Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
das Wort SOLIDARITÄT wird in der Zeit der Corona-Pandemie sehr häufig benutzt. In beeindruckender Weise beachten die meisten Menschen seit Monaten Schutzmaßnahmen und Kontaktbeschränkungen, um die Ausbreitung eines Virus zu verhindern, das vor allem alten und kranken Menschen sehr gefährlich werden kann. In unserer Gesellschaft besteht Einigkeit darin, dass denjenigen, die durch die Schutzmaßnahmen wirtschaftlich schwer getroffen sind, geholfen werden muss.
Nun hat Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ schon im Jahr 2013 beklagt, das Wort SOLIDARITÄT habe sich „ein wenig abgenutzt“ (Nr. 188). Für ehemalige DDR-Bürger war der Begriff schon länger abgenutzt. Deswegen scheint es mir wichtig, die christlichen Wurzeln der Aufforderung zur Solidarität darzulegen. Im Rahmen eines Hirtenbriefes kann ich nicht auf alle Konsequenzen eingehen, die sich für Christen aus der Aufforderung zur Solidarität ergeben. Ich beschränke mich auf drei Aspekte:
Vor allem die armen Menschen in unserer Welt sind von der Epidemie und den Folgen der Virusbekämpfung stark betroffen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat schon im Jahr 1965 in der Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ beklagt: „Die Welt spürt lebhaft ihre Einheit und die wechselseitige Abhängigkeit aller von allen in einer notwendigen Solidarität und wird doch zugleich heftig von einander widerstreitenden Kräften auseinander gerissen. Denn harte politische, soziale, wirtschaftliche, rassische und ideologische Spannungen dauern an.“ (Nr. 4) Deswegen benannten die Konzilsväter die christlichen Wurzeln der Verpflichtung zu weltweiter Solidarität: Christus „selbst hat ja, als er die menschliche Natur annahm, die ganze Menschheit in einer übernatürlichen Solidarität zu einer Familie zusammengefasst und an sich gebunden.“ (Dekret über das Apostolat der Laien Nr. 8)
Weil Jesus Christus in seiner Menschwerdung nicht nur die Getauften, sondern alle Menschen angenommen hat, sind Christen zu solidarischem Miteinander verpflichtet, das die Grenzen überwindet, die sich zwischen Menschen gebildet haben und bilden. Papst Franziskus mahnt in seiner Enzyklika „Evangelii gaudium“ sehr eindringlich: „Der Mangel an Solidarität gegenüber den Nöten des Nächsten beeinflusst unmittelbar unsere Beziehung zu Gott. (…) Immer kehrt die alte Frage wieder: „Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?“ (1 Joh 3,17)“ (Nr. 187) Weiter schreibt der Papst: „Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht.“ (Nr. 189)
Die sozialen Folgen der Pandemiebekämpfung erfordern eine weltweite Solidarität – nicht nur von unserem reichen Land, sondern von jedem Einzelnen, besonders von jenen, die die Pandemiebekämpfung nicht wirtschaftlich getroffen hat. In der Fastenzeit sind wir nicht nur zum Fasten und zum Beten aufgerufen, sondern auch zum Almosengeben. Ihre Spende für das katholische Hilfswerk Misereor ist ein Ausdruck dieser Solidarität. Sie können diese Spende auch gerne dem Hilfswerk überweisen.
Nun zum zweiten Aspekt christlich geforderter Solidarität: Solidarität ist nicht nur in unserer Gesellschaft gefragt, sondern auch in unserer Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hat auch die tiefen Wurzeln der innerkirchlichen Solidarität beschrieben: „Seit Beginn der Heilsgeschichte erwählte Gott Menschen nicht nur als Einzelwesen, sondern als Glieder einer bestimmten Gemeinschaft. Denn jene Erwählten, denen Gott seinen Heilsratschluss offenbarte, nannte er „sein Volk.“ (Ex 3,7-12)“ (Die Kirche in der Welt von heute Nr. 32)
Durch Taufe und Firmung wurden wir ins Volk Gottes berufen und gehen als Volk Gottes gemeinsam durch die Geschichte. Das war nie ein Weg der Einmütigkeit ohne jede Meinungsverschiedenheit oder jeden Konflikt. Aber das Bewusstsein, gemeinsam dem einen Volk Gottes anzugehören, kann uns auf einem gemeinsamen Weg halten, dem gemeinsamen Weg, den Kirchorte in einer Pfarrei miteinander gehen, dem gemeinsamen Weg, den Pfarreien und katholische Einrichtungen in unserem Bistum miteinander gehen, dem gemeinsamen Weg, den die katholische Kirche auf dem Synodalen Weg miteinander geht und dem gemeinsamen Weg, den die katholische Kirche weltweit miteinander geht.
Für die Katholiken in der DDR war es sehr wichtig, in die Weltkirche eingebunden zu sein und durch die Bindung an den Papst einen Anker außerhalb des sozialistischen Systems zu haben. Mir ist es wichtig, auf dem Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland die Gemeinschaft mit der Weltkirche nicht infrage zu stellen. Das Zweite Vatikanische Konzil mahnt eindrücklich: Christus „stiftete nach seinem Tod und seiner Auferstehung (…) eine neue Gemeinschaft in seinem Leib der Kirche, in dem alle (…) sich entsprechend der Verschiedenheit der empfangenen Gaben gegenseitig dienen sollen. Diese Solidarität muss stetig wachsen bis zu jenem Tag, an dem sie vollendet sein wird und die aus Gnade geretteten Menschen als eine (…) Familie Gott vollkommen verherrlichen werden.“ (Die Kirche in der Welt von heute Nr. 32)
Beim dritten Aspekt christlich geforderter Solidarität möchte ich auf die Familie als Schule solidarischen Verhaltens eingehen und möchte dazu gerne den früheren Erfurter Bischof Hugo Aufderbeck zu Wort kommen lassen. Am 17. Januar war es vierzig Jahre her, dass er im Alter von 70 Jahren verstorben ist. In seinem Fastenhirtenbrief im Jahr 1973 hat er mahnend und auf seine unvergleichliche Weise konkret geschrieben: „Ursula ist 16 Jahre alt. Überlässt sie den Aufwasch und Hausputz der Mutter und spielt die feine Dame? – Karl ist 19 Jahre alt. Steckt er seinen Verdienst in die eigene Tasche, kauft sich ein Motorrad, raucht seine Zigaretten, trägt aber mit keinem Pfennig, mit keiner helfenden Tat an den Lasten des Familienhaushalts mit? – Der Mann kommt abends müde nach Hause, liest die Zeitung, sieht fern. – Und die Mutter? Sagt sie kein Wort mehr, weil ihr keiner mehr zuhört oder abends niemand zu Hause ist? Ist das eine Familie? Das ist eine Wohn-, Schlaf- und Essgemeinschaft, vielleicht eine Fernsehgesellschaft. Familie ist dann Familie, wenn jeder „famulus“ ist, d.h. wenn jeder jedem dient. Die Familie ist die Schule der Diakonie, wo man lernt, einander gut zu sein und aneinander gut zu handeln. Eltern tun ihren Kindern einen schlechten Dienst, wenn sie alle Dienste für sie tun. Verwöhnte Kinder werden verdrossene, unzufriedene und anspruchsvolle Zeitgenossen.“ (Hugo Aufderbeck, Volk Gottes auf dem Weg (Leipzig 1979) S. 71f.) Soweit Bischof Hugo Aufderbeck. Manches, was er schreibt, ist zeitgemäß, vieles aber zeitlos.
Seit fast einem Jahr sind die Familien durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie bis an ihre Grenzen – manchmal auch darüber hinaus – belastet. Umso nötiger ist es, dass in der Familie als Solidargemeinschaft alle mithelfen, die Zeit zu überstehen, bis Kindergärten und Schulen, aber auch Altenpflege-Einrichtungen wieder geöffnet sind, und Alt und Jung auch mit Menschen, die nicht zur Familie gehören, ihre freie Zeit gemeinsam gestalten können. Gebe Gott, dass diese Zeit bald wiederkommt und die Pandemie überwunden ist.
Für Sie und für alle, die zu Ihnen gehören, erbitte ich den Segen des dreifaltigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.