Bischof Joachim Wanke
Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der Jugendwallfahrt mit dem Motto "Du gehst mir nahe!"
"Als er ihn sah, hatte er Mitleid." So fing sie an: Die Geschichte zwischen dem Samariter und dem unter die Räuber Gefallenen. So fangen überhaupt Geschichten an, Beziehungsgeschichten, Lebensgeschichten, Liebesgeschichten; wenn einer zu einem anderen sagt: "Du gehst mir nah!"
"Du gehst mir nahe!" Das ist an sich kein gutes Deutsch. Eigentlich müsste es heißen: Du bist mir nahe! Oder: Du kommst mir nahe!
Aber das wäre nicht das, was in unserem Wallfahrtsthema mitschwingt. Das wäre nur eine nüchterne Feststellung, vergleichbar mit der Aussage im Zeugenprotokoll der Verkehrspolizei: Das Auto ist dem Fahrradfahrer zu nahe gekommen. So kommt einem im Leben manches nahe - ein Unterrichtsfach, ein Lehrausbilder, andere Jugendliche, eine Stadt oder ein Jugendhaus ("Das SEB ist mir näher als das MCH!", und umgekehrt). Aber ob daraus eine Beziehung wird, eine Lebens- oder gar Liebesgeschichte - das steht auf einem anderen Blatt.
Und darum genau geht es: "Du gehst mir nahe!" Da bleibe ich nicht unbeteiligt. Da fängt etwas an. Da kommt etwas ins Schwingen und erzeugt Resonanz.
Wir sagen ja auch nicht: "Du bist mir nahe wie ein zu zeitig klingelnder Wecker!". Wir sagen vielmehr: "Du gehst mir auf den Wecker!"
Gefühle haben eben ihre Geschichte - und sie verändern mich. Ob das auch zwischen Gott und mir so geht?
Wann fing das an - als Du merktest: Ich bin ein katholischer Christ, nicht, weil meine Eltern oder die Verwandten katholisch sind, sondern weil ich selbst es will?
Vermutlich wird es Dir schwer fallen, einen genauen Zeitpunkt anzugeben. War es der Entschluss, sich zur Firmung anzumelden? War es damals, als Du zum ersten Mal unaufgefordert - ohne elterlichen Druck - zum Gottesdienst gegangen bist? War es bei einer Diskussion mit Freunden, in der Klasse, oder als Du zum ersten Mal ein paar Sätze in eine Fernsehkamera sagen solltest und es um das Thema Religion und Kirche ging?
Ich weiß noch, wie das bei mir war: Als in der Klasse noch damals an der DDR-Oberschule in Ilmenau durchsickerte, dass ich Pfarrer werden und deshalb Theologie studieren wollte. Da hat es bei mir einen Ruck gegeben. Da passierte in etwa das, was unser Wallfahrtsthema meint: Dass ich zu Gott gesagt habe: "Ja, du gehst mir nahe!" Und da fing eine Geschichte an, die bis heute noch nicht zu Ende ist.
Ich möchte euch mit meiner Predigt drei Dinge sagen:
1. Mit jedem Menschen, mit jeder Generation beginnt das Christentum neu!
Es ist eine alte pädagogische Erfahrung: Kinder können nur begrenzt die Erfahrungen, die Lebensweisheit Erwachsener übernehmen. Sie müssen selbst Erfahrung sammeln, notfalls auch schmerzliche, um später einzusehen, dass ihre Eltern vielleicht doch in dem einen oder anderem Punkt Recht hatten!
So ist es auch mit dem christlichen Glauben, mit dem Christ-Sein: Es mag sicher so etwas geben wie einen Wissensfortschritt der Menschheit - aber es gibt keinen Menschheitsfortschritt im Gut-Sein! Jede Generation muss neu lernen, was das eigentlich heißt: Menschlichkeit, Solidarität, Nächstenliebe, Gerechtigkeit. Jede Generation hat neu ihre Heiligen und ihre Sünder, ihre Märtyrer und ihre Folterknechte, ihre Bekennner und ihre Mitläufer, ihre sozial Engagierten und ihre Trittbrettfahrer, die sich nur an Leistungen anderer anhängen und dazu noch an allem herumnörgeln!
Ich könnte mir denken, dass die hl. Elisabeth auch öfters frustriert war angesichts der Glaubenslahmheit, der Raffgier und sozialen Kälte ihrer fürstlichen Verwandtschaft. Aber sie hat ihren Lebensentwurf der Christusnachfolge nicht korrigiert, als sie merkte, dass ihr darin so wenige folgten. Da war in ihrem Leben etwas passiert. Sie hatte vom Kreuz her die Stimme Christi gehört. "Du, Elisabeth, du gehst mir nah!"
Wie fing meine Geschichte mit Gott an? War es ein großartiges Naturerlebnis, das mich nachdenklich machte? War es die erste Liebe, die mich aus meinem dumpfen Egoismus aufschreckte? War es die Teilnahme an einem Weltjugendtag? An der jüngsten 72-Stunden-Aktion des BdKJ? Gott kennt Hunderte von Möglichkeiten, das Herz des Menschen zu berühren. Wir wissen ja. Ihm liegt am Menschen. Er möchte eine Geschichte, eine Liebesgeschichte mit ihm anfangen.
Und deshalb sendet er Signale aus und hofft, dass wir sie hören, wahrnehmen, uns in Schwingung, in eine Resonanz bringen lassen. Sein schönstes und entscheidendes Signal ist Jesus Christus selbst, sein Leben, sein Wort, seine Hingabe für uns bis in den Tod. Er ist der barmherzige Samariter, der uns am Wege liegen sieht und sagt: "Ja, du gehst mich an!"
Und wie geht es dann weiter? Da knüpft mein zweiter Gedanke an:
2. Die Geschichte des christlichen Glaubens ist keine Erfolgsgeschichte, sondern eine "Kampfgeschichte"!
(Dieser Satz könnte übrigens von Augustinus stammen, der dieses Thema in einem großen Werk abgehandelt hat: "Der Gottesstaat". Und dieser Heilige sah am Ende seines Lebens, wie die blühenden katholischen Ortskirchen Nordafrikas von den plündernden Vandalen bedrängt und niedergemacht wurden!)
Nein, das Evangelium kennt keine quantifizierbare Erfolgsgeschichte, aber das Evangelium ist wie ein Fischernetz, das in jeder Zeit in das Meer dieser Welt ausgeworfen wird und dort Menschen einfängt für Gott und sein Reich!
Sich von Gott einfangen lassen: Sind wir dabei? Wo prägt sich in meinem Leben das Lebensideal der Heiligen unserer Kirche aus, etwa die Nächstenliebe der hl. Elisabeth, der Bekennermut des seligen Marcel Callo? Wo wachsen wir - zumindest ein wenig, Schritt für Schritt - auf eine größere Christus-Ähnlichkeit zu?
Wohin die Waage sich neigt, entscheiden wir! Nichts geht ohne Freiheit - ohne unsere freie Zustimmung. So ist das bei Beziehungen, wenn sie echt sein wollen. So ist es bei der Liebe, wenn sie wirklich tragen soll.
Ob die Gottesliebe in uns wächst hin zu immer stärkerer Selbstverleugnung - oder: Ob die Selbstliebe in uns so groß wird, dass sie zur faktischen Gottesverleugnung wird - es ist meine Entscheidung. Schieb also deine religiöse Lahmheit nicht auf andere. Du musst Dich an die eigene Nase fassen!
Darum ist es gut, dass wir Jahr für Jahr zu dieser Jugendwallfahrt zusammenkommen, so wie z.B. unser Land Jahr für Jahr den Tag der deutschen Einheit begeht - im Wissen darum, dass die volle Einheit zwischen Ost und West eine immer auch vor uns liegende Aufgabe ist. Nichts geht im Selbstlauf, weder die Sicherung und Festigung eines demokratischen Gemeinwesens, noch ein Christ-Sein, das mehr sein will als nur ein Namensetikett. Wir müssen fest wollen, was wir anstreben und müssen uns einsetzen für das, was wir für wertvoll halten! Wie heißt es in dem Kirchenlied (GL 304)?: "Wohl gilt`s zu streiten immerzu bis einst wir dir lobsingen!"
2000 Jahre ist das Christentum alt - und die Welt ist nicht besser geworden. Das ist ein oft gehörter Einwand! Trotz der vielen Heiligen, trotz des Einsatzes etwa der heiligen Landgräfin Elisabeth! In der Tat: Damals im mittelalterlichen Thüringen - und heute in vielen Ländern der Welt wurde und wird weiter gehungert, kommen Menschen um durch Kriege, Vertreibung, vielfältige Not. Wir brauchten heute hunderte, ja tausende Landgräfinnen vom Schlag der heiligen Elisabeth in der Welt.
Aber ist das - die Erfahrung einer weithin inhumanen Welt, die Erfahrung unbekehrter Menschenherzen und "unbekehrter" Gesellschaftsstrukturen - wirklich ein Einwand gegen den christlichen Glauben? Sind Heilige wirklich sinnlos, weil wir alle keine Heiligen sind? Das wäre so, wie wenn einer den Sinn von Zahnpasta anzweifelt, weil es auch heute noch Karies gibt. Ich weiß nicht, seit wann es Zahnpasta gibt - 80/100 Jahre? - Die Frage ist doch, ob jeder wirklich seine Zähne gut pflegt; ob er dieses sinnvolle Mittel verwendet, wie es die Zahnärzte empfehlen, oder ob er davon keinen Gebrauch macht.
Aber Scherz beiseite: Ich bin nicht frustriert, wenn ich soviel unerlöstes Leben in mir und um mich herum wahrnehme. Gott hat auch mit den Schwächen der Menschen Geduld und hilft uns, sie zu überwinden.
Das Evangelium Gottes ist zeitlos aktuell! Immer neu muss diese Botschaft verkündet, ausgerichtet, vorgelebt werden. - Damals, im Thüringen des 13. Jahrhunderts - und heute im Freistaat Thüringen, 20 Jahre nach dem Ende des Sozialismus. Durch wen verkündet und vorgelebt? Durch euch! Von jedem an seinem Platz. - Aber, und das ist mein dritter Gedanke:
3. Wir wissen, dass der Ausgang des Kampfes zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Gottesreich und Menschenreich schon entschieden ist.
Oder anders gesagt (im Bild unseres Leitwortes). Wem Gott einmal gesagt hat "Du gehst mir nahe!" - den lässt er nicht so schnell los. Er schickt uns Helfer auf unserem Glaubensweg: Priester, Gemeinereferent(inn)en, die Mitarbeiter in unseren Jugendhäusern, in den Verbänden, Leute in unseren Pfarrgemeinden, die uns begleiten.
Gott lässt nicht so schnell locker. Vielleicht hast Du das auch schon mal erfahren: Es braucht manchmal einen anderen, der mich zur Seite nimmt, besonders wenn ich mich verrannt habe - und der mir sagt: Sieh das einmal aus einer anderen Perspektive an! Sieh das einmal - den letzten Streit - mit den Augen deiner Freundin, deines Freundes! Mach deinen Gesichtskreis mal etwas weiter... Sag nicht so schnell: Nichts geht mehr!
Weil Gott Dich anders anschaut als irgendwelche Berater oder Erzieher, deshalb hast Du Zukunft. Jesu Botschaft, sein eigenes Leben und Sterben und Auferstehen ist letztlich das Aufreißen eines Verblendungszusammenhanges, in dem sich leider viele Menschen befinden. Sie sehen immer und überall nur sich selbst, wie in einem Spiegelkabinett, wo man nicht ahnt, dass es darüber hinaus noch größere und schönere Dinge gibt.
Also: Schau Dein Leben aus Gottes Perspektive an! Schau die Wirklichkeit in Dir und um Dich herum mit wachen Augen, mit wachem Herzen an! Schau, wo etwas bei Dir ins Schwingen kommt, wo es anfängt, "im Bauch zu kribbeln", wo es in Deinem Herzen Resonanz gibt. Es kann sein, dass darin Dir Gott nahe kommt.
Ein solcher Tag wie heute diese Wallfahrt hat es in sich. Er ist kein Beruhigungsfest. Er sagt uns sehr eindringlich: Dein Heiligwerden steht noch an - du selbst musst es bringen. Es nützt dir nichts, dass andere vor dir gut und heilig waren! Heiligkeit vererbt sich nicht! Solche Tage, im Grunde jede Mitfeier einer Hl. Messe sagt uns: Wir stehen noch im Kampf.
Aber sie sagen uns auch, wo die stärkeren Bataillone stehen: auf Seiten der Liebe Gottes, auf Seiten der Heiligen, bei denen sich die wirkliche Zukunft auftut: in ihrem Leben aus der Kraft selbstloser Liebe! Das war ihre Antwort auf Gottes Anruf "Du gehst mir nahe!" - damals. Heute sind wir gefragt. Gebt Gott Eure Antwort, ganz persönlich, auch gemeinschaftlich, im Gebet und in der Tat: Ja - großer, liebender Gott: Du gehst mir nah! Amen.
Gehalten am 7. Juni 2009 im Erfurter Dom
www.jugendwallfahrt.de

