspektive, die sie  verfolgt,  einbrachte:  «Synodalität  von  unten  nach  oben,  das  bedeutet die Pflicht, für die Existenz und die ordnungsgemäßen Funktionsvorgänge der  Diözese,  der  Räte,  der Pfarrgemeinden, für die Beteiligung der Laien Sorge zu tragen… (vgl. cann. 469-494 CIC), angefangen bei der Diözese. So ist  es  nicht  möglich  eine  große  Synode  zu  halten,  ohne  die  Basis  in Betracht  zu  ziehen…  Dann  erst  kommt  die  Synodalität  von  oben  nach unten», die es erlaubt, in spezifischer und besonderer Weise die kollegiale Dimension des bischöflichen Dienstes und des Kirche-Seins zu leben7. Nur so gelangen wir in Fragen, die für den Glauben und das Leben der Kirche wesentlich  sind,  zu  reifen  Entscheidungen.  Möglich  sein  wird  das  unter der  Bedingung,  dass  wir  uns  auf  den  Weg  machen, gerüstet mit  Geduld und  der  demütigen  und  gesunden  Überzeugung,  dass  es  uns  niemals gelingen wird, alle Fragen und Probleme gleichzeitig lösen zu können. Die Kirche  ist  und  wird  immer  Pilgerin  auf  dem  Weg  der  Geschichte  sein; dabei ist sie Trägerin eines Schatzes in irdenen Gefäßen (vgl. 2 Kor 4,7).
Das  ruft  uns  in  Erinnerung:  In  dieser  Welt  wird  die  Kirche  nie vollkommen sein, während ihre Lebendigkeit und ihre Schönheit in jenem Schatz gründet, zu dessen Hüterin sie von Anfang an bestellt  ist8.
 
Die  aktuellen  Herausforderungen  sowie  die  Antworten,  die  wir  geben, verlangen  im  Blick  auf  die  Entwicklung  eines  gesunden aggiornamento «einen  langen  Reifungsprozess  und  die  Zusammenarbeit  eines  ganzen Volkes über Jahre hinweg»9. Dies regt das Entstehen und Fortführen von Prozessen an, die uns als Volk Gottes aufbauen, statt nach unmittelbaren Ergebnissen  mit  voreiligen  und  medialen  Folgen  zu  suchen,  die  flüchtig sind  wegen  mangelnder  Vertiefung  und  Reifung  oder  weil  sie  nicht  der Berufung entsprechen, die uns gegeben ist.
 
4.  In  diesem  Sinne  kann  man  bei  aller  ernsthaften  und unvermeidlichen Reflexion leicht in subtile Versuchungen geraten, denen man, meines Erachtens, besondere Aufmerksamkeit schenken und deshalb Vorsicht walten lassen sollte, da sie uns, alles andere als hilfreich für einen gemeinsamen  Weg,  in  vorgefassten  Schemata  und  Mechanismen festhalten,  die  in  einer  Entfremdung  oder  einer  Beschränkung  unserer Mission  enden.  Mehr  noch  kommt  als  erschwerender  Umstand  hinzu: Wenn wir uns dieser Versuchungen nicht bewusst sind, enden wir leicht in einer komplizierten Reihe von Argumentationen, Analysen und Lösungen mit  keiner  anderen  Wirkung,  als  uns  von  der  wirklichen  und  täglichen Begegnung mit dem treuen Volk und dem Herrn fernzuhalten.
 
5.  Die  derzeitige  Situation  anzunehmen  und  sie  zu  ertragen, impliziert  nicht  Passivität  oder  Resignation  und  noch  weniger Fahrlässigkeit; sie ist im Gegenteil eine Einladung, sich dem zu stellen, was in  uns  und  in  unseren  Gemeinden  abgestorben  ist,  was  der Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf. Das aber verlangt Mut, denn, wessen wir bedürfen, ist viel mehr als ein struktureller, organisatorischer oder funktionaler Wandel.
 
Ich  erinnere  daran,  was  ich  anlässlich  der  Begegnung  mit  euren Oberhirten im Jahre 2015 sagte, dass nämlich eine der ersten und größten Versuchungen im kirchlichen Bereich darin bestehe zu glauben, dass die Lösungen  der  derzeitigen  und  zukünftigen  Probleme  ausschließlich  auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zuerreichen  sei,  dass  diese  aber  schlussendlich  in  keiner  Weise  die  vitalen Punkte berühren, die eigentlich der Aufmerksamkeit bedürfen. «Es handelt sich  um  eine  Art  neuen  Pelagianismus,  der  dazu  führt,  unser  Vertrauen
auf  die  Verwaltung  zu  setzen,  auf  den  perfekten  Apparat.  Eine übertriebene  Zentralisierung  kompliziert  aber  das  Leben  der  Kirche  und ihre  missionarische  Dynamik,  anstatt  ihr  zu  helfen  (vgl. Evangelii gaudium, 32)»10.
 
Die  Grundlage  dieser  Versuchung  ist  der  Gedanke,  die  beste  Antwort angesichts  der  vielen  Probleme  und  Mängel  bestehe  in  einem Reorganisieren  der  Dinge,  in  Veränderungen  und  in  einem “Zurechtflicken”,  um  so  das  kirchliche  Leben  zu  ordnen  und  glätten, indem man es der derzeitigen Logik oder jener einer bestimmten Gruppe anpasst.  Auf  einem  solchen  Weg  scheinen  alle  Schwierigkeiten  gelöst  zu sein und scheinbar finden die Dinge wieder ihre Bahn, so das kirchliche
Leben eine “ganz bestimmte” neue oder alte Ordnung findet, die dann die Spannungen beendet, die unserem Mensch-Sein zu eigen sind und die das Evangelium hervorrufen will11.
 
Auf diese Weise wären Spannungen im kirchlichen Leben nur scheinbar zu beseitigen. Nur „in Ordnung und im Einklang” sein zu wollen, würde mit der Zeit lediglich das Herz unseres Volkes einschläfern und zähmen und die lebendige Kraft des Evangeliums, die der Geist schenken möchte, verringern  oder  gar  zum  Schweigen  bringen:  «Das  aber  wäre  die  größte Sünde  der  Verweltlichung  und  verweltlichter  Geisteshaltung  gegen  das Evangelium»12. So käme man vielleicht zu einem gut strukturierten  und funktionierenden,  ja  sogar  „modernisierten“  kirchlichen  Organismus;  er bliebe  jedoch  ohne  Seele  und  ohne  die  Frische  des  Evangeliums.  Wir würden  lediglich  ein „gasförmiges“,  vages  Christentum,  aber  ohne  dennotwendigen  „Biss“  des  Evangeliums,  leben13.  «Heute  sind  wir  gerufen, Ungleichgewichte und Missverhältnisse zu bewältigen. Wir werden nicht in  der  Lage  sein,  irgendetwas  Gutes  zu  tun,  was  dem  Evangelium entspricht,  wenn  wir  davor Angst  haben»14.  Wir  dürfen nicht  vergessen, dass es Spannungen  und Ungleichgewichte  gibt,  die  den  Geschmack  des Evangeliums  haben,  die  beizubehalten  sind,  weil  sie  neues  Leben verheißen.
 
6.  Daher  erscheint  es  mir  wichtig,  das  nicht  aus  den  Augen  zu verlieren,  was  «die  Kirche  wiederholt  gelehrt  hat,  dass  wir  nicht  durch unsere Werke oder unsere Anstrengungen gerechtfertigt werden, sondern durch die Gnade des Herrn, der die Initiative ergreift»15. Ohne diesen Blick der  göttlichen  Tugenden  laufen  wir  Gefahr,  in  den  verschiedenen Erneuerungsbestrebungen  das  zu  wiederholen,  was  heute  die  kirchliche Gemeinschaft  daran  hindert,  die  barmherzige  Liebe  Gottes  zu verkündigen. Die Art und Weise der Annahme der derzeitigen Situation wird bestimmend sein für die Früchte, die sich daraus entwickeln werden.
Darum  appelliere  ich,  dass  dies  unter  dem  Blickwinkel  der  göttlichen Tugenden  geschehen  soll.  Das  Evangelium  der  Gnade  mit  der Heimsuchung des Heiligen Geistes sei das Licht und der Führer, damit ihr euch  diesen  Herausforderungen  stellen  könnt.  Sooft  eine  kirchliche Gemeinschaft  versucht  hat,  alleine  aus  ihren  Problemen herauszukommen,  und  lediglich  auf  die  eigenen  Kräfte,  die  eigenen Methoden und die eigene Intelligenz vertraute, endete das darin, die Übel, die man überwinden wollte, noch zu vermehren und aufrechtzuerhalten.
Die Vergebung und das Heil sind nicht etwas, das wir erkaufen müssen, «oder  was  wir  durch  unsere  Werke  oder  unsere  Bemühungen  erwerben müssen. Er vergibt und befreit uns unentgeltlich. Seine Hingabe am Kreuzist etwas so Großes, dass wir es weder bezahlen können noch sollen, wir können  dieses  Geschenk  nur  mit  größter  Dankbarkeit  entgegennehmen, voll  Freude,  so  geliebt  zu  werden,  noch  bevor  wir  überhaupt  daran denken»16.
 
Das  gegenwärtige  Bild  der  Lage  erlaubt  uns  nicht,  den  Blick  dafür  zu verlieren,  dass  unsere  Sendung  sich  nicht  an  Prognosen,  Berechnungen oder  ermutigenden  oder  entmutigenden  Umfragen  festmacht,  und  zwar weder auf kirchlicher, noch auf  politischer, ökonomischer oder sozialer Ebene  und ebenso wenig  an  erfolg-reichen  Ergebnissen  unserer Pastoralplanungen17. Alles  das ist  von  Bedeutung,  auch  diese  Dinge  zu werten,  hinzuhören,  auszuwerten  und  zu  beachten;  in  sich  jedoch erschöpft sich darin nicht  unser  Gläubig-Sein.  Unsere  Sendung  und unser Daseinsgrund  wurzelt  darin,  dass  «Gott  die  Welt  so  sehr  geliebt hat,  dass  er  seinen  einzigen  Sohn  dahingab,  damit  alle,  die  an  ihn glauben,  nicht  verloren  gehen,  sondern  das  ewige  Leben  haben»  (Joh 3,16).  «Ohne  neues  Leben  und  echten,  vom  Evangelium  inspirierten Geist,  ohne  „Treue  der  Kirche  gegenüber ihrer  eigenen  Berufung“  wird jegliche  neue  Struktur  in  kurzer  Zeit  verderben»18. Deshalb  kann  der bevorstehende  Wandlungsprozess  nicht  ausschließlich  reagierend  auf äußere Fakten  und  Notwendigkeiten antworten, wie es zum Beispiel der starke Rückgang der Geburtenzahl und die Überalterung der Gemeinden sind,  die nicht erlauben, einen normalen Generationen-wechsel ins Auge zu  fassen.  Objektive  und  gültige  Ursachen  würden  jedoch,  werden  sie isoliert  vom  Geheimnis  der  Kirche  betrachtet,  eine  lediglich  reaktive Haltung  –  sowohl  positiv  wie  negativ  –  begünstigen  und  anregen.  Ein wahrer  Wandlungsprozess  beantwortet,  stellt  aber  zugleich  auch Anforderungen, die unserem Christ-Sein und der ureigenen Dynamik derEvangelisierung der Kirche entspringen; ein solcher Prozess verlangt eine pastorale  Bekehrung.  Wir  werden  aufgefordert,  eine  Haltung einzunehmen, die darauf abzielt, das Evangelium zu leben und transparent zu machen, indem sie mit «dem grauen Pragmatismus des täglichen Lebens der  Kirche  bricht,  in  dem  anscheinend  alles  normal  abläuft,  aber  in Wirklichkeit  der  Glaube  nachlässt  und  ins  Schäbige  absinkt»19. Pastorale Bekehrung  ruft  uns  in  Erinnerung,  dass  die  Evangelisierung  unser Leitkriterium schlechthin sein muss, unter dem wir alle Schritte erkennen können,  die  wir  als  kirchliche  Gemeinschaft  gerufen  sind  in  Gang  zu setzen gerufen sind; Evangelisieren bildet die eigentliche und wesentliche Sendung der Kirche20.
 
7.  Deshalb  ist  es,  wie  Eure  Bischöfe  bereits  betont  haben, notwendig,  den  Primat  der Evangelisierung  zurückzugewinnen,  um  die Zukunft mit Vertrauen und Hoffnung in den Blick zu nehmen, denn «die Kirche,  Trägerin  der  Evangelisierung,  beginnt  damit,  sich  selbst  zu evangelisieren. Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und gepredigter Hoffnung, als Gemeinschaft brüderlicher Liebe muss die Kirche  unablässig  selbst  vernehmen,  was  sie  glauben muss,  welches  die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot der Liebe ist»21.
 
Die so gelebte  Evangelisierung  ist  keine  Taktik  kirchlicher Neupositionierung  in  der  Welt  von  heute,  oder  kein  Akt  der Eroberung, der Dominanz oder territorialen Erweiterung; sie ist keine
„Retusche“,  die  die  Kirche  an  den  Zeitgeist  anpasst,  sie  aber  ihre Originalität  und  ihre  prophetische  Sendung  verlieren  lässt.  Auch bedeutet  Evangelisierung  nicht  den  Versuch,  Gewohnheiten  und Praktiken  zurückzugewinnen,  die  in  anderen  kulturellen Zusammenhängen einen Sinn ergaben. Nein, die Evangelisierung ist ein Weg der Jüngerschaft in Antwort auf die Liebe zu Dem, der uns zuerst geliebt  hat  (vgl.  1  Joh  4,19);  ein  Weg  also,  der  einen  Glaubenermöglicht, der mit Freude gelebt, erfahren, gefeiert und  bezeugt wird.
Die  Evangelisierung  führt  uns  dazu,  die  Freude  am  Evangelium wiederzugewinnen,  die  Freude,  Christen  zu  sein. Es  gibt  ganz  sicher harte  Momente  und  Zeiten  des  Kreuzes;  nichts  aber  kann  die übernatürliche Freude zerstören, die es versteht sich anzupassen, sich zu wandeln und die immer bleibt, wie ein wenn auch leichtes Aufstrahlen von  Licht,  das  aus  der  persönlichen  Sicherheit hervorgeht, unendlich geliebt zu sein, über alles andere hinaus. Die Evangelisierung bringt innere Sicherheit  hervor,  «eine  hoffnungsfrohe  Gelassenheit,  die  eine geistliche  Zufriedenheit  schenkt,  die  für  weltliche  Maßstäbe unverständlich ist»22. Verstimmung, Apathie, Bitterkeit, Kritiksucht sowie
Traurigkeit  sind  keine  guten  Zeichen  oder  Ratgeber;  vielmehr  gibt  es Zeiten in denen «die Traurigkeit mitunter mit Undankbarkeit zu tun hat: Man  ist  so  in  sich  selbst  verschlossen,  dass  man  unfähig  wird,  die Geschenke Gottes anzuerkennen»23.
 
8.  Deshalb muss unser Hauptaugenmerk sein, wie wir diese Freude mitteilen:  indem  wir  uns  öffnen  und  hinausgehen,  um  unseren  Brüdern und  Schwestern  zu  begegnen,  besonders  jenen,  die  an  den  Schwellen unserer  Kirchentüren,  auf  den  Straßen,  in  den  Gefängnissen,  in  den Krankenhäusern, auf den Plätzen und in den Städten zu finden sind. Der Herr  drückte  sich  klar  aus:  «Sucht  aber  zuerst  sein  Reich  und  seine Gerechtigkeit;  dann  wird  euch  alles andere dazugegeben» (Mt 6,33). Das bedeutet  hinauszugehen,  um  mit  dem  Geist  Christi  alle  Wirklichkeiten dieser Erde zu salben, an ihren vielfältigen Scheidewegen, ganz besonders dort, «wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, um mit dem Wort  Jesu  den  innersten  Kern  der  Seele  der  Städte  zu  erreichen»24.  Das bedeutet mitzuhelfen, dass das Leiden Christi wirklich und konkret jenes vielfältige  Leiden  und  jene  Situationen  berühren  kann,  in  denen  sein Angesicht  weiterhin  unter  Sünde  und  Ungleichheit  leidet.  Möge  dieses Leiden  den  alten  und  neuen  Formen  der  Sklaverei,  welche  Männer  und Frauen  gleichermaßen  verletzen,  die  Maske  herunterreißen,  besonders heute, da wir immer neu ausländerfeindlichen Reden gegenüberstehen, die
eine  Kultur  fördern,  die  als  Grundlage  die  Gleichgültigkeit,  die Verschlossenheit sowie den Individualismus und die Ausweisung hat. Und es  sei  im  Gegenzug  das  Leiden  Christi,  das  in unseren  Gemeinden  und Gemeinschaften,  besonders  unter  den  jüngeren  Menschen,  die Leidenschaft für sein Reich  erwecke!
 
Das fordert von uns, «einen geistlichen Wohlgefallen daran zu finden, nahe am  Leben  der Menschen zu sein,  bis  zu  dem Punkt,  dass man  entdeckt, dass dies eine Quelle höherer Freude ist. Die Mission ist eine Leidenschaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk»25.
 
So müssten wir uns also fragen, was der Geist heute der Kirche sagt (vgl. Offb  2,7),  um  die  Zeichen  der  Zeit  zu  erkennen26, was  nicht gleichbedeutend ist mit einem bloßen Anpassen an den Zeitgeist (vgl. Röm 12,2). Alle Bemühungen des Hörens, des Beratens und der Unterscheidung zielen  darauf  ab,  dass  die  Kirche  im  Verkünden  der  Freude  des Evangeliums, der Grundlage, auf der alle Fragen Licht und Antwort finden können, täglich treuer, verfügbarer, gewandter und transparenter wird27.
«Die Herausforderungen existieren, um überwunden zu werden. Seien wir realistisch,  doch  ohne  die  Heiterkeit,  den  Wagemut  und  die hoffnungsvolle  Hingabe  zu  verlieren!  Lassen  wir  uns  die  missionarische Kraft nicht nehmen!»28.
 
9.  Das Zweite Vatikanische Konzil war ein wichtiger Schritt für die Heranbildung des Bewusstseins, das die Kirche sowohl über sich selbst als auch über ihre Mission in der heutigen Welt hat. Dieser Weg, der vor über fünfzig  Jahren  begann,  spornt  uns  weiterhin  zu  seiner  Rezeption  und Weiterentwicklung  an  und  ist  jedenfalls  noch  nicht  an  seinem  Ende angelangt, insbesondere bezüglich der Synodalität, die berufen ist, sich auf den  verschiedenen  Ebenen  des  kirchlichen  Lebens  zu  entfalten  (Pfarrei, Diözesen,  auf  nationaler  Ebene,  in  der  Weltkirche  sowie  in  den
verschiedenen  Kongregationen  und  Gemeinschaften).  Es  ist  Aufgabe dieses  Prozesses,  gerade  in  diesen  Zeiten  starker  Fragmentierung  und Polarisierung sicherzustellen, dass der
Sensus Ecclesiae auch tatsächlich in jeder  Entscheidung  lebt,  die  wir  treffen,  und  der  alle  Ebenen  nährt  und durchdringt.  Es  geht  um  das  Leben  und  das  Empfinden  mit  der  Kirche und in der  Kirche, das uns in nicht wenigen Situationen auch Leiden in der  Kirche  und  an  der  Kirche  verursachen  wird.  Die  Weltkirche  lebt  in und  aus  den  Teilkirchen29,  so  wie  die  Teilkirchen  in  und  aus  der Weltkirche  leben  und  erblühen;  falls  sie  von  der  Weltkirche  getrennt wären, würden sie sich schwächen, verderben und sterben. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Gemeinschaft mit dem ganzen Leib der Kirche immer  lebendig  und  wirksam  zu  erhalten.  Das  hilft  uns,  die  Angst  zu überwinden, die uns in uns selbst und in unseren Besonderheiten isoliert, damit wir demjenigen in die Augen schauen und zuhören oder damit wir auf  Bedürfnisse  verzichten  können  und  so  denjenigen  zu  begleiten vermögen, der am Straßenrand liegen geblieben ist. Manchmal kann sich diese  Haltung  in  einer  minimalen  Geste  zeigen,  wie  jene  des  Vaters  des Verlorenen Sohnes, der die Türen offen hält, so dass der Sohn, wenn er zurückkehrt,  ohne  Schwierigkeiten  eintreten  kann30. Das bedeutet  nicht, nicht  zu  gehen,  nicht  voranzuschreiten,  nichts  zu  ändern  und  vielleicht nicht einmal zu debattieren und zu widersprechen, sondern es ist einfach die Folge des Wissens, dass wir wesentlich Teil eines größeren Leibes sind, der uns beansprucht, der auf uns wartet und uns braucht, und den auch wir beanspruchen, erwarten und brauchen. Es ist die Freude, sich als Teil des heiligen und geduldigen treuen Volkes Gottes zu fühlen.
 
Die  anstehenden  Herausforderungen,  die  verschiedenen  Themen  und Fragestellungen  können  nicht  ignoriert  oder  verschleiert  werden;  man muss sich ihnen stellen, wobei darauf zu achten ist, dass wir uns nicht in ihnen  verstricken  und  den  Weitblick  verlieren,  der  Horizont  sich  dabei
begrenzt und die Wirklichkeit zerbröckelt. «Wenn wir im Auf und Ab der Konflikte  verharren,  verlieren  wir  den  Sinn  für  die  tiefe  Einheit  der Wirklichkeit»31.  In  diesem  Sinne  schenkt  uns  der Sensus Ecclesiae diesen weiten Horizont der Möglichkeit, aus dem heraus versucht werden kann, auf die dringenden Fragen zu antworten. Der Sensus Ecclesiae erinnert uns zugleich  an  die  Schönheit  des  vielgestaltigen  Angesichts  der  Kirche32. Dieses  Gesicht  ist  vielfältig,  nicht  nur  aus  einer  räumlichen  Perspektive heraus, in ihren Völkern, Rassen und Kulturen33, sondern auch aus ihrer
zeitlichen  Wirklichkeit  heraus,  die  es  uns  erlaubt,  in  die  Quellen  der lebendigsten  und  vollsten  Tradition  einzutauchen.  Ihrerseits  ist  diese Tradition  berufen,  das  Feuer  am  Leben  zu  erhalten,  statt  lediglich  die Asche zu bewahren34. Sie erlaubt es allen Generationen, die erste Liebe mit Hilfe des Heiligen Geistes wieder zu  entzünden.
 
Der Sensus  Ecclesiae befreit  uns  von  Eigenbrötelei  und  ideologischen Tendenzen,  um  uns  einen  Geschmack  dieser  Gewissheit  des  Zweiten Vatikanischen Konzils zu geben, als es bekräftigte, dass die Salbung des Heiligen (vgl. 1 Joh 2,20. 27) zur Gesamtheit der Gläubigen gehört35. Die Gemeinschaft mit dem heiligen und treuen Volk Gottes, dem Träger der Salbung, hält die Hoffnung und die Gewissheit am Leben, dass der Herr an unserer Seite wandelt und dass er es ist, der unsere Schritte stützt.
Ein  gesundes  gemeinsames  Auf-dem-Weg-Sein  muss  diese Überzeugung  durchscheinen  lassen  in  der  Suche  nach  Mechanismen, durch die alle Stimmen, insbesondere die der Einfachen und Kleinen,
Raum und Gehör finden. Die Salbung des Heiligen, die über den ganzen kirchlichen Leib ausgegossen wurde, «verteilt besondere Gnaden unter den Gläubigen  eines  jeden  Standes  und  jeder  Lebensbedingung  und verteilt seine Gaben an jeden nach seinem Willen (1 Kor 12,11). Durch diese macht er sie geeignet und bereit, für die Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche  verschiedene  Werke  und  Dienste  zu  übernehmen  gemäß  dem Wort: Jedem wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben (1 Kor 12,7)»36.
Dies hilft uns, auf diese alte und immer neue Versuchung der Förderer des Gnostizismus  zu  achten,  die,  um  sich  einen  eigenen  Namen  zu  machen und  den  Ruf  ihrer  Lehre  und  ihren  Ruhm  zu  mehren,  versucht  haben, etwas immer Neues und Anderes zu sagen als das, was das Wort Gottes
ihnen  geschenkt  hat.  Es  ist  das,  was  der  heilige  Johannes  mit  dem Terminus proagon beschreibt  (2  Joh  9); gemeint  ist  damit  derjenige,  der voraus  sein  will,  der  Fortgeschrittene,  der  vorgibt  über  das  „kirchliche Wir“  hinauszugehen,  das  jedoch  vor  den  Exzessen  bewahrt,  die  die
Gemeinschaft  bedrohen37.
 
10.  Deshalb  achtet  aufmerksam  auf  jede  Versuchung,  die  dazu führt, das Volk Gottes auf eine erleuchtete Gruppe reduzieren zu wollen, die nicht erlaubt, die unscheinbare, zerstreute Heiligkeit zu sehen, sich an ihr  zu  freuen  und  dafür  zu  danken.  Diese  Heiligkeit,  die  da  lebt  «im geduldigen Volk Gottes: in den Eltern, die  ihre  Kinder mit  so  viel  Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln. In dieser Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens sehe  ich  die  Heiligkeit  der  streitenden  Kirche.  Oft  ist  das  die  Heiligkeit „von  nebenan“,  derer,  die  in  unserer  Nähe  wohnen  und  die  ein Widerschein der Gegenwart Gottes sind»38. Das ist die Heiligkeit, die die Kirche  vor  jeder  ideologischen,  pseudo-wissenschaftlichen  und manipulativen Reduktion schützt und immer bewahrt hat. Diese Heiligkeit regt  uns  an,  erinnert  daran  und  lädt  ein,  diesen  marianischen  Stil  im missionarischen Wirken der Kirche zu entwickeln, die so in der Lage ist, Gerechtigkeit  mit  Barmherzigkeit,  Kontemplation  mit  Aktion  und Zärtlichkeit mit Überzeugung auszudrücken. «Denn jedes Mal, wenn wir auf  Maria  schauen,  glauben  wir  wieder  an  das  Revolutionäre  der Zärtlichkeit  und  der  Liebe.  An  ihr  sehen  wir,  dass  die  Demut  und  die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind, die nicht  andere  schlecht  zu  behandeln  brauchen,  um  sich  wichtig  zu fühlen»39.
 
In  meinem  Heimatland  gibt  es  ein  zum  Nachdenken  anregendes  und kraftvolles Sprichwort, das das erhellen kann: «Vereint seien die Brüder, denn das ist das erste Gesetz; sie mögen die Einheit wahren zu jeder Zeit, denn  wenn  sie  untereinander  kämpfen,  werden  sie  von  den Außenstehenden  verschlungen»40.  Brüder  und  Schwestern,  haben  wir Sorge  füreinander!  Achten  wir  auf  die  Versuchung  durch  den  Vater  der Lüge  und  der  Trennung,  den  Meister  der  Spaltung,  der  beim  Antreiben der  Suche  nach  einem  scheinbaren  Gut  oder  einer  Antwort  auf  eine bestimmte Situation letztendlich den Leib des heiligen und treuen Volkes Gottes  zerstückelt!  Begeben  wir  uns  als  apostolische  Körper  gemeinsam auf  den  Weg  und  hören  wir  einander  unter  der  Führung  des  Heiligen Geistes – auch wenn wir nicht in gleicher Weise denken – aus der weisen Überzeugung heraus, dass «die Kirche im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle  der  göttlichen  Wahrheit  entgegenstrebt,  bis  an  ihr  sich  Gottes Worte erfüllen»41.
 
11.  Die  synodale  Sichtweise  hebt  weder  Gegensätze  oder Verwirrungen auf, noch werden durch sie Konflikte den Beschlüssen eines "guten  Konsenses",  die  den  Glauben  kompromittieren,  den  Ergebnissen von  Volkszählungen  oder  Erhebungen,  die  sich  zu  diesem  oder  jenem Thema  ergeben,  untergeordnet.  Das  wäre  sehr  einschränkend.  Mit  dem Hintergrund  und  der  Zentralität  der  Evangelisierung  und  dem Sensus Ecclesiae als bestimmende Elemente unserer kirchlichen DNA beansprucht die Synodalität bewusst eine Art und Weise des Kirche-Seins anzunehmen, bei dem «das Ganze mehr ist als der Teil, und es ist auch mehr als ihre einfache Summe. Man darf sich also nicht zu sehr in Fragen verbeißen, die begrenzte  Sondersituationen  betreffen,  sondern  muss  immer  den  Blick weiten,  um  ein  größeres  Gut  zu  erkennen,  das  uns  allen  Nutzen  bringt.
Das  darf  allerdings  nicht  den  Charakter  einer  Flucht  oder  einer Entwurzelung  haben.  Es  ist  notwendig,  die  Wurzeln  in  den  fruchtbaren Boden  zu  senken  und  in  die  Geschichte  des  eigenen  Ortes,  die  ein Geschenk Gottes ist. Man arbeitet im Kleinen, mit dem, was in der Nähe ist, jedoch mit einer weiteren Perspektive»42.
 
12.  Dies verlangt vom ganzen Volk Gottes und besonders von ihren Hirten  eine  Haltung  der  Wachsamkeit  und  der  Bekehrung,  die  es ermöglicht,  das  Leben  und  die  Wirksamkeit  dieser  Wirklichkeiten  zu erhalten.  Die  Wachsamkeit  und  die  Bekehrung  sind  Gaben,  die  nur  der Herr uns schenken kann. Uns muss es genügen, durch Gebet und Fasten um seine Gnade zu bitten. Immer hat es mich beeindruckt, wie der Herr während  seines  irdischen  Lebens,  insbesondere  in  den  Augenblicken großer Entscheidungen, in besonderer Weise versucht wurde. Gebet und Fasten  hatten  eine  besondere  und  bestimmende  Bedeutung  für  sein gesamtes  nachfolgendes  Handeln  (vgl.  Mt  4,1-11).  Auch  die  Synodalität kann sich dieser Logik nicht entziehen und muss immer von der Gnade
der  Umkehr  begleitet  sein,  damit  unser  persönliches  und gemeinschaftliches  Handeln  sich  immer  mehr  der Kenosis Christi angleichen  und  sie  darstellen  kann  (vgl.  Phil  2,1-11).  Als  Leib  Christi sprechen,  handeln  und  antworten,  bedeutet  auch,  in  der  Art  und  Weise Christi mit den gleichen Haltungen, mit derselben Umsicht und denselben Prioritäten  zu  sprechen  und  zu  handeln.  Dem  Beispiel  des  Meisters folgend,  der «sich selbst entäußerte, und wie ein Sklave wurde» (Phil 2,7), befreit  uns  die  Gnade  der  Bekehrung  deshalb  von  falschen  und  sterilen Protagonismen.  Sie  befreit  uns  von der  Versuchung,  in  geschützten  und bequemen  Positionen  zu  verharren,  und  lädt  uns  ein,  an  die  Ränder  zu gehen, um uns selbst zu finden und besser auf den Herrn zu hören.
 
Diese  Haltung  der  Entäußerung  erlaubt  es  uns  auch,  die  kreative  und immer  reiche  Kraft  der  Hoffnung  zu  erfahren,  die  aus  der  Armut  des Evangeliums geboren wurde, zu der wir berufen sind; sie macht uns frei zur Evangelisierung und zum Zeugnis. So erlauben wir dem Geist, unser Leben zu erfrischen und zu erneuern, indem er es von Sklaverei, Trägheit und  nebensächlichem  Komfort  befreit,  die  uns  daran  hindern, hinauszugehen und, vor allem, anzubeten. Denn in der Anbetung erfüllt der Mensch seine höchste Pflicht und sie erlaubt ihm, einen Blick auf die kommende  Klarheit  zu  werfen,  die  uns  hilft,  die  neue  Schöpfung  zu verkosten43.
 
Ohne  diese  Perspektive  laufen  wir  Gefahr,  von  uns  selbst  oder  vom Wunsch  nach  Selbstrechtfertigung  und  Selbsterhaltung  auszugehen,  was zu  Veränderungen  und  Regelungen  führt,  die  auf  halbem  Weg  stecken bleiben. Weit davon entfernt, die Probleme zu lösen, endet das darin, dass wir  uns  in  einer  endlosen  Spirale  verfangen,  und  damit  die  schönste, befreiende  und  verheißungsvolle  Verkündigung  erstickt  und  abtötet,  die wir haben und die unserer Existenz einen Sinn gibt: Jesus Christus ist der Herr! Wir bedürfen des Gebetes, der Buße und der Anbetung, die es uns ermöglichen, mit dem Zöllner zu sprechen: «Gott, sei mir Sünder gnädig!» (Lk  18,13),  nicht  in  heuchlerischer,  infantiler oder  kleinmütiger  Weise, sondern  mit  dem  Mut,  die  Tür  zu  öffnen  und  das  zu  sehen,  was normalerweise  durch  Oberflächlichkeit,  durch  die  Kultur  des Wohlbefindens und des Augenscheins verdeckt bleibt44.
 
Im Grunde genommen ermöglichen uns diese Geisteshaltungen – wahre geistliche  Heilmittel  (Gebet,  Buße  und  Anbetung)  –,  noch  einmal  zu erfahren,  dass  Christ-Sein  bedeutet,  sich  selig  und  gesegnet  und  somit Träger der Glückseligkeit für die anderen zu wissen. Christ-Sein bedeutet, der  Kirche  der  Seligpreisungen  für  die  Seliggepriesenen  von  heute anzugehören: die Armen, die Hungrigen, die Weinenden, die Gehassten, die Ausgeschlossenen und die Beschimpften (vgl. Lk 6,20-23). Vergessen wir nicht: «In den Seligpreisungen zeigt der Herr uns den Weg. Wenn wir den  Weg  der  Seligpreisungen  gehen,  können  wir  zum  wahrsten menschlichen  und  göttlichen  Glück  gelangen.  Die  Seligpreisungen  sind der  Spiegel,  der  uns  mit  einem  Blick  darauf  kundtut,  ob  wir  auf  einem richtigen Weg gehen: Dieser Spiegel lügt nicht»45!
 
13.  Liebe Brüder und Schwestern, ich weiß um eure Standfestigkeit und mir ist bekannt, was ihr für den Namen des Herrn durchgestanden und erduldet habt; ich weiß auch um eurem Wunsch und eurer Verlangen, die erste Liebe in der Kirche mit der Kraft des Geistes wiederzubeleben (vgl. Offb  2,1-5).  Dieser  Geist,  der  das  gebrochene  Schilfrohr  nicht  zerbricht und  den  glimmenden  Docht  nicht  auslöscht  (vgl.  Jes  42,3),  nähre  und belebe  das  Gute,  das  euer  Volk  auszeichnet,  und  lasse  es  erblühen!  Ich möchte euch zur Seite stehen und euch begleiten in der Gewissheit, dass, wenn  der  Herr  uns  für  würdig  hält,  diese  Stunde  zu  leben,  Er  das  nicht getan hat, um uns angesichts der Herausforderungen zu beschämen oder zu  lähmen.  Vielmehr  will  er,  dass  Sein  Wort  einmal  mehr  unser  Herz herausfordert  und entzündet, wie Er es bei euren Vätern getan hat, damit eure  Söhne  und  Töchter  Visionen  und  eure  Alten  wieder  prophetische Träume empfangen (vgl. Joel 3,1). Seine Liebe «erlaubt uns, das Haupt zu erheben  und  neu  zu  beginnen.  Fliehen  wir  nicht  vor  der  Auferstehung Jesu, geben wir uns niemals geschlagen, was auch immer geschehen mag. Nichts soll stärker sein als sein Leben, das uns vorantreibt!»46.
 
Und so bitte ich Euch, betet für mich!
 
Vatikan, den 29. Juni 2019


1  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 11.
2  Vgl. Benedikt XVI., Begegnung mit den Deutschen Bischöfen in Köln, XX. Weltjugendtag (21.
August 2005).
3  Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 58.
4   Benedikt  XVI.,  Begegnung  mit  den  Deutschen  Bischöfen  in  Köln,  XX.  Weltjugendtag  (21.
August 2005).
5  Franziskus, Ad limina Besuch der Deutschen Bischöfe (20. November 2015).
6  Vgl. Franziskus, Apostolische Konstitution Episcopalis communio (15. September 2018).
7  Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 23; Konzilsdekret über den
Dienst  der  Bischöfe  Christus  Dominus,  3.  Mit  einem  Zitat  der  Internationale
Theologenkommission  aus  deren  jüngstem  Dokument  Die  Synodalität  im  Leben  und  in  der
Sendung  der  Kirche,  sagte  ich  den  italienischen  Bischöfen:  «Die  Kollegialität  ist  deshalb  die
spezifische Form in der die kirchliche Synodalität zum Ausdruck kommt; sie verwirklicht sich
durch den Dienst der Bischöfe auf der Ebene der communio unter den Teilkirchen einer Region
und  durch  die  communio  unter  allen  Teilkirchen  in  der  Weltkirche.  Ein  jeder  authentischer
Ausdruck  der  Synodalität  verlangt  wesensmäßig  den  kollegialen  Dienst  der  Bischöfe»,  cf.
Ansprache an die Italienische Bischofskonferenz (20. Mai 2019).
8  Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 8.
9  Yves Congar, Vera e falsa riforma nella Chiesa, 259.
10  Franziskus, Ansprache an die Deutsche Bischofkonferenz (20. November 2015).
11  Schlussendlich ist es die Logik eines technokratischen Denkens, das sich allen
Entscheidungen, Beziehungen und Nuancen unseres Lebens aufnötigt (vgl. Franziskus,
Enzyklika Laudato si’, 106-114). Deshalb beeinflusst eine solche Logik auch unser Denken und
Fühlen und unsere Art und Weise, Gott und den Nächsten zu lieben.
12  Franziskus, Diözesanversammlung des Bistums Rom (9. Mai 2019).
13  Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 97: «Gott befreie uns von einer
weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen! Diese erstickende
Weltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reine Luft des Heiligen Geistes kostet, der uns
davon befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in einem religiösen Anschein über gottloser
Leere. Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!».
14  Franziskus, Diözesanversammlung des Bistums Rom (9. Mai 2019).
15  Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 52.
16  Franziskus, Nachtsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit, 121.
17  Eine Haltung, die entweder einen Geist des uneingeschränkten Verlangens nach Erfolg
entfacht im Falle günstigen Windes oder eine Opferhaltung hervorbringt, wenn „es gilt, gegen
den Wind zu rudern“. Diese Denkweisen sind dem Geist des Evangeliums fremd und lassen
eine elitäre Glaubenspraxis durchscheinen. Weder das eine, noch das andere; der Christ lebt
aus der Danksagung.
18  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 26.
19  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 83.
20  Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 14.
21  Ebd, 15.
22  Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 125.
23  Ebd, 126.
24  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 74.
25  Ebd, 268.
26  Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 4; 11.
27  Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 28.
28  Ebd, 109.
29  Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 23.
30  Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 46.
31  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 226.
32  Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte, 40.
33  Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 13.
34  Gustav Mahler: „die Tradition ist die Gewähr für die Zukunft und nicht die Hüterin der
Asche“.
35  Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 12.
36  Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 12.
37  Vgl. Joseph Ratzinger, Der Gott Jesu Christi, München 1976, 104-105.
38  Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 7.
39  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 288.
40  José Hernandez, Martín Fierro, secunda parte, Decimoséptima sextina.
41  II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 8.
42  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 235.
43  Vgl. Romano Guardini, Pequeña Suma Teológica, Madrid 1963, 27-33
44  Vgl. J. M. Bergoglio, Sobre la acusación de sí, 2.
45  Franziskus Ansprache vor dem 5. Nationalen Kongress der Kirche in Italien, Florenz,
10.  November 2015.
46  Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 3.