Auf dem Hof unseres Mehrfamilienhauses in Weimar spielten immer 10 bis 20 Kinder. Ü;ber uns wohnte eine Familie mit elf Kindern, unter uns mit drei Kindern und mein Bruder und ich waren als die beiden kleineren Geschwister von insgesamt fünf dabei, denn die drei größeren waren schon aus dem Haus. Alle hatten ihre Freunde und Freundinnen mit eingeladen und so ergab sich eine große Kinderschar. Beim Spielen und Toben konnten wir Erfahrungen machen, die ich nicht missen möchte. Vater, Mutter, Kind wurde gespielt und die Rollen verteilt - meistens danach, wie die Alterslage war. Dabei kam natürlich auch deutlich zum Ausdruck, wie es in den Familien zuging, denn die Kinder können ja nur das darstellen, was sie selbst erlebt hatten. Alle Kinder, die damals auf dem Hof waren, hatten einen Vater und eine Mutter zu Hause. Dass das schon etwas Besonderes war, war mir damals nicht so sehr bewusst. Wenn ich heute in den Statistiken lese, dass jede zweite Ehe geschieden wird, dann weiß ich, welches Glück ich hatte, dass meine Eltern sich trotz Vertreibungserlebnissen, Verlust eines Kindes im Kindesalter und trotz Kriegs- und Gefangenschaftserfahrungen nicht getrennt haben, obwohl doch viele Gründe dafür hätten sprechen können, die zumindest heute als Scheidungsgrund angegeben und gesellschaftlich akzeptiert werden.
Die Vielgestaltigkeit von Familie wird uns heute vermutlich bewusster, als es noch vor 50 Jahren in meiner Kinderzeit war. Die Veränderungen lösen Diskussionen darüber aus, was denn eigentlich Familie ist. Ist Familie dort, wo Kinder sind? Ist Familie dort, wo Vater und Mutter sind - auch ohne Kinder und vielleicht mit Hund? Als katholische Kirche halten wir daran fest zu sagen: Familie ist als die kleinste Zelle der Gesellschaft dort, wo Gesellschaft wachsen kann - biologisch und auch geistig. Es braucht dazu Mann und Frau und es braucht dazu Geborgenheit, die durch das Ja-Wort von Mann und Frau ein Fundament erhält, auf das sich die Partner stützen können und um das sie sich auch weiterhin bemühen müssen, denn es steht nicht automatisch fest und sicher da. In die Geborgenheit von Mann und Frau schenkt Gott neues Leben, wenn es sein Wille ist. Die Eltern und die Gesellschaft sind dann herausgefordert, zu diesem Geschenk Gottes ihr Ja zu sagen.
Alle diese Aussagen stecken heutzutage voller Sprengstoff. Nichts wird als selbstverständlich akzeptiert. Die Caritaskampagne 2013 möchte auf die Probleme hinweisen, die sich z.B. in den Plakattexten zeigen: "Vater, Mutter, Scheidungskind", "Arbeitsloser, Mutter, Kind" und "Ü;berstunden, Mutter, Kind". Nicht immer ist bei den Familien von außen erkennbar, dass eine Spannung herrscht oder eine Gefährdung besteht. Manchmal kann ein rechtzeitiger Hinweis und ein Gespräch oder eine Therapie die Katastrophe verhindern, aber meistens war von Spannungen nichts bekannt oder wurde zu zögerlich gehandelt. Der kürzlich bekannt gewordene Mord an zwei Kindern in der Nähe von Suhl durch einen Vater, der nicht zulassen wollte, dass seine Frau mit den beiden Kindern eine neue Familie aufbauen wollte, zu der ein neuer Mann und Vater hinzukommen sollte, hat uns aufgeschreckt. Die Nachbarn haben an Spannungen nichts bemerkt - so heißt es im Polizeibericht. Es erschien alles normal. Und dennoch gab es Spannungen, die durch Mord an den beiden Kindern und durch den Selbstmord des Vaters gelöst werden sollten.
Aber auch Einsamkeit innerhalb der eigentlich funktionierenden Familie finden wir. Eine Werbung für einen Kabelanschluss mit Flat-Rate, die kürzlich im Briefkasten war, hat mir stutzig gemacht. Alle Familienmitglieder und auch Freunde waren als verkabelt dargestellt. Der eine schaute Fernsehen, der andere wollte telefonieren, der Dritte wollte im Internet surfen, der nächste wollte bei facebook sich einloggen und der Fünfte wollte eine E-Mail absenden. Sie wurden als verkabelt bezeichnet, und es wäre doch alles so preisgünstig. Von Kommunikation der Familienmitglieder untereinander habe ich nichts sehen können. Davon hätte die Firma ja auch nichts, die ihr Produkt verkaufen wollte.
Im Roman "Was vom Sommer übrig ist" von Tamara Bach, der im Jahr 2013 durch die Deutsche Bischofskonferenz als bestes Kinder- und Jugendbuch prämiert worden ist, wird von zwei Mädchen berichtet, die in einer äußerlich intakten Familie leben und doch einsam sind. Jana ist 13 Jahre und erlebt, wie sich der ganze Familienalltag nur um einen älteren Bruder dreht, der nach einem misslungenen Selbstmordversuch nun seit Wochen im Koma lag. Die Eltern hatten sogar den 13. Geburtstag von Jana vergessen. Ein anderes Mädchen namens Louise war mit 17 Jahren gerade dabei, selbständig zu werden, aber sie hatte sich zu viel vorgenommen und war in Schwierigkeiten gekommen. Beide Mädchen lernten sich kennen und wurden Freundinnen. Auf diese Weise wurden sie füreinander Stütze und Halt.
Bei der Frage in einem Familienkreis, ob so etwas bei uns in den Familien denkbar ist, wie es im Roman beschrieben wird, sagten die Anwesenden: Durchaus möglich, wenn die Eltern keine Kommunikationsebene mit ihren Kindern finden. Das ist immer dann möglich, wenn sich Eltern zu wenig Zeit für die Kinder nehmen. Sie spüren zwar die Entfremdung, aber sehen keinen Weg, die Sehnsucht nach Gemeinschaft in die Wirklichkeit zu führen. Kinder suchen die Nähe der Eltern und vertrauen ihnen, auch wenn vielleicht die Erziehung Mängel aufweist.
Ideen, die derzeit von Parteien propagiert werden, dass man doch die Kinder besser in eine Ganztagsschule schicken sollte, weil doch dort die eigentliche Erziehung stattfinden kann, müssen wir mit wachem Herzen wahrnehmen. Das Recht auf Erziehung durch die Eltern und der Wert dieser Erziehung wird damit unterwandert und den Eltern ihr Erst-Erziehungsrecht abgesprochen. Diese Ideen müssten eigentlich aufgrund der Negativerfahrungen im Sozialismus und Nationalsozialismus beendet sein. Aber ich spüre, wie anfällig Eltern für solche Ideen sind, gerade dann, wenn ihnen die Erziehung der Kinder zur Last wird, weil sie ja weiterhin gern im Beruf vorankommen wollen oder die Familienfinanzen durch einen weiteren Verdienst aufgebessert werden sollen. Niemals dürfen wir ihre Ü;berlegungen und die Entscheidung grundsätzlich verurteilen, aber ich erwarte, dass alle, die sich anders entscheiden, respektiert werden, d.h. die sich für die Zeit mit den Kindern und für ein geringeres Einkommen entscheiden.
Wir sind damit ganz nahe am biblischen Text des Evangeliums, der ja auch vom ungerechten Mammon spricht, mit dem man sich Freunde machen soll, um dann sogar in den Himmel eingelassen zu werden. Im Kontext unseres Themas bedeutet das Evangelium für mich, dass jemand, dem es finanziell gut geht, in besonderer Weise die Werke der Nächstenliebe am Herzen liegen sollen, die er mit seinen Finanzen unterstützen kann. In der Kirche gibt es ja das Stiftungs- und Vereinswesen, das solche Ideen und Initiativen unterstützt. "Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden" (Lk 12,48b). Unsere Bistumspatronin, die heilige Elisabeth, können wir in diesem Zusammenhang immer als Vorbild zitieren und nennen. Aber es sind auch stille und einfache Menschen in unseren Gemeinden, die mit ihren Spenden die Aufgaben der Kirche und Caritas unterstützen und somit ermöglichen, was zum Wohl der Familie nötig ist. Das Evangelium lädt zur Großherzigkeit ein und sagt zugleich, dass es eigentlich nur die Entscheidung für Gott gibt, die aber durch die Werke der Nächstenliebe vorbereitet werden. Es kann keine Gottesliebe ohne Nächstenliebe geben. Für die heilige Elisabeth war alles eins und keine Konkurrenz. Gern sagt man dazu: zwei Seiten einer Medaille.
"Familie schaffen wir nur gemeinsam" - das Thema der Caritas-Kampagne 2013 - zeigt die Möglichkeiten und Notwendigkeiten auf, um der Familie zu dienen und auf die Beine zu helfen, wenn es schwierig ist. Ü;ber finanzielle Hilfe müssen die Verantwortlichen in Kirche und Land nachdenken. Als Bildungsträger sind ebenfalls Kirche und Gesellschaft in der Pflicht. Als Kritiker in einer Gesellschaft, die vielfach die Bedeutung von Familie - bestehend aus Mann und Frau mit Kind - herunterspielen möchte, sind wir als katholische Christen gefragt, die ihre Verhaltenskriterien der Heiligen Schrift entnehmen und sich nicht durch gesellschaftliche Tendenzen und Praktiken in ihren ethischen Grundsätzen bestimmen lassen. Das bedeutet manchmal: Isolation in der Gesellschaft mit dieser so anders lautenden Meinung. Daher ist es besonders wichtig, sich gegenseitig in der Gemeinde und Gemeinschaft zu stärken und zu vernetzen. Ein solcher Tag wie heute kann und soll diesem Anliegen dienen. Ich bin sicher, dass wir mit diesen Gedanken über die Familie und mit den Initiativen für sie der Gesellschaft einen wichtigen Dienst tun, für den sie uns irgendwann einmal auch danken wird. Die Geschichte lehrt uns, was geschieht, wenn die Bedeutung der Familie heruntergespielt wird oder der Staat sich als allein fähiger Bildungsträger behauptet- siehe die katastrophalen Zustände in Russland und anderen vom Sozialismus und Kommunismus geprägten Ländern.
Es sei gestattet, bei diesem Thema auch auf die Heilige Familie von Nazareth zu verweisen, denn bei ihr kann in einer besonderen Weise davon gesprochen werden, dass Familie nur gemeinsam geschafft werden kann. Das gilt für die Lebensentscheidung des heiligen Josef. Das gilt genauso für Jesus Christus, der - wie es in einem Gebet heißt - sich nicht gescheut hat, Kind einer Familie zu sein. Letztlich hat diese Familie das Gottvertrauen geprägt und getragen. Das darf auch uns gelten. Wir wollen uns gegenseitig ermutigen, im Gottvertrauen zu leben und die Sorgen der Familien mitzutragen. Amen.