Im Kreuz ist Vergebung

Predigt von Bischof Neymeyr an Karfreitag

Bild: Friedbert Simon In: Pfarrbriefservice.de

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,

Darstellungen des Kreuzes Christi sind uns vertraut, sei es als schlichtes Kreuz oder als Kruzifix mit dem Körper des sterbenden oder toten Jesus. Auf vielen Gemälden ist außer dem Kreuz auch die Umgebung abgebildet: Maria und Johannes unter dem Kreuz und die beiden Verbrecher, die nach der Überlieferung des Lukasevangeliums zusammen mit Jesus gekreuzigt worden sind. Da in diesem Jahr in den Sonntagsgottesdiensten aus dem Lukasevangelium gelesen wird, wurde am Palmsonntag die Passionsgeschichte in der Version des Lukas verkündet. Es heißt im Lukasevangelium: „Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: `Bist du denn nicht der Christus? Dann rette dich selbst und auch uns!‘ Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: `Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil getroffen. Uns geschieht Recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten. Dieser aber hat nichts Unrechtes getan.´ Dann sagte er: `Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!´ Jesus antwortete ihm: `Amen, amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,39-43). Die Ikonografie der Ostkirche veranschaulicht dieses Jesuswort sehr plastisch: Auf den Darstellungen der Auferstehung Christi sieht man am Rande die Erlösten zum Himmel pilgern. Oben an der Himmelspforte werden sie von dem Verbrecher begrüßt, den Jesus mit den Worten: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“, heiliggesprochen hat. Dies ist ein sehr tröstliches Bild und ein sehr tröstliches Wort Jesu für alle, die schwere Schuld auf sich geladen haben. Dem reuigen Sünder, der um Vergebung bittet, kann Gott auch ein Verbrechen vergeben, in der Kraft des Verbrechertodes Jesu Christi.

Deswegen ist der Karfreitag für mich ein Tag, um auf eine Todsünde einzugehen, die jedes Jahr in unserem Land 100.000 Mal begangen wird, das nämlich ein ungeborener Mensch seinen Geburtstag nicht erlebt. Ich weiß, dass häufig die Frau die geringste Schuld trifft. Sehr oft wird sie vom Mann, von der Familie oder vom gesellschaftlichen Umfeld dazu gedrängt. Es ist schon ungeheuerlich, dass Eltern eines behinderten Kindes hören müssen: „Das wäre doch heute nicht mehr nötig gewesen.“ Schon Papst Johannes Paul II. hat zu Recht von einer Zivilisation des Todes gesprochen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass Menschen, die für eine Abtreibung verantwortlich sind, unter den Zuhörern jeder Predigt und jedes Vortrags sind. Im Blick auf die Vergebungskraft des Kreuzes Christi kann und muss aber doch die schlichte Wahrheit gesagt werden, dass ein ungeborener Mensch eben ein ungeborener Mensch ist, der, wie es den Menschen eigen ist, leben möchte. Im Blick auf den reuigen Verbrecher können wir darauf vertrauen, dass Gott auch die Todsünde der Abtreibung vergeben kann. Papst Franziskus hat jedem Priester dazu die Vollmacht erteilt.

Nun muss ich sie aber einladen, zu einem ungewohnten Blick auf das Kreuz: Ich bitte Sie, mir im Geist zu folgen auf einem Weg hinter das Kreuz. Dann können wir nämlich die Menschen sehen, die vor dem Kreuz gestanden haben. Der Evangelist Lukas schreibt: „Das Volk stand dabei und schaute zu. Auch die führenden Männer verlachten ihn und sagten: `Andere hat er gerettet, nun soll er sich selbst retten, wenn er der Christus Gottes ist, der Erwählte!“ (Lk 23,35). Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, dass unter den Menschen vor den Kreuzen auch Angehörige der Opfer der beiden Verbrecher waren, die mit Jesus zusammen gekreuzigt worden sind. In amerikanischen Gefängnissen können die Angehörigen die Hinrichtung des Mörders beobachten.
Jetzt muss ich einen kleinen Exkurs einfügen: Ich bin sehr froh, dass die letzten Päpste die Todesstrafe grundsätzlich abgelehnt haben und Papst Franziskus dies nun zur Lehre der Kirche erhoben hat. Der Justizirrtum, dem auch Jesus zum Opfer gefallen ist, ist eines der schlagkräftigen Argumente gegen die Todesstrafe. Soweit der nötig gewordene Exkurs.
Jetzt schauen wir wieder auf die Menschen, deren liebste Angehörige von den beiden Verbrechern, die mit Jesus gekreuzigt worden, umgebracht worden sind. Wie haben sie wohl auf den Satz Jesu reagiert: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“? Ich kann mir nur vorstellen, dass sie gerufen haben: „Einspruch! Der kommt nicht ins Paradies, bevor seine Opfer ihm nicht vergeben haben!“ Dies entspricht ganz der Verkündigung Jesu, der immer wieder betont hat, dass die Barmherzigkeit Gottes abhängig ist von der Vergebungsbereitschaft der Menschen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Wir müssen unsere Lebenszeit nutzen, um mit unseren Opfern ins Reine zu kommen. Dies gilt auch für jene, die für eine Abtreibung verantwortlich sind. Vielleicht haben sie noch andere Kinder, für die sie mit besonderer Liebe da sein können. Vielleicht können sie für Schwangerschaftsberatungsstellen oder Kinderschutzinitiativen spenden. Vielleicht können Sie sich in einer caritativen Einrichtung engagieren oder das abgetriebene Kind immer wieder im Gebet dem Jesuskind empfehlen, wie Papst Franziskus rät. Für uns alle ist der Karfreitag eine Mahnung, die Opfer unserer Sünden zu identifizieren und sich für sie zu engagieren. Eine schöne geistliche Übung dafür ist auf dem Domberg möglich. Sie können sich nämlich hinter das Kruzifix stellen, dass zwischen Dom und Severi aufgerichtet ist und von dort aus einen Blick auf die Stadt werfen. Dann brauchen Sie sich nur vorzustellen, dass die Menschen in der Stadt die Menschen sind, die ihnen im Leben begegnen und begegnet sind. Mit manchen wird man erst noch ins Reine kommen müssen.