Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
die Geschichte des Bistums Erfurt ist eng mit der Teilung Deutschlands verbunden. Die Gründung einer eigenständigen Diözese in Thüringen vor 25 Jahren hat eine grundlegende Vorgeschichte. Nach der Schließung der Grenzen der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde die Seelsorge in den nun abgetrennten Gebieten der Bistümer Würzburg und Fulda so erschwert, dass der bischöfliche Kommissar in Erfurt Hugo Aufderbeck zum Apostolischen Administrator mit bischofsähnlichen Rechten und Pflichten ernannt wurde.
In dieser Zeit ist die Identität einer eigenen kirchlichen Einheit gewachsen, die mit der Bistumsgründung bekräftigt wurde. Bischof Wanke hat dies vor 25 Jahren so beschrieben: „Hier wurde versucht, den gewachsenen Verhältnissen vor Ort Rechnung zu tragen. Für mich ist dies der erste und wichtigste Grund, ein Bistum für Thüringen als sinnvoll anzusehen: In dieser geprägten Region braucht es eine fortdauernde Verwurzelung unserer Kirche in kirchenorganisatorischer Hinsicht, gleichsam ein „strukturelles Rückgrat“ für das kirchlich-katholische Leben, wie es sich trotz widriger Umstände dennoch in dieser Region zwischen Werra und Saale entwickelt hat. Der Heilige Stuhl und die anderen deutschen Bischöfe haben gleichsam anerkannt, dass hier gewachsenes Leben jetzt nicht strukturell „zurückgebaut“ werden darf, sondern modifiziert, den neuen Verhältnissen angepasst weiterentwickelt werden sollte. Und diese Entscheidung ist angesichts der bekannten Zähigkeit und Langsamkeit kirchlicher Denk- und Entscheidungsprozesse erstaunlich schnell und vor allem erstaunlich einmütig in allen entsprechenden Gremien gefallen.“
Was sind die identitätsstiftenden Charakteristika des Bistums Erfurt? Ich bin erst mit 57 Jahren ins Bistum Erfurt gekommen. Nach vier Jahren fügen sich viele Begegnung und Erfahrung zu einem Bild zusammen:
Die gemeinsame thüringische Identität erlebe ich nicht als sehr ausgeprägt. Vielleicht liegt das auch daran, dass Teile von Thüringen nicht zu unserem Bistum gehören. Aber es gibt auch historische Gründe: Der Name Thüringen tritt als Gebietsbezeichnung seit dem Thüringerreich schon im frühen 6. Jahrhundert auf. Danach bildete Thüringen aber kein zusammenhängendes Herrschaftsgebiet mehr. Das Bundesland müsste eigentlich heißen: Vereinigte Freistaaten von Thüringen. Mittlerweile ist durch thüringenweite Organisation, Veranstaltungen und Medien ein Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen, aber es bestehen nach wie vor starke lokale Identitäten: Ein Eichsfelder versteht sich nicht sehr intensiv als Thüringer, und das prägt auch die kirchlichen Identitäten im Bistum Erfurt. Ich erlebe dies als eine Bereicherung, die ich auch vom Bistum Mainz kenne: Zwischen einem Rheinhessen und einem Südhessen liegt nicht nur der Rhein. Und eines haben die Eichsfelder und die Südthüringer doch gemeinsam: das harde D.
Anderes erlebe ich als identitätsstiftend für unser Bistum: Der Erfurter Mariendom ist das geistliche Zentrum des Bistums. Dass hier alle Priester und Diakone geweiht, alle Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten gesendet und alle Diakonats- und kommunionhelfer und -helferinnen beauftragt wurden und werden, schafft eine geistliche Mitte, die bei der Bistumswallfahrt im September auch in großem Rahmen erlebbar wird. Dazu gehört natürlich auch das Amt des Bischofs, der seine Kathedra hier hat. Am Tag meiner Ernennung titelte die Thüringer Allgemeine Zeitung „Thüringens neuer Bischof“.
Für die Älteren gibt es eine gemeinsame Identität, die sie verbindet: das Leben unter der Diktatur der SED. Über manches können sie heute lachen, vieles belastet sie für immer. Als ich im Kreis der Mitbrüder einmal gesagt habe, dass ich die Hälfte meines Lebens in einem anderen politischen System verbracht habe, sagte einer spontan: Das ist kein Mangel. Die Erfahrung der politischen Repression verbindet sich für katholische Christen mit der Erfahrung der Dankbarkeit für die Einbindung in die Weltkirche, die auch für die unterdrückten Katholiken heute nicht selten eine Lebensversicherung ist.
Es gibt eine weitere Identität der katholischen Christen in der Diaspora – aber auch im Eichsfeld: Das Bewusstsein, dass wir als Christen eine Minderheit in unserer Gesellschaft bilden. Im „Westen“ glauben viele, sie lebten in einer christlichen Gesellschaft. Der Rheinländer lebt in der irrigen Meinung, katholisch zu sein sei normal. Hier wissen die Christen, dass es normal ist, ohne Glauben, Religion und Kirche zu leben. Das macht dankbar für das Geschenk des Glaubens und der Freiheit der Religionsausübung, das macht sensibel für die Fragen der „Heiden“ und fördert eine weitere spezifische Identität in unserem Bistum:
Die Selbstverständlichkeit des geschwisterlichen ökumenischen Miteinanders. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Bezirksapostel der neuapostolischen Kirche, der die Öffnung seiner Kirche für die Ökumene maßgeblich mit unterstützt hat, Rolf Wosnitzka, ein Thüringer ist. Konfessionsverbindende Ehen und Familien und viele ökumenische Kontakte auf allen Ebenen sind Zeugnisse für das gelebte gemeinsame Christsein aus der einen Taufe.
Ich möchte noch erwähnen, dass es in unserem Bistum ein selbstverständliches Miteinander von Bistum und Caritas gibt. Nach der Wende konnte die Caritas als Verband gegründet und in der Gesellschaft verwurzelt werden. Das hat aber nicht das Bewusstsein dafür getrübt, dass Caritas Kirche ist und einen wesentlichen Grundauftrag der Kirche verwirklicht.
Es bleibt eine Aufgabe, die Zusammengehörigkeit der Katholiken in unserem Bistum erlebbar zu machen. Ich freue mich über jeden, der einen Weg in Kauf nimmt zu diözesanen Veranstaltungen, Fortbildungsangeboten oder Wallfahrten. Umgekehrt bin ich gerne im Bistum unterwegs, um die Gemeinsamkeit erlebbar zu machen. Dabei erlebe ich ein weiteres Charakteristikum unserer Diözese: Man kennt sich! Das ermutigt, über den Tellerrand des eigenen Kirchorts hinauszuschauen, voneinander zu hören und zu lernen und sich gegenseitig im Glauben und im Kirche-Sein zu bestärken.