Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
als Evangelium für Ihren Sendungsgottesdienst haben Sie den Bericht von der Aussendung der 72 Jünger im Lukasevangelium ausgewählt. Er beginnt mit einem, für unsere heutigen Verhältnisse, verblüffenden Satz: „Die Ernte ist groß.“ (Lk 10,2). Zur Zeit Jesu mag dies zugetroffen haben. Die Menschen seiner Zeit waren religiös. Unter den Juden herrschte eine große Messiaserwartung. Da konnte die Botschaft des Evangeliums auf offene Ohren hoffen. Heute verblüfft uns dieser Satz eher. Viele Ältere, die die SED-Doktrin im Schulunterricht noch kennengelernt haben, sind davon geprägt und halten Religion für ein Phänomen der Vergangenheit. Für viele Jüngere scheint Religion ein völlig unbekanntes Phänomen zu sein. Liegt vielleicht gerade hierin die Chance einer Ernte? Vielleicht können junge Menschen ganz neu fragen, ob an dem alten „Gottesgerücht“ doch etwas Wahres dran ist? Vielleicht können wir ihnen als Glaubenszeugen eine neue Dimension ihres Lebens erschließen.
Jesus weißt einen Weg, der dorthin führen könnte. Er gibt seinen Jüngern den Auftrag: „Heilt die Kranken, die dort sind.“ (Lk 10,9). Wenn wir Menschen an die Grenzen unseres Lebens gestoßen werden, stellen sich uns neue Fragen. Dies gilt übrigens auch für religiöse Menschen. Der selbstverständliche Glaube an die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben wird auf eine harte Probe gestellt beim Tod lieber Menschen oder beim Nahen des eigenen Todes. Bei kollektiven Katastrophen sind in unserer Gesellschaft die Kirchen in einer erstaunlichen Weise gefragt. Dies dürfte auch bei den individuellen Katastrophen der Fall sein. Sie, liebe neue Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten, möchte ich daher ermutigen, besonders bei den Menschen zu sein, die an die Grenzen des Lebens gestoßen worden sind. Mein Grundsatz ist: „Feiern können die Leute alleine!“
Jesus gibt den 72 Jüngern, die er aussendet, nicht konkrete Hinweise für ihr Leben als Wandermissionar, die zeitgebunden sind und sich nicht mehr direkt auf unsere Situation übertragen lassen. Die Botschaft, die er mitgibt, ist aber dieselbe geblieben: „Das Reich Gottes ist euch nahe!“ (Lk 10,9). Der Evangelist Markus beginnt fast fanfarenartig damit sein Evangelium: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe! Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). In der Theologie der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist sehr viel über die Reich-Gottes-Theologie oder die Herrschaft-Gottes-Theologie reflektiert worden. Vor allem die Spannung, dass das Reich Gottes schon angebrochen, aber noch nicht verwirklicht ist, führt hin zu einem tiefen Verständnis der Botschaft und des Anliegens Jesu Christi. Im Verkündigungsdienst kann man immer wieder entdecken, dass das Reich Gottes – ich spreche auch gern vom Bereich Gottes – unserer Lebenswelt und unserer Lebenswirklichkeit näher ist, als wir manchmal glauben. Diejenigen, die in der kategorialen Pastoral tätig sind, erleben immer wieder die eigentlichen Sehnsüchte der Menschen und ihre verborgenen Hoffnungen. In der Pfarrseelsorge ist es mitunter nicht so einfach für die Menschen, von der Hoffnung zu erzählen, die sie im Inneren erfüllt und die sie in einem christlichen Leben zum Ausdruck bringen. Es bleibt eine Herausforderung, neben all dem Organisatorischen und Praktischen eine Erzählgemeinschaft zu werden, die die Nähe des Gottesreiches bezeugt. Solche Erfahrungen der Nähe Gottes fließen ein in die Feier der Sakramente, bei denen wir die Nähe Gottes im sakramentalen Zeichen erahnen und erspüren.
Liebe künftige Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten, ich danke Ihnen, dass Sie bereit sind, den Sendungsauftrag Jesu Christi anzunehmen und sowohl zu den gläubigen als auch zu den nichtgläubigen Menschen zu gehen mit der alten Botschaft: „Das Reich Gottes ist euch nahe.“
Die Predigt bezieht sich auf das an diesem Tag vorgetragene Evangelium (Lk 10,1-12.16), das nachfolgend nachgelesen werden kann:
"Danach suchte der Herr zweiundsiebzig andere aus und sandte sie zu zweit voraus in alle Städte und Ortschaften, in die er selbst gehen wollte. Er sagte zu ihnen: Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden. Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe! Grüßt niemand unterwegs! Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: Friede diesem Haus! Und wenn dort ein Mann des Friedens wohnt, wird der Friede, den ihr ihm wünscht, auf ihm ruhen; andernfalls wird er zu euch zurückkehren. Bleibt in diesem Haus, esst und trinkt, was man euch anbietet; denn wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn. Zieht nicht von einem Haus in ein anderes! Wenn ihr in eine Stadt kommt und man euch aufnimmt, so esst, was man euch vorsetzt. Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe. Wenn ihr aber in eine Stadt kommt, in der man euch nicht aufnimmt, dann stellt euch auf die Straße und ruft: Selbst den Staub eurer Stadt, der an unseren Füßen klebt, lassen wir euch zurück; doch das sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist nahe. Ich sage euch: Sodom wird es an jenem Tag nicht so schlimm ergehen wie dieser Stadt. Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat."