"Gott in allen Dingen ergreifen"

Bischof Joachim Wanke zur Eröffnung des "Meister-Eckhart-Jahres" am 21.3.2003 in Erfurt

Es ist schon erstaunlich: In dieser so aufgeklärten Bundesrepublik Deutschland offenbart sich dem Betrachter ein buntes und fröhliches Gewimmel von mancherlei Sekten und merkwürdigen Spinnern. Esoterik und der fast schon irrationale Glaube an Technologie und Biowissenschaft sind für manche Zeitgenossen austauschbar. Scheinbar verschwindet Religion nur, um dann - in Esoterik verwandelt - wieder aufzuerstehen. Es kann einen braven Christenmenschen schon erstaunen, mit welcher aufklärerischen Selbstverständlichkeit die Buchregale der Esoterikabteilungen durchwühlt werden. Noch ist die Esoterikszene im Osten Deutschlands geringer ausgeprägt als im Westen. Ich hoffe, dass es dabei bleibt!


Auch das Wort "Mystik" ist aus einer früheren negativen Bewertung als obskur und wissenschaftsfeindlich neu in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Große Zeitungen und Illustrierte sind sich nicht zu schade, Themen aus dem Umfeld von Meditation, Kontemplation oder Mystik Titelseiten einzuräumen.


Es ist also kein Wunder, dass Meister Eckhart vor der Instrumentalisierung durch geistige Schwarmgeister nicht gefeit ist. Meister Eckhart hat ja auch selbst in seiner seelsorglichen Tätigkeit, besonders in Straßburg versucht, das Gute und Richtige geistlicher Aufbrüche und Bewegungen seiner Zeit aufzugreifen und gleichzeitig geistlose Ausuferungen zu verhindern.

So sagt er einmal: "Man findet Leute, denen schmeckt Gott wohl in einer Weise, nicht aber in der Anderen. Und sie wollen Gott durchaus nur in einer Weise des sich Versenkens besitzen und in der anderen nicht. Ich lasse es gut sein, aber es ist völlig verkehrt." (Deutsche Predigten 5)


Dass dabei die eigene mystische Sprache Meister Eckharts innerkirchlich nicht nur auf Verständnis stieß, gehört sicher nicht zu den Ruhmestaten der mittelalterlichen Theologie. Dass aber an ihm, wie an allen großen Theologen bis in die Gegenwart hinein deutlich wird, wie unverzichtbar für die theologische Reflexion die Mystik und für die mystische Redeweise die Theologie ist, steht außer Frage. "Der Mensch, der von inwändigen Dingen nichts gewöhnt ist, der weiß nicht was Gott ist," sagt Meister Eckhart in einer seiner Predigten (Deutsche Predigt 11).


Auch wenn Meister Eckhart weiß, dass ein Lebemeister mehr sei als tausende Lesemeister, so dringt er darauf, dass gedacht werden muss, wenn das Wort Gottes klar werden soll. Dies nicht zu tun wäre ein Ausdruck von Trägheit und Nachlässigkeit.


Nein, "der Mensch soll sich ständig mit den beiden Kräften der Vernunft und des Willens erheben und darin sein Bestes im höchsten Grad ergreifen und sich äußerlich und innerlich gegen jeden Schaden besonnen vorsehen." (Reden der Unterweisung 8)


Könnte Leben und Werk Meister Eckharts heute Hinweise für eine Verkündigung geben, die tiefer von Gott zu denken und reden vermag, als bislang gewohnt? Agnostizismus und Skeptizismus der Moderne müssen von einer radikaleren Gotteserfahrung eingeholt werden.


Karl Rahner hat einmal gesagt, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sein wird oder er wird nicht mehr sein. Es stimmt: Wir benötigen beides in unserer Verkündigung und in unserem Leben: das Denken und - ich sage es einmal so: - das "Schmecken" des Seins in seinen Höhen und Tiefen. Gott hat den Menschen nicht durch Regierungsbeschlüsse erlöst, sondern durch einen konkreten Menschen. Er, Jesus von Nazareth, ist mit seinem ganzen Lebens- und Todesgeschick die Exegese des Wortes Gottes. Darum gilt auch heute, was Meister Eckhart sagt: "Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott." (Reden der Unterweisung 6) Gott theologisch auf den Begriff zu bringen, reicht nicht aus. Jesus Christus muss mir zum Gegenüber im Lebensalltag werden - bis in seine letzten Verästelungen hinein. Wer sich angeschaut weiß, lebt anders. Wer sich geliebt weiß, macht Auferstehungserfahrungen.


Der Mensch, der auf der Suche nach Lebenssinn ist, wird - wie Meister Eckhart sagt - "Gott in allen Dingen ergreifen" (Reden der Unterweisung 6) und er wird in einer mystischen Haltung, die nicht in der Ekstase sondern in der Intensivierung des Glaubens besteht, Gott vielleicht so erfahren, wie es Meister Eckhart in einer Anekdote erzählt hat:


    "Ein Kardinal fragte Sankt Bernhard (von Clairvaux): ?Warum soll ich Gott lieben und auf welche Weise?? Sankt Bernhard antwortete: ?Das will ich euch sagen: Gott (selbst) ist der Grund, warum man ihn lieb haben soll. Die Weise (dieser Liebe) aber ist: ohne Weise, denn Gott ist nichts; nicht so, dass er ohne Sinn wäre: er ist (vielmehr) weder dies noch das, was man auszusagen vermag - er ist ein Sein über allem Sein. Er ist ein weiseloses Sein. Darum muss die Weise, mit der man ihn lieb haben soll, weiselos sein, das heißt: über alles hinaus, was man zu sagen vermag.?"

    (nach: A. Haas, Meister Eckhart)



Wenn uns das Meister-Eckhart-Jahr in der Vertiefung unseres Denkens über Gott heute ein Stück weiterbringt, haben wir allen Grund, einem großen mittelalterlichen Theologen und Mystiker zu danken.



Pressemitteilung zur Eröffnung des Meister-Eckhart-Jahres