Lieber Wallfahrer!
In wenigen Wochen wird wieder einmal in unserem Land gewählt, und das gleich dreimal. Wählen können scheint uns heute selbstverständlich. Gewählt-werden freilich ist weniger selbstverständlich!
Und damit bin ich schon bei meinem Predigthema. Nein - nicht die Wahlen im Juni, sondern eine andere Wahl: die Wahl, die Gott getroffen hat, als er uns wählte! Er-wählte!
Ich gebe zu: Das ist eine etwas ungewohnte Perspektive, aus der wir das Wort Wahl betrachten. Meistens denken wir von uns aus. Und auch wir Prediger sind gewohnt, die Gläubigen zu ermuntern: Entscheidet euch für Gott! Wählt ihn!
Aber sollten wir eingangs nicht einmal bedenken, dass es viel entscheidender ist, dass Gott uns gewählt hat? Das ist alles andere als selbstverständlich!
Denkt nur manchmal an den Blick, mit dem ihr morgens beim Rasieren in den Spiegel schaut, euer zerknittertes, oft müdes Gesicht betrachtet und resigniert vor euch hinmurmelt: "Man hätte eigentlich Besseres verdient als sich selbst!"
In der Tat: Hätte nicht auch Gott Besseres verdient als uns? Bedenken wir es einmal aus seiner Perspektive:
1. Gott will uns.
Vorbehaltlos! Er wartet nicht auf Bessere. Er hat Ja gesagt zu uns, so wie wir sind. Das ist zutiefst verwunderlich.
Warum liebt uns Gott? Warum hat er uns erwählt? Die Tatsache unserer Erwählung ist ja die Kernaussage unseres Glaubens, gleichsam seine Kernbotschaft: Du bist von Gott "gemocht"! Du bist angenommen! Du bist geliebt - auf eine unfassbare und unerklärliche Weise.
Erich Fried, ein Schriftsteller unserer Tage hat es einmal so ausgedrückt:
Es ist Unsinn - sagt die Vernunft.
Es ist Unglück - sagt die Berechnung.
Es ist aussichtslos - sagt die Einsicht.
Es ist leichtsinnig - sagt die Vorsicht.
Es ist unmöglich - sagt die Erfahrung.
Die Liebe aber sagt: Es ist, was es ist!
In der Tat: Die Liebe kennt keine Zwecke. Wo Berechnung in Liebe eindringt, stirbt sie ab. Da wird sie zur Last, schlägt sie den anderen in Fesseln, zerstört sie Freiheit und Freude am Leben. Vielleicht hast Du dich auch schon einmal gefragt: "Warum liebt mich eigentlich meine Frau? Gibt es nicht -zig andere Männer, die schöner, klüger, leistungsstärker sind als ich?" Es ist, was es ist - sagt die Liebe!
Liebe Wallfahrer, Gott ist die Liebe. Mich hat nicht ein Welteningenieur erschaffen, der ein interessantes Experiment machen wollte. Ich bin bejaht von einer Liebe, die unbegreifbar groß ist, die sogar meine Freiheit zulassen kann als Möglichkeit, mich gegen die Liebe zu entscheiden. "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt", sagt der Herr. Wer das weiß, kann sich an der Freiheit freuen. Vergesst nie, für dieses Erwählt- und Geliebt-Sein zu danken.
Ein Zweites müssen wir bei unserem Thema Freiheit bedenken: Wo es Freiheit gibt, muss man
2. Mit Schuld, aber noch mehr mit Vergebung rechnen
Manchmal hadere ich mit Gott. Wenn ich z. B. von solch schrecklichen Dingen wie der Tötung der beiden Kinder in Heiligenstadt höre, oder vorher - ausgerechnet am Ostersonntag - auch in Erfurt. Oder wenn ich einfach auf das Elend der Welt schaue, das uns täglich in den Medien dargeboten wird. Wäre es nicht besser, wenn es keine Freiheit gäbe? Eine Welt aus menschlichen Marionetten wäre unproblematischer. Einer ganz oben bestimmt - und alles läuft nach Kommando.
Aber wäre das wirklich eine wünschenswerte Welt? Wäre das ein Leben, das sich zu leben lohnt? Wer geliebt wird, kann nur zur Freiheit berufen sein - sonst ist er überhaupt nicht geliebt.
Ihr merkt das an euren Kindern. Sie müssen lernen, ihren Weg zu finden, sie müssen zu echten Persönlichkeiten heranreifen - und deshalb müsst ihr sie - eben, weil ihr sie gern habt - freilassen, so schmerzlich das in manchen Situationen auch sein mag. Es mag euch trösten: Nach manchen Sturm- und Drangjahren kommen dann auch wieder andere Zeiten, getreu nach dem schönen Wort von Mark Twain, der einmal gesagt hat: "Zwischen meinem 20. und 40. Geburtstag wurde mein Vater immer klüger!"
Zur Freiheit gehört es, dass man schuldig werden kann. Es gibt Schuld, in jedem Menschenleben, auch in meinem. Natürlich kann man sein Gewissen narkotisieren, man kann es sogar totschlagen und dann frech behaupten: "Sünde gibt es nicht. Schuld ist Erfindung der Pfarrer. An allem Schlimmen in der Welt sind nur die Verhältnisse schuld!" Das ist so, wie wenn Schüler, die in der Schule nicht lernen wollen, sagen: Lasst uns die Lehrer auswechseln! Nein: Es gilt zunächst einmal den Eigenanteil an dem zu suchen, was in der Welt und in der Gesellschaft nicht gut läuft.
Mit Entschuldigungen sind wir schnell zur Hand, bei anderen - und vor allem bei uns selbst. Ich nenne einmal einen Trend, der im Wachsen ist. Manche sagen: "Wir leben in einer Ellenbogengesellschaft. Man sieht ja, wie die da oben sich bedienen. Und weil das so ist, kann auch ich mich mit meinem Ellenbogen betätigen!" Ich meine: 1. Stimmt das nicht. Die Mehrzahl der Menschen die ich kenne sind keine Ellenbogenmenschen. Und 2. schafft ein solches Verhalten erst das, was man angeblich und heuchlerisch kritisiert: eine Mentalität der Selbstbedienung oder gar der Raffgier.
Da muss ich Bundespräsident Rau mit seiner letzten Rede recht geben: So kann es nicht gehen. Das Fehlverhalten, auch einiger weniger ganz oben (und manchmal auch unten), muss beim Namen genannt und geahndet werden. Aber: Das Fehlverhalten einiger weniger darf uns nicht zur Entschuldigung werden für eigenes Fehlverhalten.
Denkt daran: Jesus hat nicht entschuldigt, sondern Schuld vergeben. Das ist ein wichtiger Unterschied.
Zum Realismus unseres Glaubens zählt, mit eigener Schuld zu rechnen. Es braucht bei uns die Bereitschaft, eigene Schuld zu erkennen, zur eigenen Schuld zu stehen und dort, wo es möglich ist, um Vergebung zu bitten und wieder etwas gutzumachen.
Um Vergebung bitten und Vergebung gewähren ist schwer, besonders wo es um tiefe persönliche Verletzungen geht. Aber dennoch ist beides notwendig.
Wer Gott kennt, den unfassbar Liebenden, kann zu seiner Schuld stehen und doch Hoffnung behalten. Es gibt nichts, was uns von Gottes Liebe trennt - es sei denn, dass wir uns weigern, uns in seine Liebe hineinzuflüchten. Nur so erweisen wir uns der Freiheit, in die Gott uns gestellt hat, würdig. Wo es Vergebung gibt, kann das Leben neu erblühen - in der Ehe, in der Familie, in der Gesellschaft, in der Kirche.
Und lasst mich das als dritten Gedanken sagen:
3. Wahre Freiheit vermag sich selbst zu binden.
Wer durch Liebe freigesetzt wird und aus der Kraft vergebener Schuld lebt, kann nicht einfach machen, was er will. Das geht ja auch sonst nicht. Wer schwimmen will, springt nicht mit dem Bademantel ins Wasser, und wer in die Berge wandern geht, schleppt nicht die halbe Wohnungseinrichtung mit.
Die abstrakte Möglichkeit, dieses oder jenes tun zu können, ist die Voraussetzung der Freiheit. Die Freiheit als solche besteht in der Kraft, sich für ein erkanntes Gut binden zu lassen. "Ich bin angebunden", sagt deine Frau, die den alten Vater pflegt. Aber sie weiß, warum sie sich binden lässt. Es ist ein Entschluss, gefasst aus selbstloser Liebe.
Ich erinnere euch an Momente in eurem Leben, wo ihr das vielleicht selbst einmal erfahren habt. Am glücklichsten ist man dort, wo man ganz bei einer Sache sein kann, bei einem gelingenden Werk. Ein Handwerker, ein Betrieb - wie stolz sind die Leute, wenn ein Werk gut geschafft worden ist. Vorgestern hatte ich die Bauleute beisammen, die die komplizierte Sanierung der Erfurter Domtürme erfolgreich geschafft haben. Es war harte Arbeit, eine große Mühe - und doch waren alle ganz bei der Sache, von der Bauleitung angefangen bis hin zum Lehrling.
Ein großes Werk in Freiheit vollenden - das bindet. Eine Ehe gelingen lassen - das bindet. Kinder großziehen und zu wertvollen Menschen erziehen - das bindet. Eine Gesellschaft mit Zukunft bauen - das bindet. Lasst mich gerade dazu einige aktuelle Worte sagen.
Aus den Diskussionen in den letzten Wochen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Entwicklung im Osten Deutschlands allein für die gegenwärtigen Probleme in Deutschland verantwortlich ist.
Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollten wir am Bemühen um eine weitere Vertiefung der deutschen Einheit festhalten. Es hilft uns nicht weiter, Ost und West gegeneinander auszuspielen. Das gilt übrigens auch für das seit dem 1. Mai 2004 größer gewordene Europa.
Der Osten will arbeiten, wenn man ihn nur ließe! Es kann doch nicht sein, dass unsere Kinder alle nach Bayern und Baden-Württemberg oder sonst wohin auswandern müssen und in diesem Land die Betriebe dichtmachen? Wir haben gemeinsame Probleme in Deutschland! Wir sollten sie gemeinsam lösen, nicht gegeneinander.
Grundlegende Ziele der Politik wie gleichwertige Lebensbedingungen, Ü;berwindung von krassen Ungleichheiten, der Abbau von Benachteiligungen von Menschen und Regionen und die besondere Zuwendung, die Schwache und Benachteiligte brauchen - das darf die Politik nicht aus dem Auge verlieren. Und das sind Ziele, die nicht nur den Osten Deutschlands betreffen, sondern die für ganz Deutschland Gültigkeit haben.
Ich wehre mich dagegen, wenn grundlegende Probleme unseres Landes allein auf den Osten abgeladen und ihm als Verursacher zugerechnet werden. Die Menschen in den neuen Bundesländern und auch in unserem Freistaat haben in den letzten 15 Jahren große Veränderungen bewältigt und viel geleistet.
Jeder von uns steht in seiner Weise in spezifischer Verantwortung für das Gemeinwohl. Enttäuschungen und Schwierigkeiten dürfen nicht dazu führen, sich ins Private zurückzuziehen. Was für unseren Glauben gilt - Ihr seid zur Freiheit berufen! - das hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Ihr seid zur Wahrnehmung und Gestaltung der Freiheit in unserem gemeinsamen Vaterland berufen!
Und das kann in der jetzigen Situation sehr konkret bedeuten:
- Das Wissen um die Notwendigkeit von Reformen muss sich bei Politikern, Interessenverbänden sowie auch bei den einzelnen Bürgern mit Reformbereitschaft verbinden.
- Probleme und Schwierigkeiten im kommunalen Bereich - ich erinnere an die gottlob weniger im Eichsfeld als anderswo geführte Abwasser-Diskussion - dürfen die Ü;bernahme öffentlich-politischer Verantwortung nicht ausschließen. Ich erinnere deshalb hier bewusst an die Bedeutung der Kommunalwahlen am 27. Juni und lobe ausdrücklich alle, die sich zu solchen Ehrenämtern als Kandidaten zur Verfügung stellen.
- Und ich sage auch dies: Mit der Wahrnehmung meiner Stimmabgabe bei den anstehenden Wahlen übernehme ich Mitverantwortung für die Gestaltung unseres Gemeinwesens. Es gilt auch hier wie sonst das Wort des Apostels Paulus: "Prüfet alles, das Gute behaltet!" Und zu dem Guten zähle ich alles, was unsere Ehen und Familien stärkt, was unsere Kinder vor Verführung schützt, was die Ehrfurcht vor dem Leben fördert und was der Einübung des Verzichts dient, ohne den wir die Zukunft nicht sichern können! Und auch das sage ich: Wer durch Nichtwählen Denkzettel verteilen will, stärkt Extremisten, die wir in unserem Land nicht brauchen.
Jetzt werdet ihr sagen: Ist er doch noch auf die Wahlen gekommen! Ja, aber haben die Wahlen nicht doch auch etwas mit der Wahl zu tun, die Gott zuerst getätigt hat? Er hat uns "gewählt". Er hat uns mit Freiheit ausgestattet, der Freiheit der Kinder Gottes. Er hat uns trotz unserer Schuld nicht fallen gelassen und uns in Jesus Christus neues Leben geschenkt.
Wie sieht unsere Antwort auf Gottes Vertrauen in uns aus? Ängstlich, kleinkariert, einfallslos? Wir haben mit Recht Erwartungen an jene, die wir wählen. Auch Gott setzt in uns Erwartungen. Enttäuschen wir ihn nicht!
Werft darum ab, was euch an euch selbst bindet! Lasst euch herausfordern von der Freiheit, die uns geschenkt ist! Gebt der Angst vor der Zukunft keinen Raum, sondern wagt mutig, Gott diese Antwort zu geben:
- "Weil Du uns magst,
- weil Du auch uns Sünder erträgst und immer neu mit uns beginnst,
- darum binden wir uns an Dich - in aller Freiheit - und lassen nicht von der Liebe zu Dir und unserem Nächsten!". Amen.
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