"Ich schäme mich des Evangeliums nicht!"

Vortrag von Bischof Joachim Wanke beim Pastoralkongress des Bistums Erfurt

Zusammenfassung des Vortrages


"Ich schäme mich des Evangeliums nicht!" (Röm 1,16) - Warum dieses Pauluswort auch heute gilt


Vortrag von Bischof Dr. Joachim Wanke auf dem Pastoralkongress des Bistums Erfurt am 10./11. Oktober 2003 in der Erfurter Landesentwicklungsgesellschaft (LEG)



Zum Anliegen des Kongresses


Erst im Nachhinein merkte ich, dass der Tagungsort unseres Pastoralkongresses Anlass zu einem gewissen Schmunzeln gibt: Wir tagen in den Räumen der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen! In der Tat: Was braucht dieses Land dringlicher für seine Entwicklung als das Evangelium - so wie es das Leitwort unseres Kongresses besagt: "Das Evangelium - Licht für uns, Licht für alle" (Thüringer!).


Nein - es geht bei diesem Kongress nicht um die wirtschaftliche Vermarktung von Liegenschaften des alten Staates. Es geht nicht um die wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung dieses Bundeslandes. Oder hat unser Thema doch zumindest mit der Kultur etwas zu tun, mit menschlicher "Entwicklung?" Es geht um Licht für Thüringen, freilich um ein besonderes Licht: ein Licht, das von oben einfällt.


Ich hatte bei den Firmungen dieses Jahres mit meinem Predigteinstieg bei den jungen Leuten Eindruck gemacht. Ich schilderte meine erste Autofahrt mit einem satellitengestützen Navigationsystem (GPS). Staunenswert, was Menschen so alles erfinden. Das Ziel eingeben und einfach losfahren - und die Stimme aus dem Apparat leitet den Autofahrer exakt und sicher zum gewünschten Ort. Sich vom Himmel her leiten lassen - das ersetzt nicht das eigene Fahren. Das befreit nicht von der notwendigen Aufmerksamkeit auf den sonstigen Straßenverkehr. Aber es ist doch eine enorme Hilfe, gerade in Gegenden oder Städten, in denen man sich nicht auskennt. Die Anwendung auf den Heiligen Geist und seine Wirkungsweise war dann leicht.... GPS fürs Christenleben!


Ist das Evangelium nicht auch so etwas wie eine Stimme aus einer anderen Dimension? Im Evangelium geht es nicht um Wirtschaft und Politik, um Wissenschaft oder Kunst, noch nicht einmal um Bildung und Erziehung. Das Evangelium ist in der Tat so etwas wie eine eigentümliche Beleuchtung aller menschlichen Wirklichkeitsbereiche. Es erzeugt eine Einfärbung aller Dinge, gleichsam eine Fermentierung, die eine alles durchdringende, perspektivverändernde Kraft hat. Darum hat unser Kongress doch etwas mit "Landesentwicklung" zu tun - freilich einer Entwicklung besonderer Art.


Worum geht es in diesen Tagen? Um ein Anliegen nicht nur für heute und morgen. Es geht uns um die Wiedergewinnung einer Grundbestimmung des Christseins und Kircheseins: Wir sind nicht für uns selbst da. Wir haben als katholische Christen (in Gemeinschaft mit allen anderen Mitchristen in der Ökumene) für alle Mitbürger in diesem Land eine Aufgabe. Ohne das Evangelium Jesu Christi fehlt Thüringen etwas Entscheidendes. Es fehlt ihm "das Licht von oben", der Gotteshorizont. Mein Anliegen ist es, alle Mitchristen für diese Sicht der Dinge zu sensibilisieren.


Man könnte das Hauptanliegen meines Vortrags in ein kurzes Wort fassen: "Aufbewahrtes Manna verdirbt!" Glaube, der nicht unter die Leute kommt, wird schal. Der Christ, der nur sich selbst bewahren will, wird ungenießbar.


Unserem Christsein darf nicht abhanden kommen, was sein Markenzeichen ist: Es hat eine Botschaft, die alle Menschen angeht. Jesus Christus selbst bezeichnet seine Jünger als Salz. Salz ist nicht das Ganze, aber es hat seinen Sinn nur im Bezug zu einem größeren Ganzen, das es "salzen", also mit seiner Kraft durchdringen soll. Und auch die Metapher vom Licht auf dem Leuchter stammt bekanntlich aus der Verkündigung Jesu, ein Bild, das auch im Zeitalter des künstlichen Lichts noch unmittelbar verständlich ist. Licht ist zum Leuchten, nicht zum Verstecken da.


Ich möchte meine Ü;berlegungen in drei Teile gliedern. Wir wollen zunächst (1.) bedenken, was das Wort Evangelium in unserem Zusammenhang meint. Wir wollen uns sodann (2.) fragen, was das Evangelium denen bringt, die sich auf dessen Botschaft einlassen, und wollen abschließend (3.) nach Möglichkeiten ausschauen, das Evangelium unter die Leute zu bringen, und zwar nicht in Afrika oder Ozeanien, sondern hier unter unsere Landsleute in diesem Freistaat.


"Aufbewahrtes Manna verdirbt!"

Das haben die Israeliten auf ihrem Weg durch die Wüste ins gelobte Land auch erfahren müssen. Das Manna musste jeden Tag neu vom Himmel fallen und aufgesammelt werden. Es war eine Speise für unterwegs, ein Viaticum, eine Wegzehrung im besten Sinne des Wortes.



1. Das Evangelium - der Blick auf die neue Welt Gottes


Ist das Manna nicht in gewisser Hinsicht dem Evangelium Jesu Christi ähnlich? Ich habe soeben einen wichtigen Zusatz zu dem Stichwort Evangelium gemacht. Evangelium Jesu Christi. Das griechische Wort euanggelion heißt soviel wie "Botschaft", "Frohbotschaft". Wir würden heute sagen: Nachricht von Gewicht! Zur Zeit Jesu war z. B. ein euanggelion die Botschaft, dass der Kaiser eine Stadt mit seiner Gegenwart und mit kräftigen Geldzuwendungen beehren wollte! (Welche Stadt würde sich nicht auch heute über ein solches euanggelion freuen!). Das Evangelium im heutigen Sinn ist Frohbotschaft, die das Kommen Jesu Christi meint und sich auf seinen Ostersieg über Sünde und Tod bezieht.


Um es auf den Punkt zu bringen: Evangelium meint in unserem Zusammenhang nicht nur die Botschaft des irdischen Jesus von Nazareth. Jesus verkündet nicht nur das Evangelium, er ist das Evangelium selbst in seiner Person, in seinem Geschick.


Evangelium im christlichen Sinn meint (um mich hier an Paulus anzulehnen) die Ansage eines grundlegenden Machtwechsels, einer "Wende", für die die letzte politische Wende in unserem Land nur eine schwache Analogie ist. Es geht um die Ablösung aller gottfeindlichen Mächte und Gewalten aus ihren angemaßten Machtpositionen. Es geht um die Einsetzung des Auferstandenen zum Herrn über alle Welt.


Jesus selbst spricht in seiner Verkündigung vom kommenden und schon jetzt angebrochenen Reich Gottes. Ü;berall, wo Gottes Herrschaft anerkannt wird, beginnt etwas Neues, eben: das Reich des Vaters. Auch wenn das endgültige Kommen des Gottesreiches noch aussteht, bestimmt es doch schon die Gegenwart, so ähnlich, wie die Anwartschaft auf die EU in den osteuropäischen Beitrittsländern jetzt schon die politische Agenda dieser Länder bestimmt.


Ich verdeutliche diese Dialektik des "Schon" und "Noch nicht" gern an einem Erlebnis: Bei einem Urlaub in der slowakischen Tatra - mitten im Hochsommer - sah ich einmal in der Parkanlage eines Kurortes auf den asphaltierten Wegen junge Athleten auf Rollskiern trainieren. Ein merkwürdiger Anblick! Alle Passanten staunten. Sie ahnten, dass hier vermutlich höchst effizient für olympische Medaillen geübt wurde, die erst im Winter auf schneebedeckten Pisten gewonnen werden sollten. Doch war der Anblick der mitten im Hochsommer trainierenden Wintersportler höchst verwunderlich, sogar ein wenig zum Lächeln! Hier wurde mir anschaulich demonstriert, was das heißt: "aus dem Vorgriff" auf eine kommende Wirklichkeit leben. Ein Bild für christliches Leben aus dem Glauben an das Evangelium.


Dieser Botschaft, diesem Evangelium vom Reich Gottes soll in jeder Generation durch die Kirche, durch uns Glaubende ein "Resonanzraum" geschaffen werden, damit alle diese Ansage einer Zeitenwende, die Gott herbeigeführt hat, hören und danach ihr Leben neu ausrichten. Ich gebrauche gern dieses Bild vom Resonanzraum, etwa einer Stradivari-Geige. Instrumente benötigen bekanntlich einen Resonanzraum, in welchem der Ton, eine Melodie zum Klingen kommen kann.


Ohne Bild: Gott hat schon durch das Kommen Jesu, in seinem Sterben und Auferstehen die Welt endgültig und für immer in das Osterlicht getaucht. Dafür hat kein Mensch Patentrechte anzumelden. Das ist allein Gottes Tat. Die Botschaft von diesem denkwürdigen, in Gottes Liebes- und Leidensbereitschaft begründeten Sieg ist seit 2000 Jahren in der Welt. Diese Botschaft ist ein geschichtsmächtiges Faktum, bis in unsere Tage. Es veränderte nicht nur Gesellschaftssysteme, es veränderte Herzen. Das Evangelium macht aus alten Menschen neue.


Es ist eine andere Frage, warum Gott nicht sogleich das ewige, bleibende Ostern herbeigeführt hat. Darüber kann man ins Grübeln kommen! Der eigentliche Skandal des Glaubens ist für mich die Tatsache, dass Jesu Ostersieg noch nicht der Sünde vollends den Garaus gemacht hat. Warum hören wir nur vom Anbruch des Tages und müssen ihm noch im Zwielicht dieser konkreten Weltzeit entgegenlaufen? Ich meine: Weil Gott unser freies Ja zu seinem Reich von uns hören will - und weil er noch viele andere Generationen von Menschen und geschöpflichen Wesen für die unendliche Freude seiner ewigen Nähe bestimmt hat.


Freilich: Noch stehen wir "im Kampf", wie Paulus sagen würde. Wir sind noch nicht in die Himmel versetzt. Wir sind noch auf dem Weg in der Wüste. Aber: Der Kampf um Heil oder Unheil meines Lebens ist schon positiv von Gott entschieden. Unsere einzige Sorge muss sein aufzupassen, vom fliehenden Feind nicht doch noch in "Nachhut-Gefechte" verwickelt zu werden und zu fallen.


Noch einmal: Evangelium ist eine Welt- und Lebenssicht, die alles in ein neues, österliches Licht taucht. Dem Evangelium folgen bedeutet so etwas wie eine Horizonterweiterung für das Leben des Menschen. Evangelium meint die innerste Zielorientierung für mein persönliches Navigationssystem, das wir Glauben nennen. Das Evangelium ist die Magna Charta der Kirche, wenn wir so wollen: ihr spezifisches "Markenprodukt".


Daraus ergibt sich aber auch Folgendes: Niemand wird als Christ geboren. Jeder Mensch, der in die Welt kommt, muss für sich selbst, ganz persönlich, Christ werden, das "Licht" aufnehmen, wie es im Johannesprolog heißt, um so Kind Gottes werden zu können. Auch wir, die wir als Kleinstkinder getauft und christlich erzogen wurden, auch wir mussten und müssen ständig fragen, was unser Getauftsein eigentlich bedeutet. Wir müssen immer wieder neu diese Grundentscheidung des Herzens treffen: Wem will ich gehören? Biblisch gesprochen: den Mächten dieser Welt, die mich versklaven wollen - oder Gott dem Herrn, der mich durch Christi Sieg fähig gemacht hat, "Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Lichte sind", wie es Kol 1,12 heißt. Oder nicht biblisch formuliert: Wir müssen uns ständig um den "Mehrwert" des christlichen Glaubens bemühen, um das große Plus vor unserer Lebensklammer. Sonst schrumpfen wir zu einer Null, werden zur Manövriermasse anonymer Mächte, die über uns verfügen - herz- und sinnlos. Die Angst vor dem Missbraucht-Werden oder einfach der Verdacht, das eigene Leben sei bedeutungslos, treibt - so empfinde ich - viele unserer Mitmenschen insgeheim um. Sie fragen sich: Was sollen wir aus unserem Leben letztlich machen? Manches, was ich um mich herum an Lebenshunger, ja Lebensgier beobachte, deute ich einfach als eine gewisse "Torschlusspanik"!


Jetzt haben wir die eigentliche Tiefe dieses so harmlos daherkommenden Wörtchens Evangelium ausgelotet. Das Evangelium ist letztlich Jesus Christus selbst, die Begegnung mit ihm, der von Gott gekommen ist und dennoch ganz unser Menschenbruder bleibt. So gesehen ist das Evangelium Jesu Christi und unsere Antwort darauf die Mitte unseres Christseins. Es ist in der Tat so etwas wie eine grandiose Orientierung für unser Leben. Es ist Licht von oben. Stimme, die vom Himmel her Wegweisung gibt. GPS des Heiligen Geistes! Damit klingt schon an, was wir als Zweites bedenken wollen (ehe wir den Blick auf die anderen richten):



2. Das Evangelium - Licht für uns


Jesus sagt es so: "Kann ein Blinder einen Blinden führen?" (Lk 6,39). Man muss selbst erst einmal etwas gesehen haben, ehe man andere auf etwas Sehenswertes aufmerksam machen kann. Man muss selbst erst einmal eine Antwort gehört haben, ehe man anderen antworten kann. Freilich: Wir bleiben, auch wenn wir anderen das Evangelium bezeugen, auf Dauer selbst auf das Evangelium als Licht, als Wort Gottes angewiesen.


Vielleicht kann es wieder ein Bild sagen, was gemeint ist. In einem unbekannten, unübersichtlichen Gelände ist es gut, eine ordentliche Landkarte zu haben. Manche Leute sind so genial, die brauchen nur einmal einen Blick auf eine Karte zu werfen, da wissen sie Bescheid. Ich für meinen Teil nehme gern für unterwegs eine Karte mit, beim Wandern, bei einer Fahrt in nicht so bekannte Gegenden. Es ist gut, ab und zu einmal einen Blick auf die Karte werfen zu können, einfach um sich zu orientieren und gegebenenfalls sich neu auszurichten. Zudem kann man auch - über die Karte gebeugt - für andere zum Auskunftsbüro werden, wie das einem durchaus bei Wanderungen passieren kann (Aber damit greife ich schon meinem dritten Referatsteil mit dem Stichwort: "Auskunftsfähigkeit" vor!)


Was meine ich? Unsere Ü;berlegungen für die Aufgabe, auskunftsfähige Kirche zu werden, greifen zu kurz, wenn wir nur ein Schwarz-Weiß-Schema haben: hier wir Getaufte und Gefirmte - und auf der anderen Seite die anderen, die das Evanglium nicht kennen. Natürlich ist daran etwas Richtiges. Aber dieser Gegensatz wird sofort irreführend, wenn wir meinen: Das Evangelium sei uns näher als den anderen. Das stimmt nicht.


Es gibt eine prinzipielle Offenheit aller Menschen für Gottes Anruf. Christi Ostersieg ist ja für alle errungen und Gottes Heilswille - abstrakt gesprochen - zielt auf alle Menschen. Das ist Grundüberzeugung der Kirche von Anfang an. Darum hat die Kirche sich niemals zur Sekte machen lassen, zu einem Zirkel der Besserwissenden, die sich hochmütig von der Masse der anderen absetzt oder mit ihr nichts zu tun haben will.


Nur ein Hinweis: Die frühe Kirche hat sich nicht gescheut, den bunten Völkerhaufen rund um das Mittelmeer das Evangelium in ihrer jeweiligen Muttersprache zu predigen. Darum kam es von Anfang an zu einem enormen Bedarf an Ü;bersetzungstätigkeit. Ja manchen Völkern wurde erst durch die Christianisierung ihre eigene Schriftsprache geschenkt. Das ist für mich ein wichtiger Fingerzeig: Die Ü;bersetzungstätigkeit für das Evangelium ist prinzipiell noch nicht abgeschlossen. Es fehlt z. B. noch: das Mitteldeutsche, das Thüringische! Es ist klar, was ich meine: Nicht die hör- oder lesbare Sprache, sondern jene Sprache, in der das Evanglium das Herz der Menschen hier und heute erreichen kann.


Nochmals: Wir Christen sind nicht besser als unsere Mitmenschen. Aber wir haben es besser. Wir haben in unseren Händen - im obigen Bild gesprochen -, was andere nicht haben, eine sehr präzise Landkarte, die das Lebensterrain im Ü;berblick zeigt und die gangbaren Wege zu dem alles entscheidenden Ziel.


Wir Christen sind wie alle Menschen noch auf dem Weg. Der Unterschied ist: Wir kennen den Weg, auch wenn wir ihn schuldhaft und verbockt zeitweilig selbst nicht gehen.


Das ist übrigens für mich das entscheidende Argument, warum Auskunftsfähigkeit im Glauben nicht notwendig einen hundertprozentigen persönlichen Heiligenschein voraussetzt. Auch der Kranke kann einem anderen Kranken sagen, wo er den Arzt findet und die helfende Therapie. Hingehen zum Arzt muss freilich jeder selbst


Doch genug der Bilder und Vergleiche. Was deutlich geworden sein sollte, ist dies: Das Evangelium ist nicht einfach so in unsere Verfügung gegeben, dass wir es wie eine Tablette weiterreichen könnten. Wir bedürfen selbst dieser Medizin, dieser Speise, dieser Lebensorientierung vom Wort Gottes her - und zwar ständig und ohne darin zu einem abschließenden Ende zu kommen.


Daraus folgt für mich: Zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden kann es nur ein Verhältnis der existentieller Solidarität geben. Wir dürfen nicht im Sinne einer Einbahnstraße denken. Es geht auch nicht um Hilfeleistung von Besitzenden an solche, die eben auf Hilfe angewiesen sind.


Hilfsbedürftig vor Gott sind alle Menschen. Aber uns Glaubenden hat Gott die Gnade geschenkt, dass wir 1. unsere Hilfsbedürftigkeit einsehen und vor allem 2. wissen, woher uns Hilfe kommen kann. Wir als Getaufte haben uns auf Gottes Führung eingelassen. Wir sagen Ja und Amen zu einer unendlich kostbaren Gabe, die wir uns nicht selbst verschaffen oder verdienen können: Gottes Freundschaft, sein Erbarmen.


Ich möchte an dieser Stelle den grundlegenden Einwand ansprechen, der heute von nichtchristlichen Menschen gegenüber einer sich religiös verstehenden Existenz gemacht wird: Es ist der Verdacht, mit einem religiösen Glauben verliere der Mensch seine Autonomie, seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Religion, und eben auch christliche Religion sei ein Zustand der Fremdbestimmtheit, in der dem Menschen das Recht auf schöpferische Selbstverwirklichung und moralische Autonomie genommen würde. Das ist der geheime Stachel, der viele auch nachdenkliche Zeitgenossen vom Glauben an Gott und an das Evangelium abhält.


Darauf mag es manches zu antworten geben, von der Anthropologie her, die weiß, dass wir grundsätzlich dialogische und nicht monologische Wesen sind, von der Theologie her, die uns zeigen kann, dass Gottes Freiheit nie als Konkurrenz, sondern nur als Synergie zur Freiheit des Menschen gedacht werden kann. Wie sagt der Psalmist? "In deinem Licht sehen wir das Licht!" (Ps 36,10).


Aber es geht hier ja letztlich nicht um ein Austauschen rationaler Argumente allein. Hier geht es um Gründe, die allein das Herz kennt, wie Blaise Pascal sagen würde. Wem kann man beweisen, dass Wasser trägt, wenn er nie den Sprung ins tiefe Wasser wagt? Wem kann man darlegen, dass Geliebt-Werden nicht passiv macht, sondern im höchsten Maße aktiv, wenn er das nicht einmal selbst an sich erfährt: zu lieben und geliebt zu werden? Wer liebt, bleibt frei, auch wenn er sich als Liebender auf Verantwortung, auf Verpflichtungen einlässt. Aber eben auf einer anderen, sein Leben weitenden Wirklichkeitsstufe. Es gibt Bindungen, die frei machen. Und zu ihnen gehört der christliche Gottesglaube.


Die Verweigerung des Gottesglaubens bleibt ein Geheimnis des Herzens. Ich gebe zu: In unseren Zeiten ist die Gotteswirklichkeit so abgedunkelt, dass manche nur sehr schwer Gottes Bild wahrnehmen können. Wir modernen Menschen sehen überall nur uns selbst. Wir durchschauen - wie wir meinen - alles, aber auch wirklich alles, selbst die Religion, ihre Entstehung und ihre Existenzbedingungen. Wer jedoch alles durchschaut, sieht am Ende gar nichts mehr!


Aber ich denke manchmal: Muss einer, wenn er spricht, um die Grammatik wissen? Grammatik ist die selbstverständliche Voraussetzung beim Sprechen und Schreiben, an die wir im alltäglichen Gebrauch nicht denken. Jetzt nehme ich einmal meinen Mund sehr voll: Für mich ist die Welt Gottes weder fern noch verworren. Sie ist für mich eine Sache täglicher und stündlicher Erfahrung, wie vergleichsweise das Atmen. Die Leugnung Gottes kommt mir vor wie eine Art Amnäsie, wie eine Geistesabwesenheit, eine Vergesslichkeit. Man denkt eben beim Lesen nicht an die Augen.


Ich fasse die Ü;berlegungen dieses Abschnittes wieder mit einem Blick auf den Apostel Paulus zusammen. Paulus sagt einmal, als er sich Rechenschaft gibt über sein rastloses Wirken als Missionar und Gemeindegründer im Raum des Mittelmeeres: "Das alles tun wir euretwegen, damit immer mehr Menschen aufgrund der überreich gewordenen Gnade den Dank vervielfachen, Gott zur Ehre" (2 Kor 4,15). Das ist eine glückliche Formulierung für das, was ich das "Kerngeschäft" der Kirche nennen möchte. Sie ist dazu da, den Dank an Gott zu vervielfältigen. Dazu trägt jeder bei, jeder Einzelne und wir gemeinsam in unseren Pfarrgemeinden und Gruppen.


Manchmal fragen Christen, was ihr Glaube denn Besonderes sei. Mühen sich andere Menschen nicht auch um ein anständiges Leben? Leisten sie denn nicht auch Vorbildliches für andere und für die Humanisierung der Welt? Paulus würde antworten: Sie vergessen dabei den Dank. Dazu stiftet uns der Glaube an. Der Glaube weiß, dass uns in Jesus Christus alles geschenkt ist. Darum kann Paulus sein eigenes Christ-Sein als eine gleichsam unaufhörliche Danksagung (griechisch: eucharistia) beschreiben. Das ist eine Sicht des Christseins, die in uns wachsen muss.


Viele verstehen unter Frömmigkeit "fromme Leistung". Natürlich will einer, der sich beschenkt weiß, seinem Dank in Taten und Zeichen Ausdruck geben. Aber das ist weit entfernt vom Zwang, sich vor Gott "beweisen" zu müssen. Manche Nichtchristen verstehen das Christentum als einen Produzenten von Moral. Dagegen ist zu sagen: Das Christentum hat Moral, aber es ist nicht Moral. Es ist Anleitung zur Danksagung, aber nicht zur moralischen Selbstbehauptung. Gott ist es, der uns "zurechtgerückt" hat, so dass wir vor ihm bestehen können. Wir brauchen nur das "Amen" zu dem zu sprechen, was er an uns tut. Darin stimmen wir in das Ja Christi ein, der das Ja und Amen zu allem ist, was Gott verheißen hat (vgl. 2 Kor 1,20). - Das muss freilich sofort dazu gesagt werden: Ein Leben aus dem Dank und dem Amen-Sagen ist kein Spaziergang. "Ihr sollt ein Leben führen, das des Herrn würdig ist", sagt der Apostel (Kol 1,10). Ein solches Leben will eingeübt sein. Für jeden Tag, mag er noch so grau und alltäglich sein, gilt diese Aufforderung: "Seid dankbar!" (Kol 3,15).


Darum, um diese Anstiftung zur "Danksagung" bemühe ich mich in Thüringen als Bischof. Dazu tragen aber auch alle anderen Mitchristen bei, die je eine andere Facette dieser Dankesaufgabe von Kirche verwirklichen, etwa in der Caritas oder in ihrem jeweiligen anderen Lebensalltag. Dazu trägt eine Mutter bei, die ihr Kind beten lehrt, oder eine Gemeindereferentin, die jungen Leuten Geschmack am Christsein vermittelt. Dazu tragen die Christen anderer Kirchen und Gemeinschaften bei, mit denen wir in diesem Bemühen zutiefst geistlich verbunden sind. Ja, möglichst viele Menschen sollen durch uns Glaubende und Getaufte entdecken, dass sie Grund haben zum Danken, ja, dass sie sich in einem letzten und tiefsten Sinne "verdankt" wissen dürfen. So geben wir letztlich nur weiter, was wir selbst empfangen, und zwar immer wieder neu von Gott her empfangen.


Das leitet zum dritten Teil meiner Ü;berlegungen über: Was können wir beitragen, dass Menschen in Thüringen sich so verstehen lernen?



3. Das Evangelium - Licht für alle


Ich muss hier am Anfang gleich ein mögliches Missverständnis klären. Es ist nicht gesagt, dass unser Bemühen, in diesem Land das Evangelium bekannt zu machen, sofort und auf die Schnelle die Kircheneintrittszahlen erhöhen wird.


Die innere Distanz vieler Menschen zur Institution Kirche hat viele Ursachen. Diese Ursachen sind von uns kurzfristig nicht einfach aus der Welt zu schaffen. Ich bin überzeugt, dass auf lange Sicht die Kirche auch für Außenstehende neue Anziehungskraft gewinnen wird. In gewissem Sinne hat sie diese Anziehung schon heute, besonders dort, wo sie weniger als bürokratische Institution, sondern als lebendige Gemeinschaft der Glaubenden erfahren wird. Begegnungen mit erwachsenen Taufbewerbern machen mir das deutlich.


Der unlösbare Zusammenhang von christlichem Glauben und Leben in der Kirche ist theologisch völlig klar. Aber seelsorglich-praktisch wird es so sein, dass die Kirche nicht mit sich selbst werben darf, sondern nur mit ihrem (ihr von Gott anvertrauten) "Produkt" - eben, dem Evangelium. Und das ist ein Unterschied! Wenn es stimmt, was wir oben bedacht haben, nämlich dass die Kirche nur das Gefäß der Gottesgnade ist, der Resonanzraum, in dem Gottes Melodie zum Klingen kommen soll, dann ist deutlich: Wir haben nicht die Kirche auf den Leuchter zu stellen, sondern das Evangelium.


Ich sage das so deutlich - auch auf die Gefahr hin, Ärgernis zu erregen, weil ich verhindern möchte, dass wir in die "Kirchenfalle" tappen, also in eine Haltung, in der wir mit der angeblichen Perfektion und Größe der Kirche werben. Natürlich freue ich mich, wenn die Kirche in der Welt einen guten Eindruck macht. Aber beweisen eine Million Jugendliche bei einem Papstreffen für die Richtigkeit des Evangeliums mehr als die Tapferkeit eines einsamen Christen, der sein Sterben als Heimgang zu Gott annimmt und bejaht? Wir sollen und dürfen uns durchaus dafür einsetzen, dass die Kirche attraktiv ist (ich leide selbst unter ihren Fehlern und Schwächen, zu denen auch ich meinen Teil beitrage). Aber worum es eigentlich bei unserem Thema geht, ist unser Einsatz dafür, dass unseren Mitmenschen die Größe ihrer Berufung durch Gott aufgeht! Sie sollen Anwärter seines Reiches werden, Schüler des Evangeliums, Menschen, die ihr Leben nach dem Lebensmaßstab Jesu Christi ausrichten. (Dass sie dadurch wie von selbst Glieder der Kirche Jesu Christi werden, die alle Glaubenden umfasst, auch jene, "um deren Glauben niemand weiß als Du (Gott) allein", wie wir im Kanon beten, das steht auf einem anderen Blatt.)


Darüber also gilt es nachzudenken: Menschen mit Gott in Berührung zu bringen, mit dem Evangelium Jesu Christi, mit dieser österlichen Lebenssicht, aus der wir selbst zu leben versuchen. Es geht bei der Berührung mit dem Evangelium um Einweisung in die Wirklichkeit - aber eben nicht in die halbierte Wirklichkeit, wie sie uns der Zeitgeist vorgaukelt, sondern in die volle Wirklichkeit des Daseins und der Welt, die sich uns von Gott und seinem Wort her erschließt.


Dieses Evangeliums wollen und brauchen wir uns in der Tat "nicht zu schämen", um das Wort des Apostels Paulus aus dem Römerbrief (1,16) aufzugreifen. Der Satz wird von ihm übrigens so fortgeführt: "(Das Evangelium) ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen." Ich setze einmal den Paulussatz so fort: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, zuerst euch, die schon lange Getauften - aber ebenso eure noch ungetauften Mitbürger in Thüringen, die bislang keine Chance hatten, jemals etwas vom Evangelium zu hören.



Wo kann ein solches Bezeugen des Evangeliums anknüpfen? Wie kann es praktisch werden? Eine Reihe guter Erfahrungen liegen in unseren Gemeinden schon vor - und auch unsere Werkstattgespräche im Anschluss an diesen Vortrag werden manches Bewährte und auch Neue in dieser Hinsicht zur Sprache bringen.


Christliche Auskunftsfähigkeit erlangt man nicht durch Kommunikationsrezepte, aber praktische Tipps können durchaus die Phantasie anregen. Eine offene Kirche lässt noch nicht die Pfarrkartei wachsen, aber sie macht einige in der Gemeinde lebendig und aktiv im Blick auf Außenstehende. Und das ist schon viel! Ein erwachsener Taufbewerber kann über eine wache Anteilnahme der schon Getauften an seinem Glaubensweg allen in der Gemeinde zum Segen gereichen. Und auch in unseren Eichsfeldgemeinden: Wenn da einer nach langer Zeit wieder Anschluss an das Gemeindeleben und den Sakramentenempfang gewinnt, kann das andere vielleicht zum Nachdenken bringen.

Und da mag ein Eichsfelder vielleicht kein großes Kirchenlicht sein: aber für die Erneuerung des Kreuzes auf dem Heiligenstädter Dün hat er sich tatkräftig eingesetzt. Das ist seine Weise, im Glauben an den Gekreuzigten zu wachsen! Schätzen wir das nicht gering! Gott kennt tausend Weisen, Menschenherzen an sich zu binden. Aber ich meine: Wir sollten Gott so einige "Bindfäden" hinhalten und von ihm begutachten lassen! So hoffe ich, dass der Pastoralkongress diesbezüglich wieder so etwas wie eine Börse guter Ideen wird, über die wir uns austauschen und die wir anderen weitergeben können.


Ich möchte nur noch einmal in Kürze in einigen Punkten andeuten, was uns in diesem Land, so wie es eben ist, beim Bemühen um christliche Zeugenschaft Rückenwind gibt. In diesen Themenfeldern sind Bereiche angesprochen, die so etwas wie Anknüpfungsmöglichkeiten enthalten, mögliche Brückenköpfe, die Verbindungslinien zu unseren nichtchristlichen Zeitgenossen eröffnen.


1. Das Interesse am Fremdgewordenen bzw. Unbekannten


Viele Thüringer sind dem Christentum und seiner Kernbotschaft so entfremdet, dass die Berührung mit dem Glauben ein Neuheitserlebnis darstellt. Es zeigt sich hier bei uns - anders als vielleicht in noch christentümlich geprägten Gebieten Deutschlands - manchmal eine erstaunliche Offenheit, wenn jemand im Gespräch mit einem Nichtchristen auf seine persönliche Gottesbeziehung zu sprechen kommt: "Ach, so habe ich das noch nie gesehen!" "Wenn das mit Gott so zu verstehen ist, da muss ich einmal darüber nachdenken...!"


Einen Hinweis auf diese prinzipielle Offenheit ostdeutscher kirchenferner Menschen gab mir eine katholische Nürnbergerin. Sie berichtete in einem Gespräch, dass ihr in Nürnberg Folgendes passiert sei: Nach der Werktagsmesse sah sie hinten in der Kirche etwas verloren eine junge Frau aus Thüringen stehen. Sie sprach diese Frau an und zeigte ihr auf deren Wunsch das eine oder andere in der Kirche. Nach dem Erklären der einzelnen christlichen Kunstwerke fragte die Frau aus dem Osten, und zwar ohne jeden ironischen Unterton: "Ach, und das glauben sie dann alles!?" Die Nürnbergerin bekannte, in dieser Situation an einem Werktag früh um 8.30 Uhr habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie ein Glaubensbekenntnis abgelegt. Die Frau habe sich übrigens nach der Begegnung sehr für alle Auskünfte bedankt und sich mit den Worten verabschiedet: "Wissen Sie, ich muss einmal über das alles nachdenken!"


2. Die Hochschätzung des persönlichen Zeugnisses


Die Wertschätzung des einzelnen Christen ist höher als die der Kirche. Kirche leidet in unserer Zeit wie alle Institutionen unter einem Generalverdacht, vereinnahmen zu wollen. Kirchen, gottlob weniger die Caritas(!), werden als bürokratische Apparate angesehen, die man möglichst meidet. Das muss uns Kircheninsider sehr nachdenklich machen. Aber positiv ist zu werten: das sehr feine Gespür der Menschen für Wahrhaftigkeit, für "Authentizität". Das gilt natürlich auch für die Kirche insgesamt. Das Evangelium wird dort nach außen hin glaubhaft, wo es uns selbst zur Umkehr und Buße Mut macht. Auch die Unerbittlichkeit, mit der uns von der Gesellschaft der Spiegel vorgehalten wird, kann eine verborgene Hilfe Gottes für seine Kirche sein. Nochmals: Das Zeugnis von Mensch zu Mensch wird hochgeschätzt. "Ja, der ist als Christ glaubwürdig! Die redet nicht nur, die lebt auch aus dem, woran sie glaubt." Das sind kostbare Brücken für das Christuszeugnis auch heute. Das macht Mut, das eigene Herz in religiösen Dingen, wenn die Situation danach ist, einem Mitmenschen einmal aufzutun.


3. Die Sehnsucht nach Freiheit von Zwängen


Die Botschaft des Evangeliums erhält Rückenwind durch das Verlangen der Menschen, frei zu sein, allen Zwängen möglichst zu entfliehen. Mancher Seelsorger wird, wenn er das hört, ein wenig die Stirn runzeln. Natürlich: Es gibt den Missbrauch von Freiheit, Freiheit als Ungebundenheit und Ausleben von allen möglichen Egoismen. Insgesamt jedoch dürfen wir uns nicht durch die wachsende Liberalität in der Gesellschaft den Blick für unserer Zeit zugrunde liegende Grundströmungen trüben lassen. Der epochale Freiheitsaufbruch im Osten Europas und auch im Osten Deutschlands am Ende des vorigen Jahrhunderts war mehr als nur ein Verlangen nach Anschluss an den Konsum des Westens oder nach freien Reisemöglichkeiten. Natürlich sind solche Umbrüche komplexe Ereignisse mit mancherlei, auch quer laufenden Tendenzen und Motiven. Doch ist der Ruf nach Freiheit von menschenverachtenden, auf Lüge aufgebauten Gesellschaftssystemen ein "Zeichen der Zeit", das der "Freisetzung" des Menschen im Evangelium ahnungsvoll entgegenkommt.


4. Das Gespür für den Einzelnen und seine Würde


Ich bemerke hier bei uns im Osten eine neue Aufmerksamkeit gegenüber dem Einzelnen und seiner Würde. Dem scheint zu widersprechen, was an zunehmender Inhumanität in unserer Gesellschaft auch zu registrieren ist. Dennoch bleibe ich bei dieser Behauptung, dass es gegenläufig ein tiefes Gespür gibt für den Wert der einzelnen Person. Die Leute, auch wir selbst wollen "menschlich" behandelt werden. Es gibt das Verlangen, den Zufälligkeiten einer undurchschaubar gewordenen Welt, aber auch den Zwängen einer rein ökonomisch denkenden Umwelt zu entkommen. Ich erlebe Menschen, die sich Zielen jenseits von Haben und Genießen verschreiben, die "einfach" leben, die in der Hingabe an andere sich selbst überschreiten. Die Seligpreisungen der Bergpredigt werden auch außerhalb der Kirche gelebt.


5. Die Brückenfunktion christlich geprägter Kultur und Geschichte


Ich verweise darauf, welche Bedeutung für unser Thema der noch weithin präsente christlich-kulturelle Hintergrund unserer Landschaft hat, etwa der Einfluss christlicher Feste und Bräuche, von Kirchbauten und anderen Zeugnissen lokaler Kirchengeschichte ganz zu schweigen. Das "Herkommen", der Ursprung, das Interesse für die Wurzeln unserer individuellen und gemeinsamen Geschichte bewegt die Menschen. Das zeigt beispielsweise auch der große Zulauf der Menschen bei gelungenen Geschichtsausstellungen. Erwähnenswert ist auch das erstaunliche Interesse der Menschen an Kirchen und anderen christlichen Bauten an den "Tagen des offenen Denkmals". Es scheint, als ob sich eine solche Entwicklung, die sich dem Fremdgewordenen gegenüber wieder öffnet, in den neuen Bundesländern schon deutlicher zu spüren ist als in den noch "christentümlich" geprägten Regionen Deutschlands. Den kulturell-ästhetischen Zugangswegen zum Evangelium müssen wir besondere Aufmerksamkeit widmen.


6. Sehnsucht nach glückenden Beziehungen


In den Menschen gibt es ein tiefes Verlangen, in glückenden Beziehungen leben zu können. Wieder mag manches an Erfahrungen in unseren Tagen dagegen sprechen: Das Zerbrechen von Ehen, die Erosion der Familien, die Selbstinszenierung mancher Menschen in gesteigertem Lebensgenuss - notfalls auch auf Kosten anderer. Der Zeitgenosse, wie ich ihn in meinem Umfeld erlebe, leidet weniger an materieller Armut als vielmehr an Beziehungsarmut. Darin erkenne ich eine Herausforderung für uns Christen. Wir brauchen christliche Gemeinden und Gemeinschaften, in denen durch das Lebenszeugnis gläubiger Menschen erfahren wird: Eine Freiheit wird dadurch kostbar, dass in ihr ein Anruf hörbar wird. Man könnte sogar sagen: Im Du des anderen, in seinem "Ruf", der mich trifft, wird meine wahre Freiheit erst konstituiert. Mein Leben ist nicht ein beliebiges, austauschbares Produkt anonymer Gesetzmäßigkeiten, sondern es antwortet auf eine von außen kommende Stimme, die wirklich mich selbst meint. "Du bist angenommen!" "Du bist gewollt!" Wo gibt es Menschen, die das im Namen des Evangeliums zu sagen wagen?



Abschlussbemerkungen


Das sind nur wenige Andeutungen, mit denen ich deutlich machen will: Thüringen ist ein offener Ackerboden für das Saatkorn des Evangeliums. Welche Methoden der Aussaat wir auch wählen wollen: Wichtig ist zunächst, dass wir überzeugt sind von der Qualität des Saatkorns und der Chance, dass es auf gutem Boden - wie der Herr in seinem bekannten Gleichnis sagt - vielfältige Frucht bringen kann. Ein Sämann, der überall nur Steine und Unkraut sieht, fängt erst gar nicht mit der Aussaat an. Unsere eigene Einstellung ist entscheidend. Oder anders gesagt: Beide Sätze unseres Themas sind wichtig: Das Evangelium - Licht für uns(!), und dann erst: Licht für alle!


Es lohnt sich, das Evangelium unter die Leute zu bringen -

nicht nur, weil der Herr uns dazu aufgefordert hat,

nicht nur, weil wir Verantwortung für unsere Mitmenschen tragen sollen,

sondern vor allem: Weil wir nur so in uns selbst die Gabe Gottes, die feste Anwartschaft auf sein Reich, lebendig erhalten.


"Aufbewahrtes Manna verdirbt!" Glaube, der nicht unter die Leute kommt, wird schal. Christen, die nur sich selbst bewahren wollen, werden ungenießbar.


Und um noch einmal auf das GPS-System in unseren neuen Autos zu sprechen zu kommen: Was mich dort besonders beeindruckt hat, ist Folgendes: Wenn man einmal anders fährt als die GPS-Stimme angegeben hat, dann wird diese nicht grantig und ärgerlich. Sie sagt zunächst ganz ruhig: Wenn möglich - bitte wenden! Sodann schweigt die Stimme und fängt nach einer kurzen Zeit wieder geduldig an, den Autofahrer auf einem anderen Weg zu dem angegebenen Ziel zu lotsen.


Das ist für mich ein Bild für die unendliche Güte und Langmut Gottes. Die Richtung ist klar: Thüringen mit dem Evangelium bekannt machen. Fangen wir damit in unserem Bistum wieder neu an - zu allererst bei uns selbst, und dann werden auch bei anderen Wunder geschehen.


11.10.2003



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