"Heldenmädchen"

1863 bezogen die ersten Franziskanerinnen das heutige Marienstift in Erfurt. Sie waren nicht überall willkommen, doch bald schon schrieb die Thüringer Zeitung von "Heldenmädchen". Jetzt findet eine Festwoche statt: 150 Jahre Franziskanerinnen im Marienstift.



Sie leben heute im Marienstift: die Franziskanerinnen (v.l.) Schwester Mechthildis Maria,
Schwester Karola Maria und Schwester Gerlinda


Erfurt (BiP). Den Franziskanerinnen im Erfurter Marienstift stehen besondere Feierlichkeiten ins Haus. Am 10. Dezember 1863 kamen die ersten drei "Armen Schwestern vom Heiligen Franziskus", wie der Orden offiziell heißt, in Erfurt an und begannen, sich um die Kranken in der Stadt zu kümmern und ein Mädchenwohnheim zu betreuen. Jetzt sind es wieder drei Schwestern, die zu einer Festwoche anlässlich des Jubiläums "150 Jahre Franziskanerinnen im Marienstift" einladen und den Blick auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lenken.

Wer die Schwestern heute in ihrer Unterkunft im dritten Stock des Marienstiftes besucht, trifft sie in einer einfachen, schlicht eingerichteten Wohnung an. Für jede Bewohnerin gibt es ein Zimmer, im Gemeinschaftsraum steht eine Sitzgruppe, die Mahlzeiten werden im gleichen Zimmer an einem kleinen Tisch eingenommen, den Schwester Mechthildis Maria (75) liebevoll gedeckt hat. "Wir haben, was wir brauchen, mehr muss es nicht sein", meint ihre Mitschwester Gerlinda. Den kleinen Fernseher in der Ecke bezeichnet sie als "fast schon Luxus".

Immerhin haben sie es warm und trocken, was sich von den ersten Schwestern, die in einem strengen Winter mit sibirischen Kältegraden angekommen waren, nicht behaupten ließ. "Wir zitterten den ganzen Tag und konnten kaum die Hände in Bewegung bringen. Alles Wasser zum Putzen und Abwaschen gefror zu Eis. Auch auf unseren Zellen kehrten wir ganze Eimer voll Eis von den Wänden." So schrieb es die damalige Oberin in einem Brief an das Mutterhaus, die Ordenszentrale in Aachen.

Doch Hilfe nahte. Die Katholiken der Stadt unterstützten die Schwestern, und eine reiche Familie spendete Brennholz, Handschuhe und ließ sogar warme Schuhe für die Schwestern anfertigen. Ü;berhaupt war es dem Engagement katholischer Bürger zu verdanken, dass es die kleine Ordensniederlassung in Erfurt gab. Die Städte jener Zeit expandierten durch den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Elend und Verwahrlosung ganzer Bevölkerungsschichten nahmen allerdings auch zu. Auf dem Terrain des ehemaligen Kartäuserklosters in Erfurt hatte die statdtansässige Familie Lucius, wohlhabende Großhändler für Woll- und Baumwollwaren, ein Grundstück mit drei kleinen Gebäuden zur Verfügung gestellt, damit dort von rührigen Erfurtern ein Mädchenwohnheim eingerichtet werden konnte.

Ein Komitee aus Bürgerinnen und Bürgern sowie einem geistlichen Präses sorgte für die rechtliche, moralische und finanzielle Unterstützung. Als es zu Uneinigkeiten im Komitee kam, bat man schließlich die Franziskanerinnen in Aachen, die Einrichtung zu führen. Die Armen Schwestern vom Heiligen Franziskus waren damals ein junger Orden, noch keine zwanzig Jahre alt.

Seine Gründerin, Franziska Schervier (1819-1876), Tochter eines Aachener Nadelfabrikanten, gehört zu jenen Persönlichkeiten des Katholizismus im 19. Jahrhundert, die angesichts der Umwälzungen und gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge der Industriellen Revolution jenen zur Seite standen, die unter die Räder des Fortschritts zu kommen drohten. Das äußere Kennzeichen des Ordens, ein rotes Kreuz, erinnert an den Auftrag der Gemeinschaft. "Damals wie heute wollen wir ‚Wunden‘ heilen", erklärt Schwester Karola Maria, mit 72 Jahren die Jüngste im Erfurter Konvent. "Die rote Farbe unseres Kreuzes erinnert uns an die Menschen, deren Würde mit Füßen getreten wird." Auch wenn die Schwestern zivile Kleidung statt der braunen Ordenstracht tragen, legen sie das Kreuz immer an.

Was die Entscheidung des Ordens, 1863 eine Niederlassung in Erfurt zu gründen, erleichterte, war der Umstand, dass die Armen Schwestern das Mädchenwohnheim betreiben, aber nicht besitzen sollten. Dabei blieb es auch, als das Haus 1866 neu gebaut und 1871 in eine Stiftung überführt wurde. Seitdem heißt es Marienstift und hat den Namen auch nach einem Erweiterungsbau im Jahr 1913 behalten, als das Gebäude seine heutige Gestalt erhielt. Mit dieser Besitzlosigkeit folgten die Armen Schwestern dem Vorbild des heiligen Franziskus. "Wir verstehen uns nicht nur als Schwestern der Armen, sondern wollen auch selbst arm sein, arm aus Solidarität", erläutert Schwester Gerlinda.

Wie solche Solidarität heutzutage aussehen kann, lässt sich am Lebensweg von Schwester Gerlinda und ihren Mitschwestern ablesen. Die gebürtige Eichsfelderin Mechthildis Maria ist, wenn man es so ausdrücken darf, die Standortälteste und bereits seit 1981 ununterbrochen im Marienstift. Die gelernte Weberin ließ sich zusätzlich bei den Armen Schwestern in Erfurt in Hauswirtschaft ausbilden und entdeckte dabei den Orden als eine Lebensalternative. Nach drei Jahren Vorbereitung legte sie 1971 die Ewigen Gelübde ab. Ihre Bindung an den Orden bedeutet für sie Dienst: Sie arbeitete im Altenheim "Idablick" in Bischleben, bis es 1981 geschlossen wurde. Danach machte sie im Marienstift Pfortendienst, war in der Kantine für kirchliche Mitarbeiter tätig und betreute von 1983 bis 2009 den Seniorenclub St. Antonius im Haus. Auch wenn sie mit 75 Jahren schon lange im Rentenalter ist, besucht sie nach wie vor kranke und alte Menschen in der Stadt und den Heimen Erfurts und führt den Haushalt des Konvents. In der Gemeinde St. Wigbert engagiert sich Schwester Mechthildis Maria seit vielen Jahren als Kommunionhelferin. "Wo wir gebraucht werden, gehen wir hin", sagt sie bescheiden.

Ihre Mitschwestern wollten nach der Schule beide in die Krankenpflege, mussten aber zunächst die obligatorische Ausbildung in Hauswirtschaft absolvieren. Das taten sie in Fachschulen des Ordens. Während Karola Maria schon als Jugendliche von einer Arbeit in der Mission geträumt und mit einem Ordensleben geliebäugelt hatte, fiel bei Gerlinda die Entscheidung, Franziskanerin zu werden, erst, nachdem sie eine Biografie über Franziska Schervier gelesen hatte. "Da war es mit dem Heiraten vorbei", erläutert die gebürtige Hanseatin, warum es in ihrem Leben anders kam als gedacht.

Wie Karola Maria durchlief Schwester Gerlinda, eine ausgebildete Erzieherin, nach den Ewigen Gelübden 1966 mehrere Stationen: als Kindergärtnerin, als Erzieherin in Kinderheimen bei Bielefeld und Hildesheim, als hauswirtschaftliche Betriebsleiterin in der Lehrlingsausbildung, als Pförtnerin bei den Kapuzinern in der City-Seelsorge Frankfurt. Seit 2012 ist sie in Erfurt und arbeitet ehrenamtlich im Elisabethheim in der Herderstraße mit - beim sozio-kulturellen Dienst und als Sakristanin. Außerdem hilft sie, an zwei Tagen eine ambulante Halbtagesgruppe von Senioren zu betreuen. "Es geht mir gut, es macht mir Spaß", sagt sie, und das mit 76 Jahren.

Während ihrer hauswirtschaftlichen Ausbildung lernte Karola Maria, die aus dem Sudetenland stammt und in Hessen aufgewachsen ist, die Armen Schwestern kennen und schätzen. Sie trat in den Orden ein und legte ebenfalls 1966 die Ewigen Gelübde ab. Weil diese Franziskanerinnen keine Mission betreiben, ließ sich der Jugendtraum von Schwester Karola Maria nicht verwirklichen. Stattdessen wurde sie in der Krankenpflege eingesetzt und arbeitete nach einer entsprechenden Ausbildung 21 Jahre lang als Leiterin der Krankenpflegeschulen in Eschweiler und Stolberg. Erfurtern ist sie als Leiterin des Caritas-Tagestreffs mit Suppenküche in der Regierungsstraße bekannt, eine Tätigkeit, die sie von 1993 bis 2012 ausübte. Aktuell engagiert sie sich im Besuchsdienst, gehört dem Pfarrgemeinderat von St. Wigbert an und führt seelsorgliche Beratungsgespräche.

Dass sich die drei Schwestern in Erfurt wohlfühlen können, haben sie auch ihren ersten Vorgängerinnen zu verdanken, die nach ihrer Ankunft als katholische Ordensgemeinschaft sowohl von den preußischen Behörden als auch von vielen Bürgern skeptisch beäugt wurden. Doch die Franziskanerinnen gewannen durch unermüdlichen Einsatz schnell Anerkennung. Dabei achteten sie weder auf die Konfession noch auf den sozialen Stand der Menschen, mit denen sie zu tun hatten. Vor allem die arme Bevölkerung profitierte von der Sorge der Schwestern um Kranke und Alte. Während des preußisch-österreichischen Krieges leisteten sie in den Notlazaretten Erste Hilfe. Als die oft tödlich verlaufende Cholera in Erfurt ausbrach, gingen die Schwestern von Haus zu Haus und und suchten die Kranken auf. "Heldenmädchen sind sie im wahrsten Sinne des Wortes", hieß es darauf in der "Thüringer Zeitung".

Die Zeiten und die Herausforderungen haben sich geändert. Und wenn es auch glücklicherweise keine Kriegsverletzten und Cholerakranke in Erfurt zu versorgen gibt, kann auch der alltägliche Dienst an menschliche Grenzen führen. "Das macht unruhig", sagt Schwester Karola Maria, die sich dann gerne mit den Mitschwestern bespricht. Manches müsse man aber stehen lassen. "Wenn es nicht weitergeht, hilft der Glaube an die Hilfe Gottes. Ich sage dann immer: ‚Jetzt bist Du dran.‘" Das nehme einem den Frust, den man natürlich habe, resümiert die Schwester.

In gewisser Weise gilt das auch für die Zukunft des Marienstiftes, das heute das Hugo-Aufderbeck-Seminar mit Angeboten für die Generation 50plus, das Ehrenamtskolleg des Bistums Erfurt und den Kindergarten St. Franziskus beherbergt. Und natürlich die Schwesternwohnung. Drei Franziskanerinnen leben hier, so wie vor 150 Jahren, aber es waren auch schon mal viel mehr. "Was weiter wird, können wir noch nicht sehen", meint Schwester Mechthildis Maria. Es klingt nicht resignativ. Und Schwester Karola Maria ergänzt: "Solange wir noch gesund sind, machen wir einfach weiter." Zunächst aber wird gefeiert: 150 Jahre Franziskanerinnen im Marienstift.

Peter Weidemann

Programm der Festwoche (pdf-Datei)

www.schervier-orden.de



28.1.2014