Liebe Mitchristen,
„Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben“ (Jer 29,11), so lautet das Leitwort der diesjährigen Männerwallfahrt. Für die Vorbereitungsgruppe ist dieses Leitwort eine Antwort der Bibel auf die weitverbreitete Skepsis gegenüber der Zukunft. Die Sorge um zukünftige Entwicklungen beruht durchaus auf Erfahrung.
Vielen Zukunftshoffnungen folgten ernüchternde Gegenwartserfahrungen. Denken Sie nur an den berühmten Satz, den der spätere Bundespräsident Joachim Gauck 10 Jahre nach dem Mauerfall gesagt hat: „Damals träumten wir im Osten vom Paradies, aber wir wachten auf in Nordrhein-Westfalen!“ Bei seinem Antrittsbesuch als Bundespräsident erklärte er später in Nordrhein-Westfalen, dass er dieses Bundesland gewählt hatte, weil es mit ähnlichen Strukturproblemen zu kämpfen hatte wie die neuen Bundesländer.
Auch andere Visionen zeigten ihre Kehrseite: Der Verheißung schneller und jeder Zeit zur Verfügung stehenden Mobilität folgte die Erkenntnis der damit verbundenen Umweltzerstörung. Die Begeisterung über die Kommunikation im weltweiten Internet musste der Erkenntnis von damit verbundenem Datenmissbrauch weichen.
Auch in unserer Kirche mussten die großen Hoffnungen auf die Evangelisierung der Menschen in den neuen Bundesländern der nüchternen Erkenntnis weichen, dass viele mit Religion, Glauben und Kirche nichts zu tun haben wollen. So ist der skeptische Blick in die Zukunft durchaus verständlich.
Nun hat allerdings der Thüringen Monitor des vergangenen Jahres festgestellt, dass mehr als ¾ der Thüringer die Zukunft ihrer Region positiv einschätzen. Auch im Eichsfeld sind die Siedelstätten so schmuck wie nie zuvor. Von den Eichsfeldern, die zwischen 1999 und 2012 das Eichsfeld verlassen haben, sind zwischen 2001 und 2014 32% wieder zurückgekehrt. Das Eichsfeld ist bundesweit der Landkreis mit der höchsten Rückkehrerquote. Das hat das Institut für Länderkunde in Leipzig im Juli 2017 festgestellt.
Diese zwiespältige Einstellung zur Zukunft lässt die Menschen gut verstehen, an die der Prophet Jeremia einen Brief geschrieben hat. Die Israeliten waren aus dem Gelobten Land nach Babylonien verschleppt worden. Dort ging es ihnen nicht schlecht. Sie konnten Eigentum erwerben und Handel treiben. Sie konnten ihre Identität bewahren, durch die Einhaltung des Sabbats und der Beschneidung. Sie konnten in ihren Synagogen Gottesdienst feiern und doch wollten sie mehr. Sie saßen an den Strömen von Babylon und weinten, wie es in Psalm 137 heißt. Die Sehnsucht nach ihrem Jerusalem beschwerte ihr Herz.
Und da schreibt ihnen ihr alter Prophet Jeremia: „Diese Zukunft könnt ihr nicht selbst schaffen. Diese Hoffnung kann nur Gott erfüllen. Er wird euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.“
Auch wir kennen die Hoffnung auf eine Zukunft, die nur Gott geben kann: Die Hoffnung auf eine Welt, in der alle einander wohlwollen, in der es keine Missverständnisse gibt, in der alle ein Leben führen, das sie gerne haben, in der die Übeltäter bestraft und die Opfer getröstet werden und in der nicht der Größte im Mittelpunkt steht, sondern der Kleinste. Diese Welt erhoffen wir von Gott. Wir bauen daran heute schon mit, so gut wir können, aber die Verwirklichung dieser Welt erwarten wir in einer Zukunft, die nur Gott schenken kann. Deshalb bleiben wir in lebendigem Kontakt mit Gott durch unseren Glauben, durch das Gebet, durch die gemeinsamen Gottesdienste und durch die Wallfahrten.
Viele von Ihnen sind heute mitten in der Nacht aufgebrochen, um hierher zum Klüschen Hagis zu pilgern. Sie sind aus der Welt des Eichsfelds aufgebrochen, so schön sie ist, weil Sie mehr erhoffen, eine Zukunft, die nur Gott geben kann und die wir von ihm erflehen. Politischen Parolen und Visionen hat das Eichsfeld immer widerstanden. Ob sie hießen „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ oder „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“. Wir erwarten unsere Zukunft und unsere Hoffnung von Gott.
Davon künden nicht nur die großen Wallfahrten und Prozessionen im Eichsfeld, sondern auch jeder Kirchturm, jeder Bildstock und jedes Kruzifix. Sie sind keine Denkmäler an das christliche Abendland, sondern steingewordene Bekenntnisse dafür, dass die Eichsfelder ihre Hoffnung auf den lebendigen Gott setzen. Wir alle, die wir heute zu dieser Wallfahrt aufgebrochen sind, feiern unseren Glauben und erbitten die Kraft, unser Leben mit allen Höhen und Tiefen im Vertrauen auf Gott zu führen und unsere Welt im Geist Jesu Christi zu gestalten. Denn die Hoffnung auf eine Zukunft, die nur Gott uns schenkt, verführt uns nicht dazu, die Hände in den Schoß zu legen und uns mit den Nöten in unserer kleinen und großen Welt abzufinden. Im Gegenteil: Diese Hoffnung befähigt und motiviert uns, mitzubauen an einer Zivilisation der Gerechtigkeit und des Friedens. Alle helfen mit für das Wohlergehen in der Familie. Viele engagieren sich für den Zusammenhalt im Dorf und am Kirchort, im Verein und im Freundeskreis.
Unzählige Ehrenamtsinitiativen engagieren sich für bedürftige Menschen in der Nähe und in der Ferne. Der Beruf dient nicht nur dem Geldverdienen, sondern auch der Gestaltung der Gesellschaft und des kollegialen Miteinanders. Wenn wir, wie heute, aufbrechen zur Wallfahrt, wenn wir am Sonntag in die Kirche gehen oder in der Kapelle bei stillem Gebet eine Kerze anzünden, flüchten wir dabei nicht aus der Welt, ihren Herausforderungen und Aufgaben; vielmehr schöpfen wir Kraft aus der Begegnung mit dem Gott, der uns eine Zukunft und eine Hoffnung gibt, Kraft, die Welt in seinem Sinn zu gestalten.