"Ethik in der Krise - Ethik für die Krise"

Bischof Joachim Wanke über die Bedeutung der Ethik für die Gesellschaft und die Theologie

Rede bei der Buchpräsentation "Ethik in der Krise - Ethik für die Krise. Vorlesungsreihe der Universität Erfurt im Sommersemester 2004" am 8. März 2005 in Erfurt


Wenn ich als Bischof von Erfurt, also als Außenstehender in bezug auf die Universität, ein Buch mit den Vorträgen der Ringvorlesung vom letzten Sommersemester präsentieren soll, welche die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität organisiert hat, dann verstehe ich meine Aufgabe in einem zweifachen Sinn. Ein erster Punkt betrifft die Tatsache, dass mit diesem Band sozusagen eine erste öffentlich greifbare Frucht der institutionellen Mitwirkung der nun integrierten Katholisch-Theologischen Fakultät in der Universität Erfurt vorliegt. Der zweite Punkt muss wohl nach der Bedeutung ethischer Orientierung für die heutige Gesellschaft fragen und nach der Aufgabe, die die Theologie für diese Orientierung hat.



1. Theologie in der kulturwissenschaftlich orientierten Universität


Die Fakultät hat die Vortragsreihe organisiert, die Kräfte aus der Universität und die Gäste zusammengebracht und ein gemeinsames Nachdenken über die Bedeutung der Ethik im Kontext heutiger Gesellschaft angestoßen. Die Vorlesungsreihe thematisiert ja nicht nur theologische Themen, sondern der Beitrag der federführenden Fakultät besteht zunächst vor allem darin, die verschiedenen Perspektiven und Sichtweisen auf Ethik gesammelt und zusammengeführt zu haben.


Theologisches Denken bringt sich in diesem Sinne in den Kontext der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Universität mit ihrem kulturwissenschaftlichen Anspruch ein. Es geht um Integration: die Sammlung der verschiedenen Sichtweisen und Anliegen, deren Austausch für die gegenwärtige kulturelle Entwicklung entscheidend ist. Das geisteswissenschaftliche Profil hat sich heute vor allem auf diese kulturwissenschaftliche Aufgabe hin entwickelt. Es ist dies die Form eines zusammenfassenden Wissens, das im Respekt vor der Komplexität und kulturellen Pluralität moderner Gesellschaft die notwendigen Integrationsleistungen wahrzunehmen versucht, um die sich zum Beispiel Naturwissenschaft und Technik nicht kümmern können.


Die Themen der Vortragsreihe und des hier vorgestellten Buches reichen von so persönlichen Fragen nach der Gestaltung von Liebe und Partnerschaft über die medizinisch-ethischen Fragestellungen bis hin zu den großen politischen Problemen einer globalen Gerechtigkeit und wirtschaftsethischen Gestaltung. Dieser Bogen ist gewaltig und herausfordernd. Aber er ist zugleich notwendig, damit sich die verschiedenen Formen von Wissenschaft nicht in eine Unübersichtlichkeit hinein entwickeln, die das Menschliche nicht nur fördert, sondern auch bedrohen kann. Die Theologie ist gerade in diesem Punkt engagiert, sie findet hier die Anknüpfungspunkte für ihre eigene Sicht auf Menschlichkeit und die Ziele des gesellschaftlichen Lebens und der Entwicklung. Die neue Freiheit, welche die Kirche hier in Thüringen seit der Wende genießt, versteht sie gerade als diesen Dienst an der Gesellschaft: zu integrieren und zu helfen, die Perspektiven des Menschlichen in der Vielfalt der Möglichkeiten und auch unter dem Druck der technischen und wirtschaftlichen Innovationen nicht zu verlieren.


Der Anspruch des christlichen Glaubens als tiefste religiöse Wahrheit vermittelt sich in einer solchen wissenschaftlichen Reflexion in die vielfältigen Versuche hinein, menschliche Kultur zu verstehen, aus den Quellen des geistigen Lebens Gesellschaft aufzubauen und zu erneuern. Gesellschaft braucht solches wissenschaftlich verantwortetes Nachdenken über die letzten Fragen unseres Woher und Wohin - über die uralten Fragen, über die Menschen aller Epochen nachgedacht haben, weil sie zu unserem Leben gehören. Wer diese Fragen verdrängt, riskiert es, dass sich irrationale Impulse mehr oder weniger destruktiv in der Gesellschaft Luft verschaffen - als neue Formen von Sucht und Magie, also quasireligiösen und religiösen Ausdrucksweisen, die den Menschen nicht befreien, sondern in schlimmer Weise belasten können.


Theologie im Raum der kulturwissenschaftlichen Universität heißt aber auch, dass die Theologie bereit ist, ihre eigenen Deutungen und Sinnantworten, die sie aus dem Offenbarungswissen hat, im Kosmos der Rationalität der Kulturen anfragen zu lassen. Sie muss die christlichen Sichtweisen in einen Dialog mit der Vernunft der pluralen Ausdrucksweisen der Gesellschaft bringen, damit geistige Orientierung tatsächlich mitten in der legitimen Vielfalt des modernen Lebens möglich wird. Sie hat damit auch eine Funktion für die Kirche, die sich gegenüber den geistigen Strömungen ihrer Umwelt nicht isolieren darf, um nicht unvernünftig und eng zu werden.


Das Buch, das wir heute vorstellen, ist Ergebnis der Mühe, theologische Arbeit im Gespräch mit dem "Universum" der Wissenschaften zu leisten. Das Feld der Ethik ist für einen solchen Versuch besonders geeignet: Denn gerade hier hat die gegenwärtige Gesellschaft ein besonders waches Gespür dafür entwickelt, dass sie der Integration bedarf. Ethische Reflexion ist heute disziplinenübergreifende Reflexion - also par exellence kulturwissenschaftlich angelegte Reflexion. Denn auf dem Feld der ethischen Orientierung spüren heute irgendwie alle, dass wir einer neuen Form des umgreifenden Wissens - oder sagen wir es etwas vorsichtiger - des komplementären Wissens brauchen.



2. Die Bedeutung ethischer Orientierung für die heutige Gesellschaft


Die Bedeutung ethischer Orientierung für die heutige Gesellschaft ist allenthalben bewusst. Man braucht nur an die Fragen der Gentechnologie oder Atomtechnik zu denken, um zu spüren, wie sehr hier die Wissenschaften zusammenarbeiten müssen, um die wissenschaftlichen Entdeckungen und die daraus folgenden technischen Möglichkeiten tatsächlich hilfreich für den Menschen zu verwenden. Es bedarf des Austausches zwischen naturwissenschaftlichem, technischem, juristischem, psychologischem und soziologischem Sachverstand, um die Chancen und Risiken gegenwärtiger Entwicklung angemessen zu begreifen. Die Ethik ist sozusagen der "runde Tisch", der all diese Perspektiven zusammenbringt, der sie gemeinsam über Sinn und Grenzen des Wissens, seiner technischen Verwendung und der daraus folgenden Auswirkungen auf Gesellschaft und persönliches Leben der Menschen nachdenken lässt. Und die Brisanz der Zusammensetzung der Gesprächsteilnehmer (Techniker mit Philosophen, Mediziner mit Juristen, Politiker mit Theologen) und der Gesprächsthemen (therapeutisches Klonen, Hartz IV, Ozonloch und Waldsterben) ähnelt den sensiblen Spannungen der für unseren Teil Deutschlands so bewegenden Ereignisse der Wendezeit.


Und in diesem Sinn ist die Vortragsreihe "Ethik in der Krise - Ethik für die Krise" als Versuch zu verstehen, der ethischen Reflexion einen konkreten Ort zu geben, den sie heute unabdingbar braucht. Sicherlich, auch die ethische Reflexion selber ist ein Feld der Suche. Sie bietet nicht nur selbstsichere Lösungen in den schwierigen Entwicklungen heutiger Zeit. Ethik bedarf der Unterscheidungsgabe, der Krisis, damit sie nicht nur in leerer moralisierender Geste die Menschen bedrängt. Gerade heute brauchen wir eine sachgerechte Ethik, eine Ethik, die die Probleme, Konflikte und Spannungen der Wirklichkeit tatsächlich erfasst, damit sie problemlösend wirken kann. Aber wenn die Geduld zur Unterscheidung gegeben ist, wenn die Vielfalt der Suchbewegungen ausgehalten wird, dann vermag moralische Sprache Halt zu geben und geistig zu beheimaten. Und das suchen wir ja in der Ethik.


Die Vorträge, die in diesem Buch dokumentiert sind, verschließen nicht die Augen vor der Unsicherheit auch ethischer Suche. Deshalb beginnt der Titel der Vorlesungsreihe und des Buches mit dem Stichwort Krise. Eine gleichsam provisorische Ethik wird angesprochen, wenn es darum geht, in der Unsicherheit handeln zu müssen (Wolf Wagner: Wie handeln, wenn man sich nicht sicher ist?). Und die Sprache ist verhalten, wenn es um die sensiblen Konflikte im Bereich von Liebe und Partnerschaft geht (Regina Ammicht-Quinn, Können, sollen, wollen, dürfen, müssen: Ein nicht nur grammatischer Versuch über Sexualität und Ethik). Sie verlagert sich auf eine eher politische Weisheit und Lenkungskompetenz, wenn man in die wirtschaftsethischen Spannungen und Konflikte schaut (Ingo Pies/Henry Meyer zu Schwabedissen, Ethik und Ökonomik: Ein Widerspruch?). Dabei verabschiedet sie sich von allzu unmittelbaren moralischen Appellen und bedrängenden Sprachformen. Und doch zeigt sich, wie wichtig die Funktion der Ethik auch für die moderne Kultur ist, wenn man


  • die komplizierten Spannungen in den medizinischen Entscheidungen und bioethischen Debatten sieht (Herbert Meyer, Ethik in der Medizin; Dietmar Mieth, Bio-Ethik als Krisenlöser oder Krisenmacher?),

  • die Herausforderungen von globaler Gerechtigkeit und den Ausgleich zwischen den Kulturen wahrnimmt (Elke Mack, Globale Ethik),

  • die Notwendigkeit von Verantwortung in der medialen Vermittlung von Informationen bedenkt (Hans Leyendecker, Ethik der journalistischen Berichterstattung; Karin Richter/Burkhardt Fuhs, Wirkung von Gewalt in Medien auf Kinder - eine Frage zwischen Medienethik und Pädagogik)

  • ja, die Beziehung zwischen Ethik und Kunst zu beschreiben wagt (Thomas Sternberg, "Du musst dein Leben ändern. Ü;ber das Verhältnis von Kunst und Ethik").


Hier hat die Ethik nach wie vor eine Zukunft, sie trägt zur Beheimatung der Menschen in ihrer Kultur bei, zur Erfahrung eines menschlichen Antlitzes unserer hochkomplexen und differenzierten Gesellschaft, so zeigt es der Beitrag des philosophischen Fachethikers (Winfried Franzen, Wurzeln, Status und Zukunft des Moralischen). Ethische Sprache muss sich selbst differenzieren in diesem Kontext, auch sie bleibt Teil einer integrierten und humanen Kultur.


Die Theologie bringt in diesem Zusammenhang einen eigenen Beitrag ein: Sie macht Mut, den ethischen Diskurs in Geduld, Sachlichkeit und Entschiedenheit auch heute zu führen. Es bedarf der Sorgfalt einer kultivierten moralischen Sprache, die nicht einfach undifferenziert drauflos redet. Ethik selbst bedarf der Kritik, der "Krisis" - das heißt positiv: der Unterscheidung! Aber wenn sie durch diese Krise hindurchgeht, dann ist sie sehr wohl im Stande, auch heute in der komplexen und komplizierten Gesellschaft Orientierung zu geben - Hinweise auf eine menschliche Zukunft unseres Lebens. Deshalb heißt der zweite Teil des Buchtitels: "Ethik für die Krise".


Die Theologie bringt sich im Sinne der Ermunterung zu einem solchen Gespräch aus ihrer Perspektive auf Sinn, Menschlichkeit und auf ein umfassendes Getragensein unserer Existenz ein. Und in diesem Sinne ist für mich dieses Buch Ausdruck der Sehnsucht nach einer angemessenen Sprache von Ethik, die Sinn vermittelt und Hoffnung macht.


"Ethik in der Krise - Ethik für die Krise", herausgegeben von Wolfgang Bergsdorf, Hans Hoffmeister, Benedikt Kranemann und Wolf Wagner. Rhino-Verlag: Weimar 2004 (ISBN 3-932081-71-4). 10,80 EUR, erhältlich im Buchhandel und in den Geschäftsstellen der Thüringischen Landeszeitung (TLZ).



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