"Entwicklung und Perspektiven des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche"

10 Jahre Katholisches Büro Erfurt: Jubiläumsvortrag von Pater Dr. Hans Langendörfer



"Entwicklung und Perspektiven des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche im wiedervereinten Deutschland und in Europa"

Jubiläumsvortrag von Pater Dr. Hans Langendörfer, Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz


Gehalten am Montag, 19. Januar 2001

in der Erfurter Brunnenkirche



Ich habe mich über die Einladung, aus diesem schönen Anlass des 10. Geburtstages des Katholischen Büros zu Ihnen zu sprechen, sehr gefreut und bin gerne nach Erfurt gekommen; dies umso mehr, als sich zwischen dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Ihrem Katholischen Büro eine sehr enge und fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt hat.

Sie haben mich gebeten, aus der Perspektive meiner eigenen Erfahrungen und meiner Aufgaben das Verhältnis zwischen Kirche und Staat zu beleuchten, wodurch hier natürlich vor allem die katholische Sicht präsentiert wird. Da mir der Einblick in Angelegenheiten der Länder nur eingeschränkt möglich ist, werde ich vor allem die Bundesebene betrachten - und natürlich, wie Sie es wünschen, - die Ebene Europas, besonders der Europäischen Union.

Das besondere Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland bleibt, so lautet der erste Teil meiner These, durch ein hohes Maß an Kontinuität gekennzeichnet und wird trotz aller Kritik im Einzelnen immer noch überwiegend von Zustimmung getragen. Doch unterliegen beide, Kirche und Staat einem Wandel, worauf die Wiederherstellung der deutschen Einheit nachdrücklich hinweist. Gegenwärtig ist dieser Wandel besonders rasch, und er bleibt, dies ist der zweite Teil meiner These, nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den beiden Partnern bleiben.

Zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit können als Blickfang für das Gemeinte dienen:

1. Die rot-grüne Koalition hat ein Gesetz beschlossen, das in diesen Tagen vom Bundespräsidenten untezeichnet wird und das für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften das Rechtsinstitut der "eingetragenen Partnerschaft" einrichtet, das der Ehe nahezu gleichgestellt ist. Die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu dieser Materie betont drei Aspekte: Erstens unterstreichen die Bischöfe den Standpunkt der kirchlichen Sexualmoral, wonach gleichgeschlechtliche sexuelle Intimität sittlich falsch ist. Zweitens betonen die Bischöfe, dass es sich nach kirchlicher Lehre verbietet, homosexuell geprägte Männer und Frauen ungerechtfertigt anders zu behandeln als Heterosexuelle oder ihnen gar mit Missachtung zu begegnen. Drittens stellen die Bischöfe fest, dass es kein Rechtsinstitut "gleichgeschlechtliche Partnerschaft" geben darf und Rechtsfiguren, Begriffe und Denkmuster des Ehe- und Familienrechts nicht auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften übertragen werden können.

2. Eine Presseerklärung der Bundesärztekammer vom Februar 2000 hat die Diskussion über die sogenannte "Präimplantationsdiagnostik" (PID) angeregt, also über die Untersuchung extrakorporal gezeugter Embryonen. Sie stellte zur Debatte, ob der in vitro gezeugte Embryo untersucht und "im Falle des Nachweises einer schweren genetischen Schädigung unter Umständen nicht in die Gebärmutter transferiert" werden solle. In Deutschland ist ein solches Vorgehen durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Die Zukunft genau dieses Gesetzes ist aus demselben Grund einer Offenheit für PID, aber auch wegen der Frage des irreführend sog. "therapeutischen Klonens" weiter unter Druck geraten. Die Bischofskonferenz wird sich mit dieser Thematik während ihrer bevorstehenden Fühjahrsvollversammlung befassen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, hat jedenfalls die Präimplantationsdiagnostik, die das Ziel hat, den Embryo nur bei genetischem "Normalbefund" weiterleben zu lassen, faktisch als eine eugenische Selektion bewertet und vorausgesagt, dass sie zu weiterem Missbrauch führen werde.

Die beiden genannten Beispiele geben für unser Thema zwei wichtige Hinweise:
- Die katholische Kirche nimmt unverändert an der politischen Debatte u.a. über die ethisch angemessene Lösung von Problemen teil, die dem Gesetzgeber (auch: dem Standesrecht) aufgelastet sind. Sie hält an ihrem Selbstverständnis fest, auch für das öffentliche Leben eine Mitverantwortung zu tragen und Partnerin in der Meinungsbildung zu sein.

- Die katholische Kirche steht dabei (immer häufiger) vor dem schmerzlichen Problem, sich zu etwas verhalten zu müssen, das sich grundsätzlich außerhalb des für sie verbindlichen ethischen Rahmens bewegt: Extrakorporale Befruchtung und gleichgeschlechtliche Liebe sind nach kirchlicher Ü;berzeugung abzulehnen, finden aber in der Gesellschaft beträchtliche Akzeptanz und schaffen politischen Regelungsbedarf. Das bekannteste zusätzliche Beispiel für diese Konstellation ist ja die Frage der kirchlichen Mitwirkung an der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung. So steht die Kirche vor der Frage, wie weit sie sich - um ihres öffentlichen Auftrags willen - auf Bereiche einlassen will und darf, die sie "eigentlich" ablehnt.

Es gibt also Kontinuität und Wandel in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Um beides besser zu verstehen, muss man genauer hinschauen, zunächst die Kontinuität umschreiben und dann jene Entwicklungen vertieft in Betracht ziehen, die das Aussehen beider Partner und damit deren Verhältnis zueinander verändern.

Verfassungsrechtliche Kontinuität

Auch wenn es stimmt, dass sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in gewisser Weise verändert, muss man doch zunächst sagen, dass - wie ich meine - die verfassungsrechtlich festgelegten Beziehungen beider zueinander relativ stabil sind, zumindest gegenwärtig. Deutschland kennt ja international einmalige Rechtsbeziehungen zwischen Kirche und Staat, welche die Freiheit voneinander mit Elementen des Zusammenwirkens verbinden. Das Grundgesetz gewährleistet infolge seiner Bindung an die Menschenwürde die "Freiheit des Glaubens" und die "ungestörte Religionsausübung" (Artikel 4, Absatz 1 und 2 GG). Es versteht dieses Freiheitsrecht (unter Rezeption auch einiger Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung) sogar im Sinne einer "Kirchenfreiheit" als korporatives Grundrecht. Die Kirche ist frei, der kirchliche und der staatliche Bereich sind in der Wurzel voneinander geschieden. Dennoch darf der Staat gegenüber der Kirche nicht indifferent oder gar ablehnend sein. Vielmehr muss er - im Rahmen der Grundsätze von Toleranz und Parität - dafür mitsorgen, dass die Gläubigen ihren Ü;berzeugungen auch im öffentlichen Leben Geltung verschaffen können, was sich in positiven Ausformungen niederschlägt. Zu denen gehört z.B. die Stellung der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechtes, die den organisationsrechtlichen Rahmen des kirchlichen Gestaltungsrechts absteckt, wie es sich z.B. im Steuerrecht zeigt. Die Kirche hat ein Selbstbestimmungsrecht in "ihren eigenen" Angelegenheiten, die inhaltlich zu bestimmen nochmals ihr eigenes Vorrecht ist. Neben diesen "eigenen" gibt es eine Reihe "gemeinsamer Angelegenheiten", für die oft genannte Beispiele die Anstalts- und Militärseelsorge sind, aber auch der Religionsunterricht, der nach Artikel 7, Absatz 3 GG "ordentliches Unterrichtsfach" ist.
In diesen Zusammenhang der Religionsfreiheit gehört auch der grundgesetzlich ver-bürgte Schutz des Sonntags als "Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung" (Artikel 139 WRV i.V.m. Artikel 140 GG).

Zwar sind solche Festlegungen in manchen Einzelheiten unter teils starken Druck geraten. Die für Deutschland typische Stellung der Kirchen wird gerne generell als "Privilegierung" diskreditiert. Man ruft nach mehr "Trennung von Kirche und Staat". Die Kirchensteuer stößt auf Kritik; in Brandenburg weigert sich die Landesregierung, Religionsunterricht als ordentliches Fach einzuführen; der Sonntagsschutz wird ausgehöhlt, so dass in Mecklenburg-Vorpommern in der Auseinandersetzung mit der Landesregierung über die sog. "Bäderregelung" der Rechtsweg beschritten wurde - mit dem Ergebnis, dass die Regierung zwar teilweise, aber wohl nicht in hinreichendem Maße Konsequenzen aus den für sie ungünstigen Urteilen gezogen hat.

All dies ist näher zu betrachten und zu erklären; zu erklären aus den gewandelten Verhältnissen, worauf ich noch zu sprechen komme. Eine wirkliche Bedrohung des verfassungsrechtlichen Status quo ist es dennoch nicht: Es gibt zur Zeit keine parlamentarisch mehrheitsfähige Infragestellung des staatskirchenrechtlichen Grundmusters, zumal ja Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit bedürfen.
Programmatische Vorschläge bei den Bündnisgrünen, bisweilen auch der Sozialdemokratie und den Liberalen, werden sich auf absehbare Zeit nicht zu relevanten Initiativen verdichten, und die PDS ist diesbezüglich ebenfalls nicht zu fürchten. In dieser verfassungsrechtlichen Hinsicht kann Kontinuität konstatiert und die Grundrechtsordnung als stabil angesehen werden.

Mit einer bedeutenden Ausnahme allerdings: Die weit vorangeschrittene Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen in bestimmten Bereichen auf die Ebene der Europäischen Union hat zur Folge, dass auf Unionsebene immer wieder legislative Entscheidungen anstehen, die in Deutschland - vor allem auch indirekt - in die Rechte der Kirchen eingreifen oder eingreifen können. Zuletzt war dafür die EU-Richtlinie zur Nichtdiskrimnierung ein Beispiel, bei deren Erarbeitung zeitweise die Gefahr bestand, dass es kirchlichen Arbeitgebern künftig praktisch nicht mehr möglich wäre, die besonderen Loyalitätsobliegenheiten des kirchlichen Dienstes zur Geltung zu bringen.
Es wird viel darauf ankommen, ob die dem Vertrag von Maastricht bzw. Amsterdam unter hohem persönlichen Einsatz des damaligen deutschen Kanzlers beigefügte "Erklärung über die Religionsgemeinschaften" eine praktische Wirkung wird entfalten können - oder ob sie folgenlos bleibt. Diese Erklärung sieht vor, dass die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften mitgliedstaatliche Materie bleibt.

Soweit zur Kontinuität auf der Ebene des Verfassungsrechtes. Dies muß jetzt vervollständigt werden durch den Blick auf den Wandel des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche - und, zunächst, den Wandel, dem beide in sich unterworfen sind und der erklärt, wieso es anders wird zwischen ihnen.

Wandel des Staats-Kirchen-Verhältnisses

1. Wandlungen des Staates:

Die soeben erwähnte gewachsene europäische Integration mit den multilateralen bzw. supranationalen Bindungen, die Deutschland eingegangen ist, scheint mir eine von insgesamt drei Entwicklungslinien zu sein die das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland verändern.

Eine zweite Entwicklungslinie sind die neuartigen Handlungsbedingungen und -erwartungen, zu denen der Globalisierungsprozess den Staat geführt hat. Im Aufkommen immer engerer weltwirtschaftlicher Verflechtungen verliert der Staat Regelungskompetenzen, auch wenn er als Gewährleister von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unverändert wichtig ist. Tendenzen zur Privatisierung und Föderalisierung schaffen zudem ein geändertes Staatsverständnis, wonach weniger die Schutzfunktion des Staates, als vielmehr die von ihm zu leistende "Befähigung" der Bürger und der Gesellschaft, vor allem der Wirtschaft, erwartet werden. Wenn auch die Aufgaben des Staates nicht gering geworden sind - sie sind anders geworden und der starke Hoheitsstaat gehört der Vergangenheit an.

Eine dritte Entwicklungslinie ergibt sich aus den gesellschaftlichen Prozessen der Pluralisierung von Lebensstilen und Wertorientierungen wie auch den mit der deutschen Einheit verbundenen Verschiebungen. Diese schlagen sich in der "politischen Klasse" nieder, so dass der Kirche jede Illusion genommen ist, ihre Traditionen, ethischen Positionen und politischen Erwartungen könnten als allgemein bekannt oder gar im Großen und Ganzen geteilt gelten. Eher hat es den Anschein, als müssten beide Seiten - Staat und Kirche - einen anhaltenden Prozess der wechselseitigen Selbsterklärung und des Neuentdeckens durchlaufen, den Sie gewiss schon lange und mehr noch vielleicht als ich selbst kennengelernt haben. Wohlgemerkt: Beide Seiten sind betroffen, denn bisweilen sind auch auf kirchlicher Seite die Annahmen über den Staat, über seine Handlungsbedingungen und über gesellschaftliche Prozesse ziemlich veraltet.

2. Wandlungen der Kirche:

Damit sind wir bei uns selbst, bei der Kirche, angelangt. Natürlich bewahrt sie im theologischen Sinn immer und unveränderbar ihr Wesen als Zeichen und Werkzeug der innigen Verbindung Gottes mit dem Menschen, die im Leben und Tod und in der Auferweckung Jesu Christi gründet. Diese einzigartige Bestimmung kann ihr keiner nehmen. Es wäre sogar gut, wenn dieses glaubensgebundene Verständnis der Kirche allgemein stärker zur Geltung käme. Gerade in Deutschland bringt die große öffentliche Präsenz der Kirche - nicht zuletzt als Arbeitgeber - immer auch die Gefahr mit sich, dass sie einseitig als sozialer Akteur gesehen und in Bezug auf ihre theologische Stellung zu wenig wahrgenommen wird. Dies mag zwar verständlich sein, weil ja theologische Aspekte der Kirche nur schwer zu vermitteln sind. Es ist dennoch hochproblematisch.

Was das äußere Erscheinungsbild der Kirche einschließlich ihrer Pastoral anbelangt, so braucht hier nicht wiederholt werden, was ohnehin bekannt ist: Insgesamt hat der christliche Glaube in Deutschland in dem Sinn drastisch an Boden verloren, dass die Mitgliedschaft in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und die Teilnahme an ihrem Leben stark zurückgingen. Dies wird sich fortsetzen - die demographische Entwicklung zeichnet ein klares Bild.
Die Kirche erscheint in der gegenwärtigen Phase allgemeiner Dezentralisierung, der Rücknahme staatlicher Aufgaben und der Multiplizierung von Möglichkeiten der persönlichen und kollektiven Orientierung und Lebensgestaltung vielen als fremdartig. Die eine Wahrheit des Glaubens und ihr Geltungsanspruch, der in besonderer Weise durch die eine Person des Nachfolgers Petri bewahrt und gelebt wird in einer weltumspannenden, zentralverfassten Weltkirche - das schafft einen Kontrast zur globalen Entwicklungsdynamik. Es ist vielleicht mehr diese Nichtveränderung der Kirche, wodurch sie sich im Geflecht ihrer Beziehungen zum Staat faktisch eben doch verändert.

Ich möchte hier kurz nochmals einen Gedanken aufgreifen, den ich eben nur beiläufig erwähnte. In der Realität ist das Erscheinungsbild der Kirche - allen theologischen Verbindlichkeits- und Gemeindebemühungen zum Trotz - nicht selten darauf konzentriert, daß die Kirche Dienstleistungen erbringt, vor allem in Form von Riten und Caritas. Diese Kluft zwischen theologischem Anspruch und sozialer Realität spiegelt sich in den Positionen, die der Staat und die Gesellschaft zur Kirche einnehmen. So erhält die Kirche oft dort politischen Zuspruch und Unterstützung, wo sie "gesellschaftlich nützlich" ist. Bezüglich ihrer Geltungsansprüche und Organisationsprinzipien dagegen gerät sie in Distanz zur Gegenwart und ist in diesem Sinne, wie manche sagen, "alt" geworden. Ich bin sicher, dass Sie diese Problematik aus den langen Jahrzehnten der Nachkriegszeit mehr und leidvoller kennen als Katholiken im Westen unseres Landes.

Dass die erwähnte Distanz für alle Beteiligten auch produktiv sein und sogar Lebendigkeit freisetzen kann, lässt sich nicht bestreiten: Die Kirche wird vielfach zum produktiven Ärgernis. Ob der Abstand zwischen theologischem Selbstverständnis und Realität jedoch insgesamt produktiv gelebt wird und damit letztlich auch aufgehoben wäre, bleibt näher zu prüfen.

Konsequenzen der Veränderungen in Staat und Kirche

Jedenfalls gibt es in gewachsenem Maß eine gewisse Fremdheit zwischen Staat und Kirche, wenn auch nicht so, dass Schuldzuweisungen oder moralische Bewertungen rasch möglich wären. Ich will an die Eingangsbeispiele erinnern und einige Problemfälle benennen, die besonders kennzeichnend sind. Sie zeigen, dass es trotz gegenwärtig stabiler Verhältnisse auf der Ebene der Verfassung im einfachrechtlichen Bereich und dem ihm vorgelagerten Bereich der öffentlichen Meinungsbildung nicht wenige Verschiebungen gibt.

- Die Bildungspolitik ist weithin Angelegenheit der Länder. Betrachtet man neuere Entwicklungen auf dieser Ebene wie auch auf der Ebene des Bundes - ich nenne als Beispiel das von der Bundesbildungsministerin und dem bayerischen Wissenschaftsminister initiierte sogenannte "Forum Bildung" -, so springt in die Augen, dass der Wissens- und Bildungsbegriff, der heute tonangebend ist, immer weniger in der Tradition des Deutungswissens steht und immer stärker auf wirtschaftliche Verwertungs- und Anschlussfähigkeit abhebt. Die Kirche kritisiert eine ökonomiebestimmte Engführung der Bildungsdebatte und betont solche Bildungsinhalte, die für direkte Verwertungsinteressen ungeeignet, aber darum für den Menschen noch lange nicht wert- und bedeutungslos sind. Sie hat ihre Kompetenz im Bereich der großen Menschheitsfragen nach dem Wohin und Woher und Warum des Lebens; dementsprechend verliert sie mit dem Zurücktreten dieser Fragen an Möglichkeiten der Mitwirkungen.

Auch wenn die Einführung von LER in Brandenburg wohlgemerkt nicht als bösartige Attacke auf die Kirche missverstanden werden sollte, sondern - nach dem Anspruch des Landes - als Versuch eines konstruktiven Vorgehens in einer "entchristlichten" Gesellschaft anerkannt werden möchte, ist sie im Kern die Verlagerung des Religiösen aus dem Bereich der persönlichen Entscheidung und ihrer intellektuellen Durchdringung in den Bereich der Information über Orientierungsmöglichkeiten; also wieder eine Änderung des Wissensverständnisses.
Es ist gewiss richtig, gegen LER Verfassungsbeschwerde einzulegen. Gleichwohl bleibt unabhängig vom Ausgang des Prozesses das tieferliegende Problem erhalten, welches Wissen und welche Bildung der Staat anbieten will und muss - und ob dies längerfristig mit dem typisch kirchlichen Orientierungswissen vermittelbar ist.

Dabei schafft die geänderte Bevölkerungsstruktur - vor allem die breite Präsenz des Islam - zusätzliche Herausforderungen schulorganisatorischer und finanzieller Art. Es ist noch nicht klar, ob diese zur Schwächung des Religionsunterrichts beitragen, weil sie die Frage nähren, ob und wie das Christentum "privilegiert" sei. Das Urteil über das Kruzifix im Klassenraum kann jedenfalls als Indiz dafür gewertet werden, dass die negative Religionsfreiheit - also der Schutz vor Vereinnahmung durch andere - einen gewachsenen Stellenwert hat, wodurch sich die Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf der praktischen Ebene durchaus ändern.

- Genauso zeigt die Sozialpolitik im weitesten Sinn des Begriffs Anzeichen für teils tiefgreifende Änderungen der Partnerschaft zwischen Kirche und Staat. Die Privatisierung sozialer Dienstleistungen und die wettbewerbliche Reorganisation beispielsweise des Gesundheitssektors bringen z.B. die kirchliche Caritas unter einen oft heilsamen, nicht selten aber hochproblematischen Rationalisierungsdruck. Heilsam ist dieser Druck, weil er viele Träger sozialer Einrichtungen zwingt, sich gegenüber modernen Führungsmethoden zu öffnen und sich stärker auf die unterschiedlichen Bedürfnisse derjenigen einzustellen, die auf ihre Dienste angewiesen sind. Problematisch ist dieser Druck gleichzeitig, weil es für die Einrichtungen schwieriger wird, ihr spezifisches Profil zu bewahren, zumindest wenn damit Kosten verbunden sind, die die Kostenträger bei einer stärker wettbewerblichen Steuerung der Dienste häufig nicht mehr erstatten. Die europäische Integration wird dazu führen, dass sich die sozialen Dienste, für die auf gesetzlicher Grundlage eine Regelfinanzierung besteht, weiter dem Markt öffnen müssen. Die Caritas muss die Doppelaufgabe leisten, einerseits auf diesem härter werdenden Markt zu bestehen und andererseits für die da zu sein, die wirklich arm und in Not sind, von privatwirtschaftlich organisierten sozialen Dienstleistungen aber nicht erreicht werden können.

Ähnliches zeigt sich z.B. auch im Lebensschutz. Der Mensch scheint gerade in seiner frühesten Lebensphase nur schwer in den Genuss staatlich verbürgten Schutzes kommen zu können. Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika "Evangelium vitae" gezeigt, wie in einer dialektischen Entwicklung gerade das historische Wachsen einer Bindung an die Menschenrechte aller dazu führte, dass "Autonomie" und "Stärke" Werte sind und Abhängige und Schwache mehr und mehr an den Rand geraten.

Gewiss stehen Politik und Kirche oft zusammen für restriktive Regelungen beim Lebensschutz ein, wofür bereits das (im Zuge der Wissenschafts- und Wirtschaftsentwicklung freilich problematisierte) Embryonenschutzgesetz als Beispiel gegeben wurde. Bisweilen gibt es aber auch Irritationen, wie z.B. die Frage der gesetzlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs zeigt.
Insgesamt ist wohl die Partnerschaft zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat in diesem großen Feld des Lebensschutzes eher "gespalten". (Genau dies zeigt auch der Bereich der Ehe- und Familienpolitik, der im eingangs erwähnten Beispiel der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften besprochen ist.)

- Schließlich nenne ich noch den Finanzbereich, weil das Wirken der Kirche stark mitbestimmt wird von ihren finanziellen Möglichkeiten. Ohne Kirchensteuereinnahmen müsste sie den Umfang ihrer seelsorglichen und sozialen Präsenz zu Lasten der Gläubigen und zu Lasten der Gesellschaft erheblich einschränken. Die deutschen Bischöfe halten deshalb am geltenden System der Kirchenfinanzierung fest. Diese kommt freilich in Zeiten einer wachsenden Verlagerung staatlicher Einnahmen auf den Bereich der indirekten Steuern unter Druck, da ja die Kirchensteuer an die Lohn- und Einkommenssteuer gekoppelt ist.
Daher sind wir erleichtert, dass das Defizit im Rahmen der Steuerreform nun geringer ausfallen wird als bislang erwartet. Längerfristig beunruhigend ist jedoch vor allem die Wahrscheinlichkeit, dass finanz- und wirtschaftspolitische Reformerfordernisse - insbesondere die Entlastung der Wirtschaft - in einer Weise umgesetzt werden, die spürbar zu Lasten der Kirche gehen und deren Möglichkeiten schmälern könnte.

Alle Beispiele weisen darauf hin, dass Staat und Kirche bei aller verfassungsrechtlichen Kontinuität eine Neubestimmung ihrer Zusammenarbeit und Partnerschaft erleben. Ich wiederhole: Es sind nicht in erster Linie Animositäten gegen Glaube und Kirche, sondern generelle Entwicklungsströmungen, die unterhalb des Verfassungsrechts zu Änderungen in den Beziehungen führen: die Pluralisierung der Gesellschaft, die Mehrung des wirtschaftlichen Wettbewerbs, die Verschiebung der Staatsfunktionen, die Stärkung der internationalen und supranationalen Bündnisse. Es gäbe viele weitere Beispiele.

Wie kann die Kirche - auch angesichts der neuen Situation - Partnerin in politischer und gesellschaftlicher Verantwortung bleiben?

Ist am Ende eine infolge der gesamtkulturellen Entwicklung mitgliederärmere und gesellschaftspolitisch weniger prägende Kirche eine Partnerin stark geminderter Bedeutung, so dass schließlich auch der religionsfreiheitliche Kern der Verfassung ins Wanken kommen könnte? Darüber soll hier nicht spekuliert werden. Vielleicht ist aber eine kirchliche Doppelstrategie hilfreich, die sowohl im kirchlichen als auch im staatlichen Interesse zu liegen scheint.

- Das Erste und Wichtigste ist wohl, dass sich die Kirche nicht im Ü;bermaß von der Sorge bestimmen lässt, ob sie für den Staat "Relevanz" hat und in seinem Sinn "anschlussfähig" ist. Sie steht sonst in der Gefahr, sich durch ihre Anpassungsbestrebungen selbst zu säkularisieren. Je stärker die Christen das Eigene der Kirche zur Geltung bringen, d.h. den Glauben an die unverbrüchliche Treue Gottes zu den Menschen und zu seiner Schöpfung leben und die darauf gründende Hoffnungskraft und Freiheit zur Geltung bringen, desto besser. Jeder könnte eigene Geschichten erzählen, die zeigen, dass letztlich nur Glaube, Hoffnung und Liebe der Kirche das Aussehen verleihen, das sie ansehnlich macht, Neugier und Interesse weckt und zu einer Zusammenarbeit mit ihr einlädt. Generell gilt: Die Kirche sollte sich nicht als nützliche Nicht-Regierungs-Organisation missverstehen!

- Das Zweite ist - modern ausgedrückt - eine konsequente Qualitätssicherung, die sich Maßstäbe und Wettbewerbsbedingungen durchaus auch von außerhalb vorgeben lässt. Eine schlampige Seelsorge, flacher Religionsunterricht, mittelmäßige Caritasarbeit, intellektuelle Anspruchslosigkeit in der geistigen Auseinandersetzung, vor allem auch im politischen Diskurs, wären der Kirche abträglich, ja nach innen und außen schädlich. Sie muss die gesellschaftlichen Entwicklungen und Zusammenhänge möglichst gut wahrnehmen und verstehen. Nur dann hat sie eine Chance, wach und zielsicher zu handeln und ihr Eigenes so zu sagen, dass die Menschen es verstehen.

Angstfreie Profilierung des Eigenen und wettbewerbsfähige Qualitätssicherung: Diese Verbindung verschiedener Verhaltensweisen werden gewiss Fremdheiten nicht überwinden und die Probleme nicht vollständig lösen, die die Partnerschaft zwischen Staat und Kirche erschweren. Aber sie helfen, dass die Kirche als ein Ort erfahren wird, ohne das menschliches Zusammenleben in Deutschland und Europa vermutlich sehr viel schlechter möglich wäre. Das Katholische Büro Erfurt hat seine Bestimmung nicht zuletzt darin, "die" Politik - konkrete Menschen - mit dieser Kirche, verstanden als (im Glauben begründeter) Ort der Erleichterung menschlichen Zusammenlebens, in Verbindung zu bringen. Dass dies in zehn Jahren so gut gelungen ist, dazu gratuliere ich. Dass es weiterhin so bleiben wird, das wünsche ich Ihnen von Herzen.

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