Die Zeit, in der wir leben, ist eine Zeit schwerwiegender Krisen und erschütternder Nachrichten. Wir müssen uns fragen lassen, ob wir in dieser Zeit überhaupt Weihnachten feiern können, ob wir uns nicht in eine fiktive heile Welt flüchten.
Viele Menschen waren in diesem Jahr auf den Weihnachtsmärkten, um in einer Welt der Lichter und der Musik, der Düfte und der schönen Dinge auszuspannen von der rauen Wirklichkeit – oder wollten sie dieser Wirklichkeit entfliehen in eine Scheinwelt? Auch uns Christen beschert das Weihnachtsfest viele gemütvolle Lieder, idyllische Krippendarstellungen und bewegende weihnachtliche Krippenspiele der Kinder.
In den Herbstferien war ich mit 180 Messdienerinnen und Messdienern in Assisi. Wir haben auch einen Ausflug nach Greccio gemacht, wo der Hl. Franziskus die Weihnachtskrippe erfunden hat, indem er die Szene mit echten Schafen und Hirten darstellte und mitten darin ein Priester die Hl. Messe feierte. Eine Krippenausstellung mit Weihnachtskrippen aus aller Welt zeigt, was aus dieser Idee geworden ist. Ich konnte auch nicht widerstehen und habe eine kleine Krippe gekauft, in der Maria, Josef und das Jesuskind eindeutig als Juden dargestellt sind, was sie ja auch voller Überzeugung waren.
Fliehen wir an Weihnachten in eine Scheinwelt? Diese Fragen müssen auch wir Christen uns gefallen lassen.
Bei aller Kritik am Weihnachtsbrauchtum und am Weihnachtskitsch darf nicht übersehen werden, dass wir den Advent und das Weihnachtsfest in der Regel nicht alleine feiern. Die Menschen gehen selten alleine auf den Weihnachtsmarkt. Sie verabreden sich mit lieben Menschen, die zu ihrem Leben gehören und mit denen sie – trotz aller Schwierigkeiten, die es geben mag – gerne durchs Leben gehen.
Weihnachten ist auch ein Fest der Familie. Auch wenn das Familienprogramm während der Feiertage anstrengend werden kann, ist die Familie doch für viele Menschen sehr wichtig, wenn nicht sogar das Wichtigste in ihrem Leben. Es sind oft lebenslange Beziehungen, die tragen. An den letzten beiden Weihnachtsfesten, die geprägt waren von Infektionsschutzmaßnahmen, ist das besonders deutlich geworden. Die schönen Traditionen, die den Advent und Weihnachten prägen, schaffen nicht eine fiktive Idylle, sondern feiern die guten, tragenden menschlichen Beziehungen auf nicht alltägliche Weise. Für viele sind diese Erlebnisse auch Erinnerungen, die nicht traurig machen sollten, sondern dankbar.
Für uns Christen ist Weihnachten das Fest der Erinnerung an die Geburt Jesu Christi, von dem wir glauben, dass er aus der Welt Gottes in unsere Menschenwelt gekommen ist. Damit hat keine heile Welt begonnen. Das zeigen schon die Umstände der Geburt in einem Stall. Die Krippe aus Holz wurde schon früh verstanden als ein Hinweis auf das Holz des Kreuzes. Aber mitten in dieser Welt bricht mit der Geburt Jesu Christi das Reich Gottes an. Es ist keine Idylle, keine Verheißung für die Ewigkeit, sondern Wirklichkeit: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen.“ (Lk 11,20)
In den Sakramenten dürfen wir uns der Gegenwart Gottes in unserer Welt sicher sein. Deswegen feiern wir die Christmette als Hl. Messe. So wird Christus in unseren Herzen geboren, wie der christliche Lyriker Angelus Silesius im 17. Jahrhundert schrieb: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“
Das Weihnachtsfest, das heute weltweite Aufmerksamkeit genießt weit über die christlichen Kirchen hinaus, hat damals nur die Aufmerksamkeit einiger Hirten gefunden, die damals wie heute eher am Rande der Gesellschaft lebten. Was sie hörten, ist für uns Christen aber keine realitätsferne Idylle: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lk 2,14)
Diese Friedensverheißung lässt uns nicht ruhen, an einer Zivilisation des Friedens und der Gerechtigkeit zu arbeiten. Wir hören aber auch, dass die Voraussetzung dafür ist, Gott zu ehren, Gott Gott sein zu lassen und ihn nicht vor den Karren unserer menschlichen Interessen spannen zu lassen.
Wer glaubte, wir Christen würden nie wieder den Einsatz für die Ehre Gottes als Motivation für einen Krieg missbrauchen, wurde in diesem Jahr bitter enttäuscht. Das darf uns nicht entmutigen, um eine christliche Friedensethik zu ringen, deren Grundlage ist, dass alle Menschen Gottes Wohlgefallen haben. Und das darf uns nicht entmutigen, uns für den Frieden in unserer kleinen Welt einzusetzen. Mir ist ein Satz des Kardinals Joseph Höffner in Erinnerung geblieben, den er beim Abschlussgottesdienst des Katholikentags in Aachen 1986 gesagt hat: „Der Frieden in der großen, weiten Welt beginnt beim Frieden daheim.“