Als die ersten Töne des Liedes „Mir nach, spricht Christus unser Held“ von den Bläsern erklingen, setzt sich ein großer Zug vom Ausgangspunkt der Palmsonntagsprozession in Bewegung. Punkt 14 Uhr. Herrlich blauer Himmel und viel Sonnenschein. Zwischen den Bläsergruppen und tausenden Gläubigen, unter ihnen die Ministranten, Priester und Ordensleute sowie Bischof Ulrich Neymeyr, die sechs überlebensgroßen Bildnisse. Sie werden jeweils von mehreren Männern im schwarzen Anzug mit Zylinder getragen. Ihre Anzahl liegt zwischen sechs und zwölf, und die braucht es bei den mehreren hundert Kilo, die allein ein Bildnis auf die Waage bringt, auch.
Jedes Mal, wenn sich der Prozessionszug wieder in Bewegung setzt, heißt es von dem, der innerhalb einer Trägergruppe den Ton angibt: „Links, links, links“. Alles muss genau koordiniert sein, sagt Uwe, „sonst tut’s weh“. Er führt die Gruppe, die das Heilige Grab tragen. „Wenn einer dazwischen ist, der nicht trägt, also der hat dann keine Last auf der Schulter, dann fängt es bei den Anderen an und tut weh“. Er selbst trägt seit über 30 Jahren das Bildnis vom Heiligen Grab. Diesen Dienst hat er von seinem Vater übernommen; als Vater einer Tochter muss er nach eigenen Worten in nächster Zeit zusehen, für sich einen Ersatz zu finden. Bei den meisten ist es so, dass diese Tradition vom Vater an den Sohn oder jemand anderen aus der Verwandtschaft weitergegeben wird. Josef hat den Dienst 1999 von seinem Onkel übernommen, der aus Altersgründen nicht mehr weitermachen konnte. Seither trägt er jahrein jahraus das erste Bildnis, das Bezug auf das letzte Abendmahl nimmt. Julius dagegen ist in diesem Jahr zum ersten Mal dabei. Er vertritt den Bruder seiner Freundin. Und mal sehen, vielleicht ist er im nächsten Jahr wieder dabei.
Gerhard hat seinen Platz in der Trägergruppe im vorigen Jahr an seinen Neffen weitergeben und hilft seitdem als Ordner mit. Der gelernte Bäckermeister wurde vor 40 Jahren von einem Kunden angesprochen, ob er am Palmsonntag nicht mittragen könnte, da ein Träger fehlte. Aus seiner Zusage wurden vier Jahrzehnte Trägerdienst.
Ca. eineinhalb Stunden dauert die Prozession, die u.a. über die ca. 1km lange Wilhelmsstraße, die, wie es heißt, Herzschlagader Heiligenstadts, führt. Zurück zum großen Platz nahe der Propstei geht es durch die Lindenallee. Dort stehen etliche Ordner, die dafür sorgen, dass rund um den Altar die Bildnisse ihren Platz haben.
Gott bleibt nicht Zuschauer in der Lebens- und Leidensgeschichte des Menschen
Pfarrer Ludger Dräger hält bei der Abschlussandacht die Predigt. Er spricht davon, dass Gemeinschaft das Gefühl vermittle, nicht allein zu sein und das feiern etwas mit der Sinndeutung unseres Lebens zu tun hat. „Wo es keinen Sinn gibt, gibt es auch nichts zu feiern…so einfach ist das!“
Glaube und Religion haben kein Monopol mehr auf die Deutung dieser Welt, alles scheint heute ohne himmlischen Beistand zu gehen. „Wir stehen dem Inhalt der Liedzeile von Karat aus dem Jahr 1981 ‚Uns hilft kein Gott unsre Welt zu erhalten‘ mittlerweile ziemlich nahe“, konstatiert er klar und fragt:
„Haben wir nicht längst die Geschichte umgedreht, nicht wir sind Gott etwas schuldig, sondern er uns. Nicht wir, der Mensch, sondern Gott bedarf der Rechtfertigung. Guck dir doch diese Welt mal genauer an in der Ukraine, im Gazastreifen, im Sudan…so möchten wir laut rufen, wenn nicht schreien… Und ist nicht der Kreuzweg vor 2000 Jahren nur einer von vielen Kreuzwegen in der Menschheitsgeschichte? Ja und nein. Ja, was die äußere Dimension angeht. Die innere Dimension ist jedoch einmalig. Hans Urs von Balthasar bringt es auf den Punkt. Einer aus der Trinität hat gelitten! Gott bleibt nicht Zuschauer in der Lebens- und Leidensgeschichte des Menschen. Er leidet mit und erleidet, was Sünde bedeutet.“
Die Predigt endet mit der Erinnerung an die Zusage Gottes an jeden, dass er der ICH BIN Da ist.
Bischof Ulrich Neymeyr greift in seinem Grußwort einige Gedanken der Predigt noch einmal auf: „Gott ist in das Unmenschliche hinabgestiegen“. Seinem Hinweis auf die Befreiung des KZ Buchenwald vor fast auf den Tag genau 80 Jahren und seinem Statement gegen jede Verharmlosung der Zeit des Nationalsozialismus folgt kräftiger Applaus. Der kommt auch auf, als er das Thema Flüchtlinge anspricht.
„Wir wissen, dass es auch heute auf der Welt Menschen gibt, die Angst um ihr Leben haben müssen, weil sie in einem Unrechtssystem leben, und wenn es ihnen gelingt, zu entkommen und zu entfliehen, dann sollten sie bei uns Zuflucht finden. Das ist aus meiner Sicht nicht nur Christenpflicht, sondern auch Pflicht für uns Deutsche. Wobei ich ergänzen möchte, das bedeutet für mich auch, das Asylrecht vor Missbrauch zu schützen. Aber diejenigen, die es brauchen, müssen bei uns Aufnahme finden. Ich danke allen, gerade hier im Eichsfeld, die sich mit viel ehrenamtlichen Engagement für diese Menschen einsetzen, hier bei uns, weil sie Zuflucht suchen mussten und hoffentlich auch eine Zuflucht finden.“
Propst Marcellus Klaus dankt allen Helfern, Bläsern, Trägern, der Polizei und der Stadt. Stellvertretend für die Ordner dankt er besonders Herrmann Müller, der seit 60 Jahren aktiv mitwirkt.
Die Kollekte, die erbeten wurde, geht an die „Aktion Kinderteller“ der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel, die an verschiedenen Orten in Mosambik, Bolivien, Rumänien und im Nordosten Brasiliens u.a. dafür sorgen, dass Kinder dort täglich ein reichhaltiges warmes Essen, für manche das einzige Essen am Tag, erhalten.
Die Palmsonntagsprozession wurde 1581 von den Jesuiten, die zur Gegenreformation ins Eichsfeld kamen, ins Leben gerufen. Ursprünglich fand sie am Karfreitag statt. Die Male, an denen sie ausfielen, kann man an einer Hand abzählen. 2016 wurde die Palmsonntagsprozession ins bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO aufgenommen
Bei der diesjährigen Palmsonntagsprozession in Heiligenstadt nahmen nach Schätzung von Polizei und Ordnungsamt zwischen sieben- und achttausend Menschen teil.
Fotos: Andrea Wilke
Video vom MDR für das Thüringen Journal (verfügbar bis 10.10.2025)


























