Hoffnungsträger*in sein

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr zur Frauenwallfahrt am 16. Mai 2021

Du bist nicht alleinBild: Karolina Grabowska auf Pixabay

Liebe Mitchristen,
in den gelähmten Mann, von dem wir im Markus-Evangelium gehört haben, können wir uns zurzeit gut hineinfühlen. Auch wenn wir nicht körperlich gelähmt sind, spüren wir eine große Lähmung durch das Corona-Virus, das seit 14 Monaten über uns gekommen ist.

Wir sind gelähmt, wenn wir an die Menschen denken, die von der Krankheit betroffen sind, sei es dass sie krank geworden, sei es dass sie einsam und oft qualvoll an der Krankheit gestorben sind. Wir fühlen mit den Angehörigen, die ihre Lieben nicht im Sterben begleiten konnten und sich nur in ganz kleinem Rahmen bei der Beerdigung von ihnen verabschieden konnten. Mittlerweile kennen die meisten Menschen jemanden, der mittelbar oder unmittelbar von der Pandemie betroffen ist. Außerdem bringen uns die Medien die Schicksale der Menschen ins Haus, auch die Schicksale der Menschen, die weitaus schlimmer von der Pandemie betroffen sind.

Darüber hinaus lähmt uns die Angst, selbst infiziert zu werden. Manche Menschen sind ganz von dieser Angst besetzt und trauen sich kaum noch aus dem Haus.

Schließlich lähmen uns die Kontaktbeschränkungen. Menschen vereinsamen. Sie können nicht mehr wie gewohnt andere Menschen treffen und mit ihnen zusammen sein. Viele Familien sind überfordert, weil sie auf einmal alleine für die Kinder oder auch für alte Angehörige sorgen müssen. So vieles ist in unserem Leben „ver-rückt“, dass wir uns nach dem alten Leben sehnen.

So fällt es uns leicht, uns in die Situation des gelähmten Mannes zu versetzen, von dem das Markus-Evangelium berichtet. Hat er in seiner Lähmung auf den Heiland Jesus Christus gesetzt? Das Johannes-Evangelium berichtet von einem gelähmten Mann, der an einem wundersamen Teich namens Betesda lag. Als Jesus ihn fragte, ob er gesund werden wolle, antwortete er ihm: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein.“ (Johannes 5,7) Dieser Mann hat nur auf die Wunderkraft des Teiches gehofft. Trotzdem hat ihn Jesus geheilt. Diese Geschichte kann für uns ein Aufruf zur Solidarität mit den Menschen sein, die keine Religion haben und in ihren Nöten und Ängsten nicht auf Gott und seine Kraft vertrauen können.

Der gelähmte Mann, von dem das Markus-Evangelium berichtet, hatte allerdings Hoffnungsträger. Es heißt ausdrücklich: „Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, Deine Sünden sind Dir vergeben!“ (Markus 2,5) Jesus war vom Glauben der Männer beeindruckt, die nichts unversucht gelassen hatten, den Gelähmten vor ihn zu bringen.

Solche Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger können wir auch sein:
Diejenigen, die direkt oder indirekt von der Covid-19-Krankheit betroffen sind, brauchen unseren Trost. Das Bild der diesjährigen Frauenwallfahrt bringt dies zum Ausdruck. Die Frau, die darauf abgebildet ist, hat den Kopf erhoben, als habe jemand zu ihr gesagt: „Kopf hoch.“ Und die Hoffnung kann tatsächlich das Leben „ver-rücken“. Ich habe schon mehrfach eine Wallfahrt für behinderte Menschen nach Lourdes begleitet. Viele von ihnen waren gelähmt. Sie haben gar nicht darauf gehofft, dass die Lähmung verschwindet. Die gemeinsamen Gottesdienste, die Solidarität mit so vielen kranken und behinderten Menschen, die Hoffnungskraft des Glaubens gibt ihnen Kraft zum Leben bis zur nächsten Wallfahrt.

Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger können wir auch für die Menschen sein, die ganz von Angst vor der Infektion besetzt sind. Es gibt so viele Bibelworte, die zum Vertrauen aufrufen. Im Psalm 91 ist die Gefahr der Pandemie ausdrücklich benannt: „Du brauchst Dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.“ (Psalm 91,5-6) Manchmal hilft auch der nüchterne Hinweis darauf, dass in den 14 Monaten der Pandemie in Deutschland vier Prozent der Bevölkerung vom Virus infiziert worden sind und dass der Impfstoff offensichtlich vor der Covid-19-Krankheit schützt.

Auch die Menschen, die unter den Kontaktbeschränkungen leiden, brauchen Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger. Wie wichtig kann ein Brief sein oder ein Telefonat oder ein Gespräch in sicherem Abstand im Freien oder durchs Fenster. Mittlerweile sind viele kreative Möglichkeiten erfunden worden, auch mit Abstand gemeinsam zu feiern. Das Internet bietet viele Möglichkeiten. Außerdem eröffnen die neuen Testmöglichkeiten eine größere Sicherheit bei Begegnungen mit Menschen.
Die Hoffnungsträger haben ihr Ziel erreicht. Der Mann hat keine Unterstützung mehr gebraucht, im Gegenteil: „Er nahm seine Liege und ging vor aller Augen weg.“ (Markus 2,12)