In Gottes Schutz geborgen

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr im Reformationsgottesdienst am 31.10.2020 in der Erfurter Augustinerkirche

Das Bild ist bei einem anderen Gottesdienst aufgenommen worden.

Der Psalm 91 wird im Stundengebet unserer Kirche immer am Sonntagabend in der Komplet gebetet. Am Sonntag, dem Tag des Herrn, wird die Auferstehung Jesu Christi gefeiert. Am Abend dieses Tages geht mancher Gedanke schon in die werktägliche Woche, die am Montag beginnt. Da ist es gut, sich am Abend zu vergewissern, dass wir bei Gott geborgen sind und dass an seinem Segen alles gelegen ist, was wir uns für die Woche vorgenommen haben.

Am Abend des 15. März 2020 hat mich ein Vers aus diesem Psalm ganz besonders angesprochen. Der Sonntagsgottesdienst, den ich am Morgen gefeiert habe, hat unter außergewöhnlichen Umständen stattgefunden. Die Schutzmaßnahmen vor dem Corona-Virus waren zwei Tage zuvor beschlossen und verhängt worden. In manchen Teilen Thüringens war es noch gestattet, mit maximal 50 Gläubigen die Heilige Messe zu feiern. Exakt 49 Gläubige waren zusammengekommen und verteilten sich mit großem Abstand über das Kirchenschiff und die Empore. Es war eine beklemmende Erfahrung, dass die meisten Christen an diesem Sonntag nicht gemeinsam Gottesdienst feiern konnten. Es zeichnete sich bereits ab, dass zur Bekämpfung des Corona-Virus alle Versammlungen, auch in Kirchen, grundsätzlich verboten werden mussten. Und dann betete ich am Abend im Psalm 91: Du brauchst dich nicht zu fürchten „vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag“ (Vers 6). Bis dahin hatte ich immer gedacht, Seuchen gäbe es nur in anderen Ländern. Während der Ebola-Seuche, die in vielen afrikanischen Ländern wütete, habe ich bei diesem Psalm immer an die Menschen dort gedacht. Nun hat das Corona-Virus nicht nur eine Epidemie verursacht, sondern eine Pandemie. In beiden Begriffen steckt das griechische Wort „demos“ für Volk, das wir aus dem Begriff Demokratie kennen. Eine Epidemie legt sich auf ein Volk, eine Pandemie betrifft alle Völker. Den Begriff Seuche verwenden wir hierzulande nur noch für Erkrankungen von Tieren. Es hat sich aus dem Mittelhochdeutschen „Siech“ entwickelt, das schwach und krank bedeutet und heute noch im Begriff des „Siechens“ vorkommt. Tatsächlich offenbarte das Corona-Virus die Anfälligkeit und Schwäche des Menschen auch in hochzivilisierten Gesellschaften und rief eine Krankheit hervor, die das Gesundheitssystem auch in Industrieländern überforderte. Mit dem Gebet des Psalms 91 werde ich von jetzt an immer die Erfahrungen der Corona-Pandemie verbinden.

Im Vers 6 des Psalms 91 ist nicht nur von der Seuche die Rede, die am Mittag wütet, sondern auch von der Pest, die im Finstern schleicht. Gott sei Dank ist die Pest, die viele Jahrhunderte eine große Geisel der Menschheit war, ausgerottet worden. Dafür gibt es eine neue Krankheit, die viele Menschen befällt und vor der viele Angst haben. Trotz intensivster medizinischer Bemühungen ist es noch nicht gelungen, ein Heilmittel gegen den Krebs zu finden. Es gibt zwar Therapien für Krebserkrankte, aber die Angst vor der Wiederkehr der Krankheit begleitet sie ein Leben lang.

Neben den Gefahren, die den Menschen durch Krankheiten oder Seuchen drohen, benennt Psalm 91 auch die Gefahr, die den Menschen durch Gewalt droht. Er spricht von der Furcht „vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt“ (Vers 5). Auch mit diesem Vers verbinde ich ein festes Datum, nämlich den 14. Mai 1981. Es war der Tag nach dem Attentat Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 1981. Damals war ich Theologiestudent im Mainzer Priesterseminar. Am Tag nach dem Attentat fand im überfüllten Mainzer Dom ein Bittgottesdienst für den schwerverletzten Papst statt. Der damalige Bischof von Mainz Hermann Kardinal Volk hielt eine seiner vielen beeindruckenden Predigten. Ein Satz aus dieser Predigt hat sich mir fest eingeprägt. Kardinal Volk sagte: „Niemand kann uns aus der Hand Gottes schießen.“ Diesen Satz verbinde ich mit meinen Gebeten für die Menschen, deren Leben und Gesundheit bedroht ist durch Gewalt, Terror und Krieg.

Schließlich benennt Psalm 91 weitere Gefahren, die den Menschen damals drohten, nämlich die Gefahr durch Tiere. In Vers 13 werden Löwen und Nattern benannt. Vor allem die Nattern sind für die Menschen im Wüstenstaat Israel eine ständige Bedrohung. Der Prophet Jesaja beschreibt das messianische Friedensreich als ein Zukunftsort, an dem es diese Gefahren nicht mehr gibt: „Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus.“ (Jesaja 51,8) Die Apostelgeschichte berichtet davon, dass sich die besondere Erwählung des Apostels Paulus darin zeigt, dass ihm nach einem Schiffbruch auch eine Natter nichts antun konnte: „Als Paulus einen Haufen Reisig zusammenraffte und auf das Feuer legte, fuhr infolge der Hitze eine Viper heraus und biss sich an seiner Hand fest. Als die Einheimischen das Tier an seiner Hand hängen sahen, sagten sie zueinander: Dieser Mensch ist gewiss ein Mörder. Die Rachegöttin lässt ihn nicht leben, obwohl er dem Meer entkommen ist. Er aber schüttelte das Tier von sich ab ins Feuer und erlitt keinen Schaden. Da erwarteten sie, er werde anschwellen und plötzlich tot umfallen. Als sie aber eine Zeitlang gewartet hatten und sahen, dass ihm nichts Schlimmes geschah, änderten sie ihre Meinung und sagten, er sei ein Gott.“ (Apostelgeschichte 28,3-6) Das Leben der Menschen hierzulande ist durch Tiere kaum noch gefährdet, wohl aber durch den Autoverkehr, dem jedes Jahr über 3.000 Menschen zum Opfer fallen. Das Gebet für sie verbinde ich auch mit dem Gebet des Psalms 91.

Psalm 91 beschreibt nicht nur die Gefahren, die den Menschen drohen, sondern er beschreibt auch in beeindruckenden Hoffnungsbildern die Geborgenheit des Menschen bei Gott. Es beginnt mit dem Satz: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt, der ruht im Schatten des Allmächtigen.“ (Vers 1) Den Schatten kann man nicht anfassen. Auch Gott bleibt uns Menschen unbegreiflich. Trotzdem schützt der Schatten unser Leben vor der Sonne, was besonders in heißen Ländern unersetzlich ist. Dem Propheten Jona genügte schon der Schatten eines kleinen Rizinusstrauches, um ihn von seinem Missmut zu befreien (Jona 4,6). In Psalm 36 heißt es: „Wie köstlich ist deine Liebe, Gott! Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel.“ (Psalm 36,8) Natürlich kennt die Bibel auch die Erfahrung, dass der Schatten Dunkelheit und Kälte verbreitet und ein Bild für den Tod sein kann. In seinem großen Lobgesang betet Zacharias nach der Geburt seines Sohnes, Johannes des Täufers: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und Schatten des Todes und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.“ (Lukas 1,78-79)

Ein weiteres Hoffnungsbild für die Geborgenheit bei Gott, das die Bibel häufig verwendet, findet sich im Psalm 91 zweimal: „Ja, du Herr bist meine Zuflucht.“ (Vers 9) Die Beter des Psalms, der wohl etwa 500 Jahre vor Christus entstanden ist, verbanden mit dem Begriff Zuflucht einen ganz besonderen Ort, nämlich den Tempel. Wer zu Unrecht verfolgt wurde, konnte im Tempel so lange Asyl finden, bis gerichtlich geprüft war, ob die Vorwürfe gegen ihn berechtigt waren.

Dass glaubende Menschen bei Gott Zuflucht und Sicherheit finden, drückt sich auch im Bild von der Burg aus. Die beiden Begriffe Zuflucht und Burg werden in den Psalmen häufig gemeinsam verwendet, so wie in Vers 2: „Du meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf dem ich vertraue.“ Die vielen Burgen, die es hierzulande gibt, schaffen uns leicht einen Zugang zu diesem Bild. In unserer deutschen Sprache schwingt mit, dass die Begriffe Burg und Bergen miteinander verwandt sind. Die Burg ist ein Ort der Geborgenheit vor den vielen Gefahren, die unserem menschlichen Leben drohen.

Ein weiteres schönes Hoffnungsbild auf die Geborgenheit bei Gott wird in Vers 4 beschrieben: „Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht.“ Dieses Bild ist inspiriert von der Beobachtung, dass Vögel ihre Jungen unter ihren Flügeln bergen, wir sagen im deutschen Sprichwort „unter ihre Fittiche nehmen“. In einem Lied des Mose im Buch Deuteronomium ist sehr eindrücklich beschrieben, dass Gott wie ein Vogel sein Volk unter seine Fittiche nimmt: „Der Herr nahm sich sein Volk als Anteil, Jakob würde sein Erbteil. Er fand ihn in der Steppe, in der Wüste, wo wildes Getier heult. Er hüllte ihn ein, gab auf ihn Acht und hütete ihn wie seinen Augenstern. Wie ein Adler sein Nest ausführt und über seinen Jungen schwebt, seine Schwingen ausbreitet, eines von ihnen aufnimmt und es auf seinem Gefieder trägt.“ (Deuteronomium 31,9-11)
Schließlich begegnet in Psalm 91 auch das Bild von Gott als einem Schild: „Schild und Schutz ist seine Treue.“ (Vers 4) Das Schild war in biblischer Zeit die klassische Abwehrwaffe gegen Angriffe von Hieb- und Stoßwaffen sowie von Pfeilen. Wegen seiner schützenden Funktion wurde das Schild auch als Bild für Gottes Handeln am Menschen verwendet. So heißt es im Psalm 5: „Du Herr segnest den Gerechten, wie mit einem Schild deckst du ihn mit Gnade.“ (Psalm 5,13)

Das eindrücklichste Hoffnungsbild für die Geborgenheit bei Gott bringt Psalm 91 erst am Schluss zur Sprache: „Er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.“ (Psalm 91,11-12) Felix Mendelssohn Bartholdy hat diesen Vers für sein Oratorium Elias vertont: „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ Die wunderbare Melodie, die Felix Mendelssohn Bartholdy zu diesen Versen geschaffen hat, ist eine Herausforderung für alle Chöre, die damit Psalm 91 zum Klingen bringen. Auch damit verbinde ich wieder ein Datum, nämlich den 16. November 2014. Nachdem ich 1976 ins Mainzer Priesterseminar eingetreten war und seit 1982 als Diakon, Priester und Weihbischof sehr gerne im Bistum Mainz tätig war, wurde ich an diesem Tag im Mainzer Dom verabschiedet, um Bischof von Erfurt zu werden. Dass der Mainzer Domchor das wunderbare Stück von Felix Mendelssohn Bartholdy zum Schluss gesungen hat, hat mir alle Sorgen und Befürchtungen genommen.
 
Die lyrische Qualität des gesamten Psalms 91 zeigt sich auch darin, dass der Psalm mittlerweile sieben Mal vertont worden ist. Im Gotteslob steht die Vertonung von Michael Vehe aus dem Jahre 1537.

Wer unterm Schutz des Höchsten steht, im Schatten des  Allmächtgen geht,
wer auf die Hand des Vaters schaut, sich seiner Obhut anvertraut,
der spricht zum Herrn voll Zuversicht: „Du meine Hoffnung und mein Licht,
mein Hort, mein lieber Herr und Gott, dem ich will trauen in der Not“.

Er weiß, dass Gottes Hand ihn hält, wo immer ihn Gefahr umstellt;
kein Unheil, das im Finstern schleicht, kein nächtlich Grauen ihn erreicht.
Denn seinen Engeln Gott befahl, zu hüten seine Wege all,
dass nicht sein Fuß an einen Stein anstoße und verletzt mög sein.

Denn dies hat Gott uns zugesagt: „Wer an mich glaubt, sei unverzagt,
weil jeder meinen Schutz erfährt; und wer mich anruft, wird erhört.
Ich will mich zeigen als sein Gott, ich bin ihm nah in jeder Not;
des Lebens Fülle ist sein Teil, und schauen wird er einst mein Heil“.