Die derzeitige Debatte um die Integration muslimischer Mitbürger erinnert mich an eine vertraute Erfahrung: Erst angesichts des Fremden wird einem das Eigene bewusst. Erst als zu DDR-Zeiten die Tante aus Münster zu Besuch kam, merkte unsere Familie in Ilmenau, dass in mancher Hinsicht bei uns die Uhren anders tickten. Freilich: Die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Familie machte es damals leicht, die innerdeutschen Fremdheiten zu überwinden. Ein Beispiel für gelungene Integration von Ost und West.
Es ist richtig, dass Christian Wulff für alle in Deutschland wohnenden Menschen Präsident sein will. Aber was macht unser gemeinsames "Haus" Deutschland aus? Ich begrüße sehr, dass durch die Integrationsdebatte das Nachdenken über das eigentliche Ziel gelingender Beheimatung von Menschen aus anderen Kulturen und Religionen bei uns neu belebt wird.
Integration bedeutet ja nicht Gleichmacherei. Jeder soll sein können, was er sein will und was er als eigene Identität mitbringt. Und das ist für einen gläubigen Muslim auch seine Religion. Diese muss er frei ausüben können. Dass zu dieser Religion auch kulturelle Prägungen gehören, die uns fremd sind, fordert uns heraus, aber ebenso auch die Muslime, die bei uns leben. Nicht alles, was mit Religion begründet wird, hat mit Religion zu tun, weder im Christentum noch bei den Muslimen. Aber ein verbindendes Interesse von Muslimen und Christen könnte sein, unsere jeweiligen religiösen Wurzeln im Blick auf gelingendes Menschsein zu befragen. Was bringt unser gemeinsames "Haus" Bundesrepublik Deutschland nach vorn? Was macht es wohnlich? Was macht seine unterschiedlichen Bewohner zu Freunden?
Dazu gehört, dass auch wir uns auf unser Herkommen besinnen. Es ist heilsam, uns fragen zu lassen, womit wir unsere Wertüberzeugungen begründen. Die jüdisch-christliche Prägung ist das eine. Wichtiger ist, was wir daraus machen und ob wir diese Prägung fruchtbar werden lassen für ein Gemeinwesen, in dem "Einigkeit und Recht und Freiheit" hochgehalten werden. Ist unsere westliche Praxis des Zusammenlebens der Geschlechter, des Schutzes der Würde der Frau, der sozialen Solidarität wirklich über jede Kritik erhaben? Und könnte unsere Erfahrung der Trennung von Staat und Kirche bei gleichzeitiger Kooperation und je eigener Verantwortlichkeit ein Modell sein, dass auch anderen Religionen einen Weg in eine plurale Moderne weist?
Es gibt hinreichend Anlass zum gemeinsamen Nachdenken und Gespräch. Ich bin überzeugt, dass dies unter Freunden durchaus gelingen kann.
Beitrag erschienen in der Thüringer Allgemeinen vom 9.10.2010.