Mein lieber Enkelsohn,
Du willst wissen, wie das damals gewesen ist, als wir nachts auf dem Feld waren und die Herden bewachten. In jener Nacht, an die ich mich so sehr erinnere als wäre sie erst gestern gewesen. Noch heute spüre ich die beklemmende Angst, als es mitten in der Nacht taghell wurde. Selbst Sem, das alte Großmaul, war vor Schrecken sprachlos. Und dann diese Stimmen. Wir verstanden kein Wort. Frieden und Freude und Retter geboren. Wir bekamen das alles gar nicht so schnell auf die Reihe. Wie ferngesteuert liefen wir los, ließen Schafe Schafe sein. Und Du weißt, so etwas würde ein Hirt nie machen. Komme was wolle. Aber da war was gekommen und da sind wir dann hingegangen. Zu dem alten Viehstall, in dem in dieser Nacht außergewöhnlich viel Leben war. Ein Mann, eine Frau, die sehr erschöpft aussah und in der Futterkrippe ein neugeborenes Kind. Wir waren ziemlich fassungslos. Ein Baby? Das sollte der Retter sein? Das war doch lachhaft. Ich kann Dir nicht sagen, was es genau war. Plötzlich kniete ich. Und Sem und all die anderen auch. Kannst Du Dir das vorstellen? Ich, ein gestandener Mann, kniete vor einem Baby! Jetzt sieht es für Dich vielleicht so aus, als hätte uns dieses winzige Wesen in die Knie gezwungen. Nein, es passierte wie von selbst, und es war uns auch gar nicht peinlich. Im Gegenteil, wir fühlten uns dabei irgendwie groß, aufgerichtet. Sonst waren wir oft diejenigen, die verachtet wurden. Hier war alles anders.
Eines Tages waren sie weg. Geflohen. Ich habe ihn später noch einmal gesehen, inzwischen war er ein Mann geworden. Die Menschen liefen ihm in Scharen hinterher. Doch davon ein anderes Mal mehr.