Kirche der Zukunft

Vortrag von Bischof Joachim Wanke über das christliche Profil in pluralistischer Gesellschaft


Bischof Joachim Wanke
Vortrag von Bischof Wanke über das christliche Profil in pluralistischer Gesellschaft

Im Folgenden dokumentieren wir den Vortrag "Kirche der Zukunft. Christliches Profil zeigen in pluralistischer Gesellschaft", den Bischof Joachim Wanke am 28.11.2008 in Braunschweig im Rahmen des Jubiläumsjahres "300 Jahre Katholische Kirche in Braunschweig 2008" gehalten hat. Am Ende dieser Seite kann der Vortrag als pdf-Datei heruntergeladen werden.


Von der Zukunft der Kirche zu reden oder gar diese beschreiben zu wollen scheint vermessen. Dass die Kirche - mit den Augen des Glaubens betrachtet - Zukunft haben wird, solange diese Welt besteht, ist sicher. Aber wie sich die Rahmenbedingungen, innerhalb deren die Kirche ihren Auftrag zu erfüllen hat, langfristig gestalten werden - und davon hängt der vor uns liegende Weg der Kirche entscheidend mit ab - , das ist uns weithin unbekannt.


Man kann nur eines tun: Man kann auf die Gegenwart schauen und die in ihr sich andeutenden Herausforderungen, um daraus für die Kirche von morgen Rückschlüssen zu ziehen. Genau das will ich - von meiner ostdeutschen pastoralen Erfahrung her kommend - in diesem Vortrag versuchen.


Ich sammle zunächst einmal einige Beobachtungen, die ich in meinem Wirken als Bischof, aber auch als aufmerksamer Zeitgenosse im Osten Deutschlands gemacht habe. Sodann versuche ich in einem zweiten Teil meiner Ausführungen einige Ü;berlegungen anzuschließen, ob und wie Kirche und der Gottesglaube auch in der kirchenfernen Luft der neuen Bundesländer Zukunft haben wird. Und da sich die geistige "Großwetterlage" in ganz Deutschland in mancher Hinsicht der östlichen Situation angleicht, mögen meine Ü;berlegungen auch für Sie alle von Interesse sein.




I.

Beobachtungen zur gesellschaftlichen Situaion


Das muss freilich zuvor gesagt werden: Die Menschen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg sind wegen ihrer allgemein bekannten Kirchen- und Religionsdistanziertheit (ihrer "religiösen Unmusikalität"), die sie zudem meist schon in dritter oder vierter Generation biographisch ererbt haben, keine schlechteren Menschen als gebürtige Bayern und Schwaben, Rheinländer oder Westfalen. Wir waren in der früheren DDR eben nur anderen geistigen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ausgesetzt. Und diese prägen uns bis heute. Wenn Sie so wollen: Wir hatten in bestimmter Hinsicht mehr Gelegenheit zu "sündigen" - in anderer Hinsicht weniger! Ein Katholik konnte in Karl-Marx-Stadt versagen und ebenso auch im katholischen Wallfahrtsort Altötting. Er konnte sich an der sozialistischen Schule und im sozialistischen Arbeitskollektiv als Christ bewähren ebenso wie in einer katholischen Verbandsgruppe der alten Bundesrepublik. Menschlichkeit, Aufrichtigkeit, Tapferkeit, Nächsten- und Gottesliebe waren und sind überall auf Erden wohl gleichmäßig verteilt.


Was prägt uns in den jungen Bundesländern nach mehreren Jahrzehnten atheistischer Indoktrination?



1. Ein radikaler Abbruch christlicher Traditionen


Zur Verlebendigung meiner Darlegung nur ein Beispiel: Jüngst erzählte mir ein Katholik ganz deprimiert von einer Beerdigung. Eine Arbeitskollegin war gestorben. Sie war am Schluss wegen langer Krankheit und Pflegebedüftigkeit sehr vereinsamt gewesen. Es waren nur eine Handvoll Leute zur Beerdigung erschienen. Der vom Ehepartner bestellte weltliche Begräbnis-Redner sprach von Werden und Vergehen, von Goethe und von ewigem Ausruhen. Kein Lied, kein Gebet - ein Druck auf den Knopf - und der Sarg verschwand in Richtung Krematorium.


Hier wurde mir schlagartig deutlich, was uns die letzten Jahrzehnte im Osten gebracht haben: in der Breite der Bevölkerung einen radikalen Abbruch christlicher Kultur und Tradition.


Aus dem Westen beruflich zu uns in den Osten kommende Christen, ob katholisch oder evangelisch, sagen mir häufig, wie schmerzlich sie diesen radikalen Traditionsabbruch empfinden. Ein Ministerialbeamter aus dem Rheinland erzählte mir: Als er in seinem Büro ein Kreuz aufhängen wollte und zu diesem Behufe auf dem Stuhl vor der Wand stand, reichte ihm seine neue ostdeutsche Sekretärin das Kreuz mit beiden Händen dar, auf ein weißes Tüchlein gebettet wie einen numinosen Gegenstand, sichtlich unsicher, wie man damit umzugehen hat. Solch eine Szene ist erhellender als manche soziologische Erhebung.


Ein anderes Beispiel: Seit einigen Jahren steht auf dem Erfurter Weihnachtsmarkt eine Krippe mit den dazugehörigen Figuren. Bekannte berichten mir, dass immer wieder junge Mütter ihren Kinder nicht antworten können, wenn diese über die Figuren Auskunft haben wollen. Interpretationsversuche in Richtung Frau Holle oder Aschenputtel hat es auch schon gegeben!


Man mag darüber schmunzeln, aber diese und viele andere Beobachtungen zeigen: Hier ist mehr weggebrochen als nur christliches Grundwissen. Hier ist eine Entfremdung von den eigenen kulturellen Wurzeln eingetreten, die sich auch in der Hilflosigkeit offenbart, mit den christlichen Festen umzugehen oder eine eigene Feierkultur zu entwickeln, vgl. nur das Phänomen "Jugendweihe".


Ein Pfarrer aus dem Bayrischen erzählte mir einmal, welches Neuheitserlebnis für ihn eine ungetaufte Ostdeutsche war, die mit ihrem bayrischen Verlobten zum Brautgespräch erschien und sich dort durchaus interessiert, aber mit merkwürdigem Vokabular nach dem erkundigte, was eigentlich ein Katholik alles zu glauben hätte. Der Pfarrer gestand mir, er sei ordentlich "ins Schwitzen" gekommen. Er musste sich in seiner Denk- und Sprechweise gewaltig umstellen, um der gutwillig Fragenden einigermaßen verständlich antworten zu können.


Eben das meine ich: Im Osten ist nicht einmal mehr an "Christentümlichkeit" anzuknüpfen. Dort muss tiefer angesetzt werden. Darin liegt freilich auch eine Chance für die Kirche der Zukunft. Dazu später. - Jetzt erst eine zweite Beobachtung:



2. Verbreiteter gesellschaftlicher "Nörgelton"


Ich meine, im Osten mehr als im Westen das anzutreffen, was ich hier einmal etwas salopp "Nörgel-Mentalität" nenne. In persönlichen Gesprächen, aber auch in öffentlicher Diskussion kommt häufiger als im Westen eine gewisse "Frust-Einstellung" zum Tragen, manchmal ehrlicherweise mit dem Zugeständnis: Ja, mir persönlich geht es ja einigermaßen, aber die Verhältnisse überhaupt - die sind "fürchterlich"!


Das hat natürlich etwas mit der Nachwendesituation zu tun. Die Umstellungsprobleme - auch nach nahezu 20 Jahren - sind bis heute für viele schwierig, und es gibt Teile der Bevölkerung, die sich einfach nicht in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zurechtfinden, trotz aller staatlichen Vor- und Fürsorge.


Aber auch das erklärt meines Erachtens nicht ganz diese Grundunzufriedenheit vieler Menschen. Ich gebe einfach einmal zu bedenken, ob nicht eine lange "Gott-Entwöhnung" auch eine gewisse "Realitäts-Entwöhnung" mit sich bringt. Auch da mag das alte ideologische System mit seinem platten Materialismus manche Schuld tragen. Ich bemerke im Osten eine verkrampfte, angestrengte Sinnsuche in reiner Diesseitigkeit. Früher machte uns Christen die alte Ideologie den Vorwurf: "Euer Glaube vertröstet auf den Himmel!" Jetzt beobachte ich: Die Erlebnis- und Konsumgesellschaft (die übrigens bei uns auch schon vor der Wende einsetzte!) vertröstet die Menschen auf das totale Glück im Diesseits - mit all den fatalen Folgen, die eine solche Einstellung zeitigt. Der Frust ist da ja vorprogrammiert.


Wenn Gott ausfällt, breitet sich die Angst aus, nicht alles vom Leben mitzubekommen. Angestrengter Lustgewinn ist angesagt! Arbeit, Liebe, Amüsement - alles kommt irgendwie in ein schiefes Licht, wirkt verkrampft und lässt keinen Abstand zu.


Aber das ist ja auch eine Erfahrung der Seelsorge im Westen. Aber die im Westen zum Teil schon anzutreffende "neue Nachdenklichkeit", die Aufklärung über die Aufklärung, das Wissen um die Grenzen einer bloßen innerweltlichen Lebensabsättigung steht uns im Osten noch bevor.


Jetzt ist erst einmal bei uns Nachholbedarf an "Lebenshunger" angesagt. Irgendwie kann ich das auch verstehen. Aber ich sehe - z. B. in dem diagnostizierten "Nörgelton" als gesellschaftlichem cantus firmus - wohin solche Diesseitsorientierung führt.


Doch ist gottlob auch anderes zu beobachten: Lebenstapferkeit und Mut zu realistischer Selbstbeschränkung, auch Dankbarkeit für das, was die Wende uns im Osten an neuer Lebensqualität ermöglicht hat. Und es gibt auch das, besonders unter jungen Leuten: ein neues Fragen nach dem, wovon man wirklich satt werden kann. Der Mensch ist von seinem Schöpfer solider erschaffen als wir ängstlichen Bischöfe manchmal denken. Weist man Gott vom Haupteingang ab, kommt er durch die Hintertür unseres Lebenshauses. Eine Kirche der Zukunft sollte dies bedenken. - Eine weitere Beobachtung:



3. Allgemeine Verdachtsmentalität


Auch diese Beobachtung gilt irgendwie grenzübergreifend. Sie hat etwas mit der immer stärker werdenden Subjekt-Sicht aller Wirklichkeit zu tun, die unfähiger wird, die Dinge und Verhältnisse zu objektivieren bzw. realistisch wahr zu nehmen. Die Konstruktion der Welt vom eigenen Ich her - dieses allgemeine Kennzeichen der Post-Moderne wird heute ja manchmal an Biertischen und in Alltagsgesprächen auf die Spitze getrieben.


Beileibe nicht allein von daher, aber doch auch vom mangelnden Vertrauen in eine übergreifende, auch das Böse, das Tragische, das Chaotische ordnende göttliche Macht erkläre ich mir das zunehmend schwindende zwischenmenschliche Vertrauen, das eine unersetzliche Ingredienz jeder Gesellschaft ist. Nochmals: Das ist nicht der einzige Grund! Die kommunistischen Systeme im Osten, die übrigens keine freie Zivilgesellschaft duldeten, die alle Vergemeinschaftungsformen von Menschen misstrauisch überwachten, wenn nicht gar zu verhindern suchten - diese Systeme lebten und leben vom Klima des Verdachts. Und die Folgen einer solchen geistigen Schädigung sehen wir besonders in den neuen Bundesländern vor uns.


Die Grundeinstellung des Verdachts richtet sich gegen den Westen, gegen die derzeitige politische Klasse, gegen die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände zugleich, gegen den Staat, gegen die Kirchen, kurz: gegen "die da oben". Ein Teil dieses Frustes mag, wie gesagt, auf das Wissen zurückgehen, wie sehr man vom alten System betrogen worden ist. Aber das erklärt nicht alles.


Im Letzten erhebt sich hier ein Grundverdacht gegen das Leben selbst. Dieser Verdacht sagt: Das Leben ist, so wie es ist, nicht lebenswert. Es lohnt sich letztlich nicht. Speziell ins Religiöse gewendet, gilt: Die Christen stehen im Osten wieder unter einem Grundverdacht: damals vor der Wende unter dem sogenannten "Projektionsverdacht" (frei nach Feuerbach und Marx: Der religiöse Glaube verdirbt das Denken). Jetzt nach der Wende erhebt sich der sogenannte "Entfremdungsverdacht": Glaube und Kirche entfremden vom Leben, verderben das Diesseitsglück, vermiesen das Leben und machen alles grau und fad! Es ist unendlich schwer, in der Seelsorge diesem Grundmisstrauen "Ich komme zu kurz!" zu begegnen. Aber genau hier liegt der Knackpunkt für die evangeliumsgemäße Profilierung unserer Verkündigung. Denn diese Verkündigung darf sagen: "Du kommst nicht zu kurz. Im Gegenteil: Dir ist alles geschenkt, denn nichts im Himmel und auf der Erde vermag dich von Gottes Liebe zu trennen" (vgl. Röm 8,31 ff).


Hier deutet sich schon an, welcher Grundtenor das kirchliche Wirken heute in einer Gesellschaft zu bestimmen hätte, die sich in Verdächtigungen und Misstrauen verliert: nicht Bedrohung oder Einschüchterung, sondern Annahme und Ermutigung zu Vertrauen. Nur so lässt sich Misstrauen auflösen und Lebensangst, die meint zu kurz zu kommen, überwinden.


Ich möchte noch eine letzte Beobachtung skizzieren, die freilich in der eben genannten Mentalität der allgemeinen Verdächtigungen schon ansatzweise mitenthalten ist:



4. Angst, sich zu binden


Auch hier ist sofort zu sagen, dass vieles, was in dieser Hinsicht in der Gegenwart anzutreffen ist, zu Lasten der großen Modernisierungsschübe geht, die uns in West und Ost gleichermaßen erfasst haben. Im Osten ist dieser Modernisierungsprozess zum Teil noch radikaler und wird entsprechend schmerzlicher empfunden, weil vieles (etwa in der Wirtschaft) sich nicht evolutiv vollzieht, sondern der Ü;bergang zu den Normalitäten einer offenen Gesellschaft durch radikale Brüche und Schnitte erkauft werden muss. Noch kürzer gesagt: Auch katholische Ehen zerbrechen angesichts der vom Arbeitsmarkt erzwungenen Mobilität von Arbeitnehmern. Wer betet, lebt zwar anders, versucht es zumindest. Aber Beten ist kein Allheilmittel gegen eine kranke Gesellschaft. Da muss eine solide, subsidiär denkende und zu Solidarität anstiftende Politik eingreifen, nicht zuletzt gestützt durch ein christliches Menschenbild, inspiriert durch eine frustrationsresistente Grundzuversicht, wie sie Christen eigentlich haben sollten.


Dennoch meine ich, dass wir im Osten irgendwie auch die fatalen Auswirkungen eines Systems spüren, dass "ohne Gott und Sonnenschein" die Ernten einbringen wollte. Die zwischenmenschliche und die internationale proletarische Solidarität z. B. wurde propagandistisch zwar sehr bemüht - aber das alles blieb meist hohles Pathos. Das merken wir jetzt, wenn es wirklich um die Aussöhnung mit Polen und Russland geht. Ich weiß authentisch, dass in einer Hausgemeinschaft ernsthaft als eine sozialistische Selbstverpflichtung eingebracht wurde, sich ab sofort gegenseitig im Haus zu grüßen! Manche der Versuche der alten SED-Führung, etwa Walter Ulbrichts "Zehn Gebote der sozialistischen Moral", die Bevölkerung auf eine religionsfreie sozialistische Ethik einzuschwören, wirkten nahezu rührend. Aber es war wohl eher zum Weinen. Da ist die jetzige Gesellschaft ehrlicher: Der Marktwert muss alles regeln, auch die Beziehungen der Menschen.


Meine Beobachtung ist: Humanistische Werte, auch das (moralisch verstandene) Christentum und neuerdings auch Elemente nichtchristlicher Religiosität sind durchaus gesellschaftlich akzeptiert, werden aber offensichtlich von den Menschen im Osten mit einer gewissen Ironie betrachtet - frei nach dem Motto: "Hilft es auch nicht, so schadet es doch nicht." Aber schadet eine solche Haltung der Selbstironie, oder besser gesagt: der Selbstskepsis auf Dauer nicht doch dem Menschen und dem gesellschaftlichen Klima? Ich werde manchmal an den "blinzelnden Menschen" erinnert, wie ihn Nietzsche als Ergebnis einer Situation nach dem "Tode Gottes" gezeichnet hat: Der Mensch, der an nichts mehr glaubt, und schließlich auch nicht mehr an sich selbst glauben kann. Der Nihilismus ist die gewichtigere Konsequenz des heutigen Gottesverlustes. Der herkömmliche Atheismus lebt noch vom Pathos der Bejahung, einer Bejahung des Menschen. Die nihilistische Lebensphilosophie durchschaut angeblich alles. Aber: Wer alles "durchschaut", sieht am Ende gar nichts mehr! Es gibt ja schon solche Vorschläge, nun endlich mit genetischen Methoden das Problem des unvollkommenen Menschen zu lösen: Menschenzüchtung statt Menschenerziehung.


Vermutlich spüren wir im Osten stärker als unsere westdeutschen Landsleute, dass das gesellschaftliche Klima insgesamt kälter wird. Es ist nicht nur die etwas miefige Wärme einer geschlossenen Gesellschaft, die manche hie und da im Osten als nostalgische Erinnerung pflegen wollen. Wir spüren wohl, belehrt durch eigene Erfahrungen deutlicher als andere, dass eine Gesellschaft ohne einen Gotteshorizont wohl auf Dauer auch keinen humanen Horizont, keine Visionen von Mitmenschlichkeit, von Vertrauen, von Zusammenhalt und Solidarität entwickeln kann.


Wobei ich gleich dem Verdacht wehren will, das Christentum könne Moral "produzieren". Das Christentum hat zwar Moral, wie der katholische Theologe Eugen Biser einmal pointiert gesagt hat, aber es ist nicht Moral. Und ein "Aufpasser-Gott" in einer religiös verkorksten Biographie kann Heuchelei produzieren und echte Menschlichkeit eher ersticken als fördern. Das ist leider eine traurige Tatsache.


Dass all dem, was ich hier skizziere, auch immer wieder andere Tendenzen entgegenstehen, sei nur angedeutet. Wo Traditionsabbrüche erfahren werden, erwacht die Sehnsucht nach Kontinuität und Beheimatung. Wo Diesseitsglück brüchig und schal wird, gibt es ein neues Fragen nach dem, was wirklich sättigt. Wo eine MfS- und ideologiegeschädigte Gesellschaft in Misstrauen und gegenseitigen Verdachts- und Neidgefühlen versinkt, gibt es neue Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, nach gelingenden Beziehungen, nach einem DU, dem man vertrauen kann, nach reueloser Hingabe und Anbetung. Schatten gibt es nur dort, wo es auch Licht gibt; Hunger und Durst sind besonders quälend, wenn man die Möglichkeit einer Sättigung erahnt. Die Entlarvung der alten Ideologie als menschenfeindlicher Utopie bringt zumindest die Chance mit sich, sich neuen Visionen zu öffnen. Das geschieht freilich nicht im Selbstlauf. Die Freiheit als solche ist noch nicht hinreichend für die Besserung von Verhältnissen. Die Freiheit braucht Inhalte, braucht das Licht der Wahrheit, um Finsternisse wirklich aufheben zu können.


Ist unsere Kirche, sind wir selbst dafür gerüstet, diesen Dienst der "Ausleuchtung" des menschlichen Existenzraumes zu leisten, in dieser gesellschaftlichen Stunde das Evangelium den Menschen "anzubieten"? Das führt schon zum zweiten Teil meiner Ü;berlegungen:




II.

Unser Glaube und der zukünftige Weg der Kirche


Zunächst eine mir wichtige Vorbemerkung:

In gewisser Hinsicht müssen wir in den neuen Bundesländern kirchlich eine von Gott verordnete Bewährung bestehen, die vermutlich - zeitlich versetzt - dem Katholizismus des Westens in naher Zukunft bevorsteht. In Hamburg, Stuttgart, aber auch Köln und München stehen die Seelsorger schon mitten in dieser Erprobung - eben in dieser Herausforderung, die mein Vortrag in den Blick zu nehmen sucht: Das Evangelium muss aus einem Erbe zu einem neuen Angebot werden! Darum sind Ü;berlegungen, wie wir in der säkularisierten Luft des Ostens das Evangelium zu präsentieren haben, von unmittelbarer Bedeutung auch für andere Regionen. Wir sitzen jetzt alle in dem gleichen Boot. Wie in dieser stürmischen See jetzt richtig und erfolgreich die Segel zu setzen sind, geht alle an, auch jene, die scheinbar in noch etwas ruhigeren Wassern fahren können! Was heißt das für eine Kirche, die Zukunft gewinnen will? Ich formuliere drei Gedanken, von denen ich mir wünschte, dass sie im Kern unserer Kirche in Gesamtdeutschland konsensfähig sein könnten:



1. Gott größer denken


Es gilt heute mehr denn je zu beherzigen, was schon das 2. Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution "Die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) über den Atheismus ausgeführt hat: "Gewiss sind die, die in Ungehorsam gegen den Spruch ihres Gewissens absichtlich Gott von ihrem Herzen fernzuhalten und religiöse Fragen zu vermeiden suchen, nicht ohne Schuld; aber auch die Gläubigen selbst tragen daran eine gewisse Verantwortung. Denn der Atheismus, allseitig betrachtet, ist nicht eine ursprüngliche und eigenständige Erscheinung; er entsteht vielmehr aus verschiedenen Ursachen, zu denen auch die kritische Reaktion gegen die Religionen, und zwar in einigen Ländern vor allem gegen die christliche Religion, zählt. Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben, insofern man sagen muss, dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren" (GS 19).


Hier werden wir ermahnt, den sogenannten Atheismus und wohl auch den agnostisch sich gebenden Säkularismus zunächst einmal als Chance zur Vertiefung des eigenen Gottesglaubens und der eigenen christlichen Lebenspraxis zu begreifen. Selbstkritisch an die eigene Adresse gerichtet: Unser religiös-kirchliches Hantieren mit Gott wirkt oft zu kurzschlüssig, zu harmlos und ist meist zu fern der erfahrenen Wirklichkeit des Lebens angesiedelt. Ich sage es einmal etwas ungeschützt: Der christliche Glaube ist zu sehr "Lehre" geworden. Er bringt nicht mehr die Kraft auf, die eigenen Bedürfnisse, Fragen und Erfahrungen zu deuten. Natürlich braucht christliche Religiosität ein Mindestmaß an objektiver Lehrstruktur. Es ist freilich bedenklich, wenn das subjektive Erleben, Fragen, ja auch Zweifeln kein Zugangsweg zur Wahrheit des Christentums mehr sein kann. Der Gottesbegriff und das christliche Credo sind zu lange Zeit in unseren Katechismen einer enggeführten Schulbegrifflichkeit ausgeliefert gewesen. Das Paradoxe, das Irrationale und das Bedrohliche des Lebens sind nicht mehr in das religiöse Lebenshaus eingelassen worden.


Dabei ist das gerade eine Stärke des katholischen Christentums, mit der ganzen Wirklichkeit menschlicher Biographien umgehen zu können, auch mit den dunklen und unaufgeräumten Hinterzimmern. Eben deshalb sind die Sprechzimmer der Psychotherapeuten die Beichtstühle des heutigen Menschen geworden. Manche schreiben oft zu schnell manche Biographien als religiös "hoffnungslose Fälle" ab. Da bewundere ich oft die großen Seelsorger der Vergangenheit, wie etwa Franz von Sales oder Johann Michael Sailer, die um die Abgründe des Menschenherzens wussten und dennoch für und mit jedem Menschen hoffen konnten.


In diesem Sinne sprechen eine Reihe von nachdenklichen Theologen von der Gotteskrise als der eigentlichen Herausforderung des Christentums in heutiger Zeit. "Gotteskrise" in dem Sinn, dass Gott zu klein, zu harmlos gedacht wird. Vor dem Forum heutigen kritischen Denkens ist der Anspruch auf eine autoritative Weltdeutung, wie sie in der Normalverkündigung der Kirche begegnet, nicht mehr überzeugend. Gott wird manchmal zu schnell zu einer alles erklärenden "Weltformel" gemacht. Damit werden im Grunde die biblischen und altchristlichen Aussagen über die Transzendenz Gottes, über das "Anderssein" Gottes nicht genügend ernst genommen. Zu einer Weltformel kann man nicht beten, man kann vor ihr nicht weinen, nicht einmal mehr ihr fluchen. Man kann sie höchstens für falsch halten, sie bestreiten oder sie für überflüssig halten. Von der Radikalität des alttestamentlichen Psalmisten, der mit Gott hadert, der gegen ihn protestiert, ja manchmal an ihm verzweifelt, ist unsere christlichen Normalfrömmigkeit oft weit entfernt.


"Gott größer denken" heißt, dass wir selbst in tiefgehender Weise umkehren müssen zu dem Gott der Verkündigung Jesu und der heiligen Schriften. Wir brauchen eine Radikalisierung unseres Gottesglaubens, eine Transparenz allen kirchlichen Agierens und Redens auf die unbegreiflich größere Wirklichkeit Gottes hin, vor dem allein all unser Fragen verstummen kann. In diesem Sinn ist es richtig, von der "Selbstevangelisierung" der Kirche zu reden, die vor der Neuevangelisierung der Welt zu leisten ist. Ich vermute, dass wir derzeit frömmigkeitsgeschichtlich gesehen den Preis für die starke Verkirchlichung unseres Glaubens in den letzten 200 Jahren zu bezahlen haben. Ritus und kirchliche Autorität gehören zu unserem Glauben, ohne Zweifel, aber sie dürfen sich nicht vor die lebendige, unfassbare Wirklichkeit Gottes schieben. Alles, was wir in der Kirche tun, muss transparent, durchsichtig bleiben auf den immer größeren Gott hin.


Gott liegt nicht auf den Ramschtischen unserer Warenhäuser herum. Er ist kein Billigprodukt. Er ist vielmehr anspruchsvoll. Er ist der ganz Andere. Er kann durchaus verunsichern. Er führt auf ungewohntes Terrain. Aber er führt ins Weite. Er lässt Grenzen überschreiten. Er vermag zu heilen bis in die Wurzel unserer Existenz. "Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir!" so betet der Psalmist. Psalm 63 ist ein Text, der auch Zweiflern und Agnostikern etwas sagen kann. Unter uns Christen ist das Grundwasser der Gottessehnsucht wichtig. Wenn dieses Grundwasser steigt, kann vieles auch in einem säkularen Land wieder religiös wachsen und zum Blühen kommen.


Ich frage mich z. B., ob nicht auch unser oft so verkümmertes sakramentales Leben mit diesem verkürzten, ungenügenden, den heutigen Lebenserfahrungen nicht standhaltenden Gottesbild zu tun hat. Ist nicht beispielsweise die Taufe als existentielles Sterbens- und Auferstehungsgeschehen in unseren Breiten zu einem bürgerlichen Ritual verkommen, das nicht mehr erkennbar werden lässt, worum es hier eigentlich geht? Gibt es so etwas wie eine "Taufidentität" von Christen? Ist tatsächlich unser Leben der Rohstoff, die "Materie" der Sakramente, die wir so harmlos feiern, als gingen wir mit unserem "Lebens-PKW" zur nächsten Tankstelle? Nein, sakramental wird überhaupt nichts "getankt", was nicht vorher schon mit Christus in den Tod gesenkt und mit ihm auferweckt worden ist.


Doch genug dieser Hinweise, die nur eines verdeutlichen sollten: Der Atheismus und Säkularismus unserer Mitmenschen und der in uns selbst vorhandene partielle Atheismus rufen nach einem vertieften Gottesglauben. Alles, was in diese Richtung Verkrustungen aufbricht, Erstarrungen im Herkömmlichen löst, Verharmlosungen entlarvt und Gott zum Horizont, zum "Omega" des Lebens und der Geschichte macht, all das setzt in der Mitte unseres Christseins und unseres kirchlich-seelsorglichen Auftrags an. Ich gebe zu: Dafür gibt es keine Handlungsrezepte. Aber es reicht schon, wenn wir das, was wir tagtäglich im kirchlichen Alltag bewegen, von diesem Anspruch her kritisch prüfen.



2. Religiös auskunftsfähig werden


Ich knüpfe noch einmal an jene Episode an, die ich von dem bayerischen Pfarrer erzählte, der mit der ostdeutschen Frau nur mit Mühe ins Gespräch kam. Das "diesseitige" Lebensgefühl, das ich bei meinen mitteldeutschen Landsleuten (und manchmal auch bei mir) diagnostizierte, ist nämlich gar nicht so "diesseitig", wie es sich gibt. Hinter den Fassaden und durch die Spalten und Ritzen der menschlichen Biographien sind Sehnsüchte und Hoffnungen erkennbar, die im Letzten nur vom Evangelium gestillt werden können.


Das ist freilich eine Auskunft, die nicht im Sinne einer reinen "Anknüpfungs-Pastoral" missverstanden werden darf. Ich erinnere an das soeben über die Krise unserer Gottesrede Gesagte. Gott ist nicht einfach eine Antwort auf menschliche Bedürfnisse, er ist vielmehr eine Antwort auf das Verlangen, in einem ewigen DU aufzugehen. Essen von normalem Brot ist Bedürfnisbefriedigung. Das eucharistische Brot dagegen ist Existenzumwandlung: Aus einer in sich erstarrten, toten Zinnfigur wird ein lebendiger, hingabefähiger, antwortbereiter und in Liebe und Freude antwortfähiger Mensch! Zugegeben: Diese Verwandlung dauert ein ganzes Leben lang. Aber eben darum geht es letztlich in christlicher Existenz. Alles andere ist nur "Stützkorsett", Beiwerk, Hilfskonstruktion. Ich helfe mir immer mit der Formel: Der Vollender-Gott vor mir ist wichtiger als der Schöpfer-Gott hinter mir! Der Atem meines Glaubens ist mehr die Sehnsucht als das Verstehen- und Erklären-Können um jeden Preis!


In diesem Sinn: auskunftsfähig werden für das Evangelium. Wenn der Gott Jesu Christi "mehr als notwendig" ist oder gar "nützlich", wenn er jenseits von Theismus und Atheismus angesiedelt werden muss: Was hat das für Folgen für unsere Verkündigung, für unser Kirche-Sein? Könnten wir an der Verkündigung Jesu, etwa an dem Gleichnis vom verlorenen Sohn bzw. vom grundlos gütigen Vater (Lk 15) etwas für unsere heute notwendige Art und Weise von Verkündigung lernen? Wie kann Gott und seine Verheißung so zur Sprache kommen, dass Gott als anderer Name für die Freiheit und die Gnadenhaftigkeit unseres Lebens neu entdeckt werden kann? Die französische Sprache kennt das Wort gratuit?. Gnade, Liebe sind immer "grundlos"


Was unserer Kirche in Deutschland dringend und verstärkt braucht ist solch eine in den Gottesglauben einführenden Katechese. Das biblisch gesättigte, vom Glauben der Kirche inspirierte Sprechen von Gott ist ein wichtiges Desiderat der Seelsorge heute. Hat uns die Chance, mit religiösem, christlichem Bildungsgut in der Schule präsent zu sein den Mut zur eigenständigen kirchlichen Katechese genommen? Instinktiv spüren wir im Osten, dass Religionsunterricht als Schulfach zwar eine wertvolle Erweiterung unseres kirchlichen Aufgabenfeldes ist - aber dieser muss einer lebendigen Katechese für, in und durch Personen, die wirklich Glaubenszeugen sind, nachgeordnet bleiben. (Womit nicht gesagt ist, dass nicht auch Religionslehrer solche Zeugen sein können!)


Es muss ferner so etwas geben wie ein vorkatechumenales Aufmerksam-Machen auf den Gottesglauben. Das kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen - nicht zuletzt auch im Raum der Öffentlichkeit. Wir haben hier in Erfurt einige Beispiele für solche ein öffentliches Aufmerksam-Machen auf Gott entwickelt (z.B. die Lebenswende-Feier für ungetaufte Jugendliche, das Totengedenken für Menschen, die zu keinem Grab gehen können; das Weihnachtslob in der Heiligen Nacht für kirchenferne Stadtbewohner; Gottesdienste für chronisch Kranke oder auch Segensfeiern für Menschen, die von einem anderen geliebt und begleitet werden wollen u.a.).


Zielpunkt aller Bemühungen in der Seelsorge freilich sollte sein eine "Sprachbefähigung" aller in der Gemeinde in Glaubensdingen. In diesem Sinn sind die Wiederbelebung des Katechumenats und von Formen einer "dialogischen Katechese" mit Erwachsenen Aufgaben, die für die Zukunft der Kirche wichtig sind. Wir müssen lernen "Wege erwachsenen Glaubens" zu gehen. Nicht nur die mit der Pastoral hauptberuflich Betrauten, alle Getauften müssen religiös "auskunftswillig" und "auskunftsfähig" werden, einschließlich in der Sprache des Gebetes - und was diesem Ziel im Gemeindeleben dient, auch im Tun der pastoral Hauptberuflichen, schafft Zukunft für Kirche und darf mit Recht Vorrang haben.



3. Den "Nächsten" als Anruf Gottes entdecken


In einem war die DDR-Gesellschaft noch von säkularisierten christlichen Idealen bestimmt: Ihre Führer träumten von einer "sozialistischen Menschenfamilie", in der aufgrund der Befriedigung der Bedürfnisse aller die Menschen glücklich werden sollten. Dieser Traum ist zerplatzt, vermutlich weniger wegen der falschen Ökonomie des alten Systems als vielmehr wegen seines defizitären Menschenbildes. Der Sozialismus wäre vielleicht mit Heiligen, aber sicher nicht mit uns Sündern gelungen!


Zutiefst bleibt aber dem Menschen, nicht nur im Osten, das Verlangen erhalten, in gelingenden, versöhnten Beziehungen leben zu können. Die wahren Nöte des Menschen sind nicht die materiellen Nöte sondern die Beziehungsnöte. Partnerschaft und Familie etwa sind wichtige Erfahrungsfelder für den Zugang zum christlichen Glauben. In einer Zeit wachsenden Unverständnisses gegenüber der christlichen Gottesbotschaft muss unsere Kirche auf diese alltäglichen, lebenspraktischen Zugänge zur Botschaft des Evangeliums verstärkt achten.


Der "Nächste" als Anruf Gottes und als konkreter Ort meiner Lebensantwort an Gott - das sind Perspektiven eines kirchlichen Wirkens, die in einer weltlicher werdenden Welt noch stärker Gewicht gewinnen werden. Dort, wo die Sozialwissenschaften von Wertebeziehungen und Wertbindung reden, sprechen wir Christen von Nächstenliebe, von Treue, von Dienstbereitschaft, von Sinnerfüllung im Vergessen des "egoistischen" Adam in uns. Die großen institutionellen Werke der Nächstenliebe werden sicher auch in Zukunft wichtig bleiben. "Sprechender" aber im Sinne einer deutlicheren christlichen Profiliertheit wird sein die Zuwendung von Mensch zu Mensch - um der Liebe Christi willen, der durch seine "Armut" uns reich gemacht hat, wie Paulus einmal sagt (vgl. 2 Kor 8,9). Das schrieb er übrigens, um für eine Kollekte zu werben!


In Thüringen hatten wir im vergangenen Jahr die Freude, den 800. Geburtstag der hl. Elisabeth zu feiern. Für mich erstaunlich war die Anteilnahme der nichtchristlichen Bevölkerung an diesem Gedenken. Für manche der marxistisch indoktrinierten Thüringer war es offensichtlich eine Entdeckung zu sehen, wie ein Leben, das sich vom Himmel her versteht, sich nicht der Erde entfremdet.

Es ist wohl doch nicht so, dass Religion und Himmel nur etwas ist für "Engel und die Spatzen", wie einst Heine gespottet hat. Es ist wohl eher anders: Wer keinen Himmel kennt, bekommt mit der Erde Probleme. Und wer Gott ausblendet, versteht sich selbst nicht mehr. Als Bischof bin ich dankbar: Elisabeth hat in diesem Jahr besser gepredigt als ich. Der Blick auf diese Gestalt unserer Thüringer Geschichte hat vielen Menschen gezeigt: Es gibt offensichtlich ein Leben, dass gerade durch seinen Gotteshorizont in seiner Vitalität, in seiner Intensität und Liebenswürdigkeit gesteigerte Qualität gewinnen kann. Es scheint doch zu stimmen: Mit dem "zweiten Auge", dem religiösen Auge "sieht man mehr" als man denkt.


Die Kirche der Zukunft wird auf Menschen treffen, die weniger von Kanzeln angepredigt werden wollen. Sie werden Menschen suchen, die mit ihrem leben das Evangelium verkündigen und die zum "Dienst der Fußwaschung" am Nächsten bereit sind. Und das ist auch ein Sakrament, freilich eines, das - wie der große Theologe Hans Urs von Balthasar einmal gesagt hat - "vor den Kirchentüren gespendet wird".


Ich breche hier mit meinen Ausführungen ab. Zwei Nachbemerkungen seien erlaubt:


1. Was ich gern meinen Pfarrern sage, gilt sicher auch allen Christen, besonders jenen, die manchmal am derzeitigen Zustand der Kirche leiden: Die Gesamteinstellung unseres kirchlichen Engagements darf von einer in sich ruhenden Gewissheit getragen sein: Wir bezeugen einen Gott, der nicht auf unseren Dienst angewiesen ist. Eine lebendige und offensive Pastoral greift nicht einem hilflosen Gott unter die Arme, sondern sie dient vor allem uns selbst: Wir bleiben in der Osterwirklichkeit, wenn wir zusammen mit dem österlich präsenten Christus auf andere zugehen. Als Seelsorger schaue ich letztlich zu bei dem, was Gottes Geist selbst in den Herzen der Menschen bewirkt. Die kritische, aber von Grundsympathie getragene Begleitung der Menschen, so wie sie sind, nicht, wie wir sie haben möchten - das ist der Weg einer Kirche, die Zukunft haben wird.


2. Nachbemerkung: Mancher mag sagen: Was war in diesen Ü;berlegungen typisch für ostdeutsche Verhältnisse? In der Tat, das meiste in meinen Ü;berlegungen gilt auch für die kirchliche Situation des Westens. Aber was wir Christen aus dem Osten Deutschlands unseren Mitchristen im Westen vermitteln können, ist dies: die kostbare Erfahrung, dass so gewaltig aufgeblasene Mächte, wie die mit staatlichem Zwangsmitteln durchgesetzte alte atheistische Ideologie, vor Gebeten und Kerzen ihr Leben aushauchte. Auch wenn da sicher noch andere Faktoren mitgeholfen haben - die sieghafte Zuversicht, als Kirche und als Christen auch den jetzt herrschenden "Mächten und Gewalten" standhalten zu können, das demütige Selbstbewusstsein, wie damals auch heute gehalten zu werden, diese Zuversicht und Gewissheit wünschte ich uns allen.

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