Lesungen: 2 Kor 9, 6-10; Lk 6, 27-38
Der katholische Philosoph, Theologe, Priester und Sozialethiker Wilhelm Korff, der von 1926 bis 2019 lebte und als Ethik-Professor in Tübingen und München dozierte, verfasste als Mitherausgeber der 3. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche den Artikel über die „Feindesliebe, theologisch-ethisch“. Er schreibt dort:
„Als ethische Aufforderung ist Feindesliebe jedem ...normativen Ringen um einen ethischen Grundsatz zuzuordnen, der aus den Ausweglosigkeiten bloßer Vergeltungsmoral herausführt und in der in allen Hochkulturen anzutreffenden, zumeist negativen Fassung der „Goldenen Regel“ seinen ersten richtungsweisenden Ausdruck gefunden hat. Wo nämlich das negative Verhalten des anderen aufhört, Maßstab für das eigene Handeln zu werden, muss dies in letzter Konsequenz zugleich auch zu einer Haltung führen, die die diesem Verhalten zugrunde liegende mögliche feindselige Gesinnung und Einstellung mit entsprechenden „Entfeindungsstrategien“ zu überwinden sucht. Von daher kann es nicht verwundern, dass der Gedanke der Feindesliebe auch vor- und außerchristlich in Ethiken und Religionen zum Ausdruck kommt.“ (1)
Im Artikel von Hubert Frankemölle (* 1939) über den biblischen Begriff der Feindesliebe finden sich dann die konkreten Hinweise auf das Alte Ägypten des 15./14. Jahrhunderts v. Chr. und das Judentum.(2) Hubert Frankemölle ist seit 2007 Mitglied der „Unterkommission für religiöse Beziehungen zum Judentum“ der DBK, und daher unserem Bischof Dr. Neymeyr, der diese Kommission leitet, sicherlich bekannt. Er schreibt in diesem Artikel:
„Dort, wo Jahwe als der ‚Gott für alle‘ verkündigt wird, ist auch in der Ethik die Perspektive universal. … Wenn Gott Herr aller Menschen ist, hat die Halacha, die Ethik jener, die daran glauben, dem zu entsprechen. … Die Forderung Jesu wie der sie ermöglichende Glaube bleiben radikal.“(3)
Heute stehen uns am Elisabethempfang zwei große Heilige der Kirche vor Augen. Wir gedenken des Wirkens der heiligen Elisabeth von Thüringen und an diesem 10. November in unserer Stadt Erfurt des Stadtpatrons, des heiligen Martin von Tours. Ich erlaube mir, den Reformator Martin Luther an seinem heutigen 539. Geburtstag etwas auszublenden, da das Thema „Feindesliebe“ bei ihm sicherlich in einer eigenen Betrachtung bedacht werden müsste.
Am Festtag der heiligen Bistumspatronin Elisabeth von Thüringen hören wir den Aufruf des Apostels Paulus im 2. Korintherbrief, beim Säen des Guten nicht kärglich zu handeln, denn dann würde es ja auch nur eine kärgliche Ernte geben. Weil Gott großzügig ist mit seinen guten Gaben, dürfen wir nicht kleinlich sein. Es wird uns zugesagt, dass sogar noch über dem Notwendigen hinaus, das wir brauchen, immer etwas übrig bleibt, mit dem wir anderen dienen und helfen können. „Früchte der Gerechtigkeit“ wachsen, wenn wir die „Früchte der Erde“ austeilen. Hier geschieht ein heiliger Tausch, den sicherlich alle gut verstehen, die sich mit der gerechten Verteilung der Güter der Erde beschäftigen. Wo es ausreichend Nahrung gibt, ist der Friede leichter möglich, denn der Hunger quält nicht und schafft keine bösen Gedanken des Neids.
Im Lukasevangelium nennt Jesus auch dieses wunderbare Ergebnis des Reichtums aufgrund der Liebe zum Nächsten, das nicht unbedingt materiell zu verstehen ist, sondern das Heil des ganzen Menschen umfängt. Hier nennt Jesus Christus ausdrücklich auch die Feindesliebe als Weg zum Frieden und zu einem guten Miteinander. Der großzügige Umgang miteinander, der sich in der Selbstlosigkeit und Barmherzigkeit äußert, schafft die Basis für einen Neubeginn.
Der Kernsatz lautete:
„Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne (und Töchter) des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. (Lk 6, 35)“
Ich kann mir vorstellen, dass vielleicht schon die alten Ägypter – in jedem Fall aber die Juden – diese Vorstellung des liebenden und gütigen Gottes hatten, der sich um uns Menschen sorgt – egal ob wir gut oder schlecht sind. Wir leiten davon unsere Verantwortung für die Schöpfung ab – für die Umwelt und alle lebenden Geschöpfe einschließlich des Menschen. Natürlich erwartet Gott ein Handeln, das auch seinem Handeln entspricht, aber er geht immer in Vorleistung und lädt uns dadurch ein, es ihm nachzutun.
Ein neues Salbgefäß für das Sakrament der Firmung, das ich mir geleistet habe, ist eine Kopie des Salbgefäßes aus dem Grabschatz des Pharao Tutanchamun aus dem Jahr 1335 v. Christus. Die Symbole auf diesem Salbgefäß eines Pharao, der vermutlich den Monotheismus stark machen wollte, sprechen davon, dass der tote Pharao ewiges Leben und ewige Schönheit haben wird. Den Firmlingen sage ich dann: „Nichts anderes will Gott für euch!“ Wir Christen leben in der Hoffnung, bei Gott einmal ewiges Leben und ewige Schönheit zu haben, die nicht mit Kosmetik entsteht, sondern durch die Anschauung der Liebe Gottes. Die mittelalterlichen Künstler haben die Heiligen immer schön dargestellt, weil sie damit sagen wollten: Die Schönheit der Seele zeigt sich auch im schönen Gesicht. Schminke soll jedoch nichts verdecken, sondern verstärken, was die Seele uns schon an Schönheit schenkt.
Wenn ich in die Gesichter der Politiker und auch der Verantwortlichen in Kirche und Wirtschaft schaue, dann habe ich den Eindruck, dass man schon etwas vom friedliebenden Herzen und den friedliebenden Gedanken erkennen kann oder das Gegenteil vermuten muss. Wenn ich finstere Mienen sehe, dann fürchte ich mich, denn ich vermute dahinter auch finstere Gedanken. Ich will dabei nicht vorschnell urteilen, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die finsteren Gedanken sich äußerlich in der Mimik zeigen. Bisweilen sind diese Gedanken zu verändern, wenn sie dann einem frohen und friedliebenden Menschen begegnen.
Die Lebenszeugnisse des heiligen Martin und der heiligen Elisabeth machen nachdenklich und laden zur Neubewertung dessen ein, was mein Leben bestimmt. Der heilige Martin hat sein Statussymbol, den Offiziersmantel, zerschnitten und die Hälfte davon dem Bettler geschenkt. Die heilige Elisabeth hat ihre kostbaren Kleider verkauft und mit dem Geld die Armen unterstützt. In beiden Fällen wurden die Geber äußerlich gesehen ärmer, aber ihr Tun hat andere froh gemacht, die in Not waren. Ob alle, denen geholfen wurde, selbst zu Helferinnen und Helfer geworden sind, wissen wir nicht.
An den Gedenktagen dieser Heiligen kommen wir jedoch bis heute zum Nachdenken: Der heilige Martin hatte sein Schwert und seine Rüstung als Soldat und Offizier abgegeben und gegen den Bischofsstab getauscht. Die heilige Elisabeth nutzte ihr kostbares Kleid zum Transport von Brot, um den Hunger in Thüringen zu stillen und den Menschen eine Perspektive zu geben – wenigstens für einen Tag. Alle, die ihnen begegnet sind, wurden zumindest nachdenklich. Sie haben die Welt nicht grundsätzlich friedlicher und schöner gemacht, aber ihre Gesinnung brachte neue Akzente in die Gesellschaft: Barmherzigkeit und Nächstenliebe – sogar Feindesliebe.
In diesen Tagen, in denen in Europa ein Krieg herrscht und alle die Folgen des Krieges zu spüren haben, rückt der Gedanke der Feindesliebe in den Hintergrund, weil alle sagen: „Die Ungerechtigkeit des Angriffskrieges muss gestoppt werden!“ Wenn mich aber auch jemand fragt, ob die Feindesliebe ein Mittel ist, um den Frieden zu schaffen, so werde ich weiterhin dafür plädieren, diesen Weg nicht außer Acht zu lassen.
Das Teilen der Martinshörnchen an diesem Tag ist ein Anfang, wenn ich das Hörnchen auch mit demjenigen teile, der mir nicht gut gesonnen ist. Die kleinen Lichter der Laternen in der Dunkelheit sind der Beginn eines neuen und großen Lichtes von Frieden. Mit Kerzenschein ist die Wende möglich geworden, was niemand in dieser Dimension zu hoffen wagte.
Ich zünde weiterhin Kerzen an, wenn die Macht des Bösen und die Angst vor dieser Macht mich bedrohen. Ich glaube daran, dass die Macht Gottes alles Böse überwinden kann und bete für alle, die im Vertrauen auf diese Macht Neues wagen – auch gegenüber der Bosheit von Feinden, die Gesellschaft und Welt bedrohen. Lassen wir uns nicht unterkriegen und besiegen vom Negativen. Glauben wir weiterhin an die Macht des Guten im Menschen und im Himmel. Amen.
(1) Wilhelm Korff, Feindesliebe II, theologisch-ethisch, in: LThK 3, S. 1213, Freiburg 2006/3. Auflage.
(2) Hubert Frankemölle, Feindeliebe I, Biblisch, ebd. 1211.
(3) Ebd. 1211.