"Österlich leben!"

Osterpredigt von Bischof Joachim Wanke im Erfurter Dom

Das ist der Unterschied zwischen meinem Computer und mir: Der Computer weiß sofort, was los ist - ich dagegen begreife erst manches nach und nach! Der Computer reagiert in Blitzesschnelle auf jeden Tastenklick. Bei mir dauert es länger. "Ach, so hast du das gemeint?!"


Wem ist das nicht auch schon passiert: Erst nach und nach fängt man etwas zu begreifen an. Manche Wahrheit muss gleichsam mit uns mitwachsen. Sie braucht Zeit, sich langsam zu "setzen", begriffen - und vor allem angenommen zu werden.


Gestern rief jemand im Bischofshaus an und fragte nach dem Beginn des Osternacht-Gottesdienstes. Der Anrufer war offensichtlich nicht sonderlich kirchlich. "Wissen Sie" - so seine Begründung für den Anruf - "wir bekommen Besuch aus dem Eichsfeld. Die wollen in die Kirche!" (was den Bischof natürlich sehr erfreut hat!). Und der Anrufer fügte hinzu: "Wir waren voriges Jahr schon mal mit im Dom. Das war ganz schön. Da haben wir alle ein Licht gekriegt!" Das hatte sich eingeprägt: Ein Osterlicht bekommen. Ob dem Anrufer dabei auch das Osterlicht im Herzen aufgegangen ist?


Aber bleiben wir bei uns. Ist uns dieses Licht in seiner vollen Bedeutung aufgegangen, das die Osterkerze symbolisiert? Manchmal sagen wir: "Jetzt ist mir ein Licht aufgegangen!" Und wir meinen damit: Jetzt habe ich begriffen, worum es geht. Also: Verstehen, was das heißt (wie wir heute in der Tagesoration gebetet haben): "Im Licht des Lebens wandeln", das mit Christi Auferstehung in die Welt gekommen ist."



Liebe Brüder und Schwestern! Das Begreifen des Ostergeheimnisses braucht seine Zeit. Ja - wir glauben an Christi Ostersieg. Wir bekennen in jedem Gottesdienst seine Auferstehung von den Toten. Aber können wir wirklich sagen, wir seien mit dem Erfassen dieses Bekenntnisses schon am Ende?


Es ist so wie mit einem Kind. Die Eltern antworten ihm auf seine kindlichen Fragen. Sie antworten wahrheitsgemäß, etwa: "Ja, es gibt einen Vater im Himmel, der dich lieb hat, mehr als wir dich lieb haben." Aber mit zunehmenden Alter des Kindes muss diese Wahrheit mitwachsen. Das Fassungsvermögen muss sich gleichsam weiten: vom Kind hin zum Jugendlichen, zum Menschen in seiner vollen Lebenskraft, wieder anders beim älter Gewordenen, beim Sterbenden. Die Wahrheit des christlichen Glaubens wird nicht computermäßig erfasst, sondern mit dem Herzen, in einem Prozess des immer tieferen Verstehens.


Das Leben selbst führt uns immer tiefer in solche existentielle Wahrheiten ein, wie etwa den Osterglauben, bis wir einmal in der Seligkeit des Himmels wirklich sagen können: Ja, jetzt verstehe ich, was ich damals bekannt habe: Auferstehen, neu geboren werden, im Licht des Lebens wandeln. Jetzt weiß ich wirklich, was ich zu Ostern Jahr für Jahr gefeiert habe, und was mir im Lärm und Gedränge des Alltags nicht bis ins Herz gedrungen ist: "Ja, bei Dir, Gott, ist die Quelle des Lebens."


Darum liebe Brüder und Schwestern: Unser Osterglaube darf und muss ein Weg sein. Christus hat ja den Jüngern den Heiligen Geist verheißen, von dem er sagt: Er wird uns in die volle Wahrheit einführen. Es gibt ein Wachsen, ein Voranschreiten im Osterglauben, so wie es ein Wachsen und Reifen des Menschen überhaupt gibt. Woran kann man dieses Wachsen und Reifen erkennen?


Daran, dass wir merken,

    - wie kostbar unser Leben ist,


    - wie gut es ist, nicht allein zu sein, und


    - wie wichtig es ist, hoffen zu dürfen.


Das sind für mich drei Stichworte einer österlichen Lebenshaltung.


Kostbares Leben! Das heute zu betonen, es herauszustellen und ins Bewusstsein zu heben ist wahrlich Aufgabe einer Osterpredigt. Wir leben in Zeiten, in denen ein Menschenleben nicht viel gilt. Völkermorde solch großen Ausmaßes wie heute kannte das angeblich so finstere Mittelalter nicht. Terrorakte ohne Rücksicht auf zivile Opfer, ja - unter bewusster Einkalkulierung möglichst vieler Opfer Unbeteiligter sind ein Merkmal der Moderne. Leben wird heute zur Kalkulationsmasse, zur Ware, zum Gebrauchsobjekt. Man wirft es weg, wenn es zu nichts mehr nütze ist.


Kostbares Leben, Leben als Gabe, als unverfügbares Geschenk! Wer das sagen kann, der fängt an, Ostern zu begreifen. Unser Leben ist kostbar nicht wegen der Länge seiner Jahre, sondern wegen seiner Einmaligkeit. Wir sind nicht nur ein Haufen zappelnder Körperzellen. Wir sind Person, Träger eines Namens, wir sind angerufen und geliebt!



Ostern begreifen heißt: das eigene Leben immer tiefer als Beziehungsgeschehen zu verstehen. Wir hätten umsonst gelebt, wenn wir mit uns allein geblieben wären. Hölle ist nach meinem theologischen Verständnis "Egoismus pur", in sich erstarrte, gleichsam vereiste Beziehungslosigkeit.


Jesus Christus ist gekommen, um uns in neue Beziehung zu Gott zu setzen. Er ist in Person die ausgestreckte Hand Gottes, die Einladung des Vaters. Er will uns anrühren, verwandeln und zu einem Fest seligster Gemeinsamkeit mit seinem Vater führen. Ostern begann für den verlorenen, weggelaufenen Sohn - wir kennen alle das bekannte Gleichnis Jesu - schon im Elend, an den Schweinetrögen, als der verlorene Sohn zur Einsicht kam, dass er eigentlich ein Zuhause hat, wo er erwartet wird. Österlich lebt, wer sich auf den Weg ins Vaterhaus aufmacht, auch wenn er dabei Umwege macht, dabei stolpert oder nur hinkend vorankommt.


So begreife ich mehr und mehr mein Leben als eine Verheißung, die sich in dieser Zeit und Welt höchstens ansatzweise, partiell, aber nie endgültig und vollständig erfüllen kann. Leben ist mehr als es augenblicklich sein kann. Es hat in sich eine Tendenz, sich selbst zu überschreiten. Unser Herz bleibt hungrig, selbst nach noch so schönen glücklichen Momenten, die es gottlob auch noch gibt! Aber mir kommen solche Sternstunden irdischer Seligkeit vor wie ein Locken und Gedrängt-Werden hin zu noch Größerem - so wie einer in der Liebe wachsen kann, wenn der Geliebte sich ihm nicht sofort und ganz gibt, sondern um ihn wirbt und der Liebe des anderen Zeit zum Reifen und Wachsen gibt.


Unser früherer Dogmatikprofessor an der Erfurter Hochschule, Otfried Müller, gab einmal auf die Frage eines Studenten, ob es im Himmel noch Unterschiede in der Seligkeit geben würde, diese Antwort: "Ja, denn der Himmel ist einem Festmahl zu vergleichen. Der kostbare Wein, der den Festgästen gereicht wird, ist für alle gleich. Aber die einen haben kleineTrinkgefäße - und die anderen große!"


Ob das Leben hier auf Erden nicht so etwas ist wie ein "Sich-weit-Machen" für die Liebe Gottes? Der Kleinkarierte hat weniger vom Leben. Das gilt schon nach irdischen Maßstäben. Umso mehr gilt das nach der Logik Jesu, der uns die Bergpredigt geschenkt hat. Wer sich für Gott arm und leer macht, ist besser dran als jener, dessen Leben schon mit irdischem Plunder vollgestopft ist. Da hat am Ende Gott keinen Platz mehr! Österlich leben heißt - in der Erwartung einer Gabe leben, die Gott allein zu schenken vermag, nämlich sich selbst in seiner Herrlichkeit.


Vielleicht gibt es doch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen meinem Computer und mir. Vor einiger Zeit sind wir im Bischöflichen Ordinariat auf ein moderneres Microsoft-Programm umgestiegen. Ich habe nur gestaunt, was mein Computer jetzt alles leistet. Vermutlich nutze ich nur einen Bruchteil dessen, was dieses neue Programm dem Benutzer möglich macht. So ist es wohl auch mit uns Gläubigen. Gott hat sein Osterprogramm schon in uns installiert - aber wir nutzen es zu wenig. Ob wir doch ein wenig mehr üben sollten? Ich habe es mir vorgenommen. Um der besseren Nutzung willen: Einübung für beides, für mein Computerprogramm von Microsoft - und für mein von Gott geschenktes Osterprogramm. Ich hoffe, dass ich in beidem gut voranschreite. Amen.



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