Bischof Joachim Wanke
Vortrag von Bischof Joachim Wanke an der Universität Jena
Am kürzesten könnte in das Thema meines Vortrags eine - zugegebenermaßen - anachronistische Ü;berlegung einführen, die Frage nämlich, ob ich als Bischof bereit wäre, Elisabeth als Caritasdirektorin einzustellen.
Ich zögere, darauf eine schnelle Antwort zu geben. Nicht, weil Elisabeth eine Frau ist. Es gibt, so meine ich, in manchen Diözesen Frauen in diesem Amt. Ich zögere, weil ich nicht sicher wäre, was dann passieren würde. Ist Elisabeths christliche Radikalität eine Empfehlung für einen solchen Posten? Würde sie nicht angesichts konkreter Not die Ressourcen eines Sozialverbandes schneller aufbrauchen als ein Bischof bzw. sein Finanzdirektor denken kann? Elisabeth als Caritasdirektorin - in der Tat: Das wäre eine heilige Provokation.
Heiligenleben als Herausforderung
Aber lassen wir diese gottlob nur hypothetische Ü;berlegung. Doch eben das ist das Problem: Die Kirche trägt in ihren Heiligen genau den Sprengstoff mit sich, der ihre jeweiligen Zeitangepasstheiten und ihre menschlich-allzumenschlichen Seelsorgestrategien immer wieder aufsprengt und durcheinander wirbelt. Das merkt man selbst bei der Feier dieses Gedenkjahres der hl. Elisabeth anlässlich ihres 800. Geburtstages: Bei aller Freude, mit dieser Heiligen bei Christen und Nichtchristen Sympathiepunkte einsammeln zu können, ist da auch eine gewisse Verlegenheit, wenn es an Einzelheiten ihrer Biographie geht.
Meist haben wir ja das mehr oder weniger romantische Bild einer Elisabeth vor Augen, die sich als warmherzige Landesfürstin der menschlichen Not erbarmt. Diese Elisabeth hat uns besonders das 19. Jahrhundert vor Augen gestellt. Die Bilderfolge zu den Werken der Barmherzigkeit von Moritz von Schwindt auf der Wartburg ist ein besonders ansprechendes Beispiel dafür.
Aber wie steht es mit den sperrigen Zügen In Elisabeths Biographie? Wie verständlich ist ihre harte Askese? Ihre Selbstgeißelung? Ihre freiwillige Unterordnung unter Konrad von Marburg? Ihr Loslassen der Kinder (selbst wenn man in Rechnung stellt, dass sie so für deren standesgemäße Erziehung Sorge trug)? Man mag dafür manche erhellende Erklärungen zur Hand haben, etwa aus der Frauenfrömmigkeit der Beginen und aus der frühen franziskanischen Armutsspiritualität. Dennoch bleibt ein harter, unverständlicher Kern an Fremdheit.
Ich nehme nur als ein besonders drastisches Beispiel, das eine Dienerin aus der Zeit nach dem Weggang Elisabeths von der Wartburg zu Protokoll gab:
"Eine ziemlich alte und kranke Frau, die oft von Elisabeth spezielle Arznei erhalten hatte, begegnete Elisabeth bei deren Weg zur Kirche an einer engen Wegstelle, wo zum Ü;berqueren des tiefen Schmutzes Steine gelegt waren. Die Alte aber wollte nicht ausweichen und stieß Elisabeth in den Schmutz, dass sie hinfiel und alle ihre Kleider beschmutzt wurden. Elisabeth ertrug dies geduldig, erhob sich lachend und wusch mit Freude ihre Kleider" (nach O. Reber, Landgräfin und Heilige, 122).
Reinhold Schneider hat in seinem Essay "Elisabeth von Thüringen" (1997 im Insel Verlag neu aufgelegt) geurteilt: "Sie (sc. Elisabeth) ist eine in gewisser Hinsicht befremdende, bestürzende Existenz." (Schneider 14). Man muss diese Heilige in der Tat zunächst einmal in ihrer Fremdheit stehen lassen. In jeder Heiligenbiographie, ja in jedem wirklich authentisch christlichen Leben zeigt sich, dass hier jemand aus einem den Alltag überschreitenden Horizont heraus agiert, aus dem Gotteshorizont. Elisabeth ist letztlich nur zu verstehen, wenn man ihre Christusmystik als Quellgrund ihrer Menschenliebe zu würdigen weiß.
Die Entschiedenheit, mit der Elisabeth den Weg der Christusnachfolge ernst nahm und für sich im eigenen Leben konkret werden ließ, ist sicher eine bleibende Anfrage an unsere meist "wohltemperierte" christliche Lebenspraxis. Aber sie ist eben auch eine Herausforderung, ja eine Provokation für nichtchristliche Menschen. Und da ich als Bischof mich in eine solche weithin nichtchristliche Gesellschaft hineingestellt sehe, möchte ich in meinem Vortrag gerade diese Herausforderung ein wenig entfalten.
Hat Elisabeth auch eine Botschaft für Nichtchristen?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Christen bekanntlich eine Minderheit bilden. Die Kirche ist mit ihrer Botschaft eine Stimme unter vielen anderen Stimmen. Interessant ist freilich, dass Gedenkjahre christlicher Persönlichkeiten durchaus auch das Interesse der nichtchristlichen Öffentlichkeit in Thüringen finden. Das haben die Beispiele der letzten Jahre gezeigt, etwa das Gedenken an Johann Sebastian Bach (2000), an Martin Luther (2001), an Meister Eckardt (2003), an Bonifatius (2004), an Radegundis (2006). Es ist also nicht ungewöhnlich, dass über Elisabeth, die ja gleichsam eine Identifikationsfigur für Thüringen darstellt, in diesem Jahr in der Öffentlichkeit viel geschrieben, gesprochen und auch künstlerisch vermittelt wird. Das Programm des Gedenkjahres ist reich gefüllt, beileibe nicht nur durch Beiträge der Kirchen. Dabei sei besonders die derzeitige Landesausstellung des Freistaates Thüringen in Eisenach "Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige" hervorgehoben.
Ich brauche hier nicht über Elisabeths Biographie oder die spätere Elisabethverehrung informieren. Dazu gibt es gute Quellen und Darstellungen. Meine Ü;berlegungen gehen in eine andere Richtung. Sie entzünden sich an der Frage: Wie mögen Menschen, die keinen inneren Zugang zum christlichen Glauben haben, das Leben dieser Frau bewerten? Hat dieses Leben auch für sie eine Botschaft? Es war ja ein durchaus intensives, aber doch kurzes Leben von nur 24 Jahren, spannungsreich und - selbst wenn man mittelalterliche Lebensverhältnisse voraussetzt - voller Entbehrungen und Verzichte.
Ich habe jüngst das Buch des Bamberger Soziologen Gerhard Schulze "Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde" (2006) gelesen, ein Buch, das sich als Loblied auf eine "Moral der Selbstentfaltung" versteht. In scharfer Kontraststellung, ja geradezu in einer Karikatur christlicher Moralvorstellungen preist Schulze als Alternative den Willen zum selbstbestimmten, "schönen" Leben. Es sei für den Westen und seine Wertvorstellungen wichtig - so der Autor - , das Augenmerk auf das Privatleben zu lenken und es als Quelle des Selbstbewusstseins zu erschließen. Das Leben dürfe kein "Vorspiel" sein (wie für den mittelalterlichen Menschen), sondern dieses unser irdisches Leben müsse die Hauptsache bleiben, die sinngebende Größe schlechthin.
Schulze predigt sicher nicht einfach einen primitiven Hedonismus. Es geht ihm um menschliche Selbstentfaltung, um Steigerung des Lebensgenusses, und dazu gehört nach ihm durchaus auch Verantwortung, auch ggf. der Verzicht und die Selbstbegrenzung - aber eben um einer gesteigerten Selbsterfahrung willen. Sicher: Schulze weiß auch, dass es nicht einfach ist, dann noch Wünsche zu haben, wenn man sich alle erfüllen kann. Er kann in seinem Buch die Paradoxien und Ungereimtheiten des modernen Lebens sehr amüsant beschreiben. Doch bleibt es dabei: Für ihn kann nur der Mensch selbst die einzige Quelle einer Ethik der Moderne sein, alles andere sei Fremdbestimmung und führe in falsche Abhängigkeit, ja das führe zu Fanatismus und Gewalt gegen andere. Dieser Verdacht eines latenten Fundamentalismus gegenüber einer sich christlich verstehenden Lebensführung wird heute immer wieder geäußert.
Ob dieser Autor etwas mit dem Leben der hl. Elisabeth anfangen kann? Ob er ihr dem Dienst am Nächsten geweihtes Leben als gelungenes, als "geglücktes Leben" ansehen könnte? Ich vermute einmal: nein. Und viele Zeitgenossen, die keinen Zugang zur Gotteswirklichkeit haben, werden wohl auch auf das kurze Leben dieser jungen Frau mit einem gewissen Bedauern schauen und sich denken: Sie hat ja nichts vom Leben gehabt. Eigentlich schade um dieses Leben! Sie hätte wohl mehr an sich als an andere denken sollen!
Und damit berühren wir eine der Herausforderungen, die das Leben dieser Heiligen dem heutigen, säkularen Denken stellt: Wie kann das gehen - sich innerlich ganz an Gott zu binden und dabei frei zu werden? Wie ist das möglich - nicht vordergründig nach sich und seinen Lebenswünschen zu fragen und dennoch glücklich zu sein? Ich erinnere hier an das von Elisabeth überlieferte authentische Wort: "Wir müssen die Menschen froh machen!" Welche Freude mag hier gemeint sein?
Elisabeths Biographie konfrontiert mit der Frage, aus welchen Quellen sich das Selbstverständnis des Menschen letztlich speist. Gibt es wirklich nur die Alternative: Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung? Aufgezwungene Moral, zumindest von außen her auferlegte Moral einerseits, und "Ethik der Selbstentfaltung" andererseits, eine Lebenssicht, die sich in einer nur irdischen, ausschließlich innerweltlichen Sicht des menschlichen Daseins erschöpft? Die Elisabeth-Biographie provoziert geradezu, nach dem zu fragen, "was Leben gelingen lässt".
Aus welchen Quellen lebt der Mensch?
Wer Elisabeth von Thüringen ehren und ihrer gedenken will, muss die ganze Elisabeth in den Blick nehmen. Und dazu gehört nicht nur ihre barmherzige Zuwendung zu den Armen und Kranken, dazu gehört nicht nur ihr Ausbrechen aus Standesschranken und ihre Kritik an der Ungerechtigkeit damaliger gesellschaftlicher Verhältnisse - dazu gehört auch ihr Leben in einer durchhaltenden, tragenden Gottesgegenwart, in einer intensiven Christusfrömmigkeit. Die entsprechenden Hinweise in ihrer Biographie sind eindeutig und überzeugend belegt. Um noch einmal Reinhold Schneider zu zitieren: "Sie steht nicht allein in der Landes-, sondern in der Weltgeschichte, und zwar an bedeutender Stelle; und sie steht in der Heilsgeschichte" (Schneider 14).
Jedes Heiligenleben ist eine Anfrage an die "Gottesamnesie", die Gottesvergessenheit unserer Gegenwart. Es gibt ohne Zweifel so etwas wie eine "Schwerhörigkeit" unserer Gesellschaft gegenüber der Gotteswirklichkeit. Das Verfügungswissen der Menschheit erfährt eine ungeheure, kaum noch überschaubare Ausweitung, aber gleichzeitig kommt es in der Breite der Gesellschaft zu einem Verlust an unbedingten Ü;berzeugungen. Der Diskurs der Ansichten und Meinungen läuft wie ein Endlosband, aber dieser Diskurs kommt zu keinem Ergebnis, zumindest nicht zu einem Ergebnis, das als tragfähiger Grund für eine gemeinsame Zukunftsvision dienen könnte. Der polnische Satiriker Jerzy Lec hat es einmal auf die Formel gebracht: "Wer alles durchschaut, sieht am Ende gar nichts mehr."
Wer auf eine Heiligenbiographie schaut, fängt an, etwas zu sehen. Er sieht die positive Option einer Ü;berzeugung, dass der Mensch nicht zufällig, klein und unbedeutend ist, sondern dass er in einen unendlichen Horizont hineingestellt ist. Jean Paul Sartre hat einmal mit seinen atheistischen Augen, die manchmal schärfer sehen als christliche, den Unterschied zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden sinngemäß so auf den Punkt gebracht: Der Atheist sei gehalten, seinen Lebenssinn im immer neuen Einsatz für eine menschlichere Welt zu suchen, wahrlich - eine Sysiphusarbeit. Der Christ dagegen, so meint Sartre, habe es leichter: Er sei an sein eigenes, ganz persönliches Leben verwiesen, durch das er Gott verherrlichen solle (nach R. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 2007, 248). Ich möchte hinzufügen: Natürlich auch durch den Einsatz für eine bessere Welt, wie viele Heiligenbiographien bezeugen, aber - und das ist der kleine Unterschied - eben nicht nur dadurch. Das erklärt, warum Heilige an der unvollkommen bleibenden Welt nie verzweifelt sind.
Das christliche Menschenbild stützt sich auf das biblische Wort: "Gott schuf den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn" (Gen 1,27). Die Würde des Menschen leitet sich nach christlicher Ü;berzeugung aus seiner Gottebenbildlichkeit ab. Keinem anderen Wesen hat gemäß der bildhaften Sprache der Genesis Gott seinen Atem eingehaucht. Diese Gottesverwandtschaft unterscheidet den Menschen vom Tier. Und das verwehrt, den Menschen zur tierischen Spezies zu zählen.
Von Immanuel Kant wird diese kleine Episode überliefert: In den letzten Tagen seines Lebens besuchte der Arzt den kranken Philosophen. Der achtzigjährige Kant bemühte sich sofort, sich von seinem Stuhl zu erheben und ihn zu begrüßen. Der Arzt bat hierauf den geschwächten Mann, doch sitzen zu bleiben, worauf Kant verlegen zauderte und mit erzwungener Stärke sagte: "Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen." Diese Äußerung rührte den Arzt fast zu Tränen.
Diese Szene bringt in aller Schlichtheit zum Ausdruck, was Ehrfurcht vor menschlicher Würde meint. Die gewohnte Reverenz vor dem Mitmenschen, die sich der todkranke Kant nicht nehmen ließ, ist meines Erachtens ebenso bedeutsam wie seine schriftlich festgehaltene Ü;berzeugung, nach der man im Krieg nie Handlungen begehen dürfte, die eine spätere Versöhnung unmöglich machen würden. Hier sieht man die Spannweite dessen, was wir christliches Menschenbild nennen, aber man sieht auch, was wir inzwischen verloren haben.
Matthias Claudius, der liebenswürdige Autor des "Wandsbecker Boten", schrieb einmal: "Der Mensch ist der erste und wichtigste Buchstabe von allen." Dies scheint eine einfache Erkenntnis zu sein, in vielen Varianten in Philosophie, Literatur und Kunst wiederholt. Aber wie kann man an dieser Erkenntnis nachhaltig festhalten? Die Heiligenbiographien können uns dabei helfen.
Heilige - Menschen mit einer Antwort
Der Heilige verkörpert durch sein Leben und noch mehr durch das Loslassen seines Lebens am anschaulichsten die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Freilich bedarf das herkömmliche Heiligenbild einer tief greifenden Revision. Es muss mit neuen Augen angeschaut werden, da es dem Heiligen um ein Geheimnis geht, dessen man nie ganz habhaft wird. Nach der traditionellen Auffassung hat der Heilige die Tugenden im heroischen Maß geübt und sich durch Wundertaten als heilig ausgewiesen. Das Ideal des Heroischen geht auf die Renaissance zurück, die es von der Antike übernommen und dem Barockzeitalter weitergegeben hat. Dies ist jedoch eine sehr einseitige Heiligenvorstellung.
Bedeutsamer ist das andere, von der spanischen Mystik herkommende Heiligenverständnis, nach dem der Heilige durch eine besondere Gottesnähe gekennzeichnet ist. Heilige verwirklichen "das hohe Bild einer christlichen Größe in Lumpengestalt", wie es einmal die Fürstin von Gallitzin bei einem Gespräch in ihrem "Münsterkreis" ausgedrückt haben soll, wie Johann Georg Hamann berichtet hat.
Heilige sind Menschen mit einer Antwort. Sie sind Salz der Erde und gehören zu den sechsunddreißig Gerechten, um deretwillen nach einer jüdischen Legende Gott die Welt erhält.
Walter Nigg, der reformierte Pfarrer und Schriftsteller, der sich sein Leben lang um die Erschließung von Heiligenviten gemüht hat, drückte es einmal so aus:
"Eine unbekannte Welt tut sich auf, wenn man den Heiligen begegnet. Neue Dimensionen setzen einen in maßloses Staunen. Der menschlichen Sprache fehlen die Worte, um deren Größe zu umschreiben. ... Mit ihrer außerordentlichen Existenz stehen (die Heiligen) über Königen und Philosophen. ...Bei den Heiligen widerfahren einem fortwährend die unerwartetsten Ü;berraschungen."
Natürlich weiß Nigg, dass Heilige auch Menschen mit Fehlern sind. Die Heiligen selbst besaßen ein überscharfes Gefühl für ihr Versagen. Man sieht ja nur in der Nähe des Lichtes, wie dunkel Schatten sein können. Deshalb, so meint Walter Nigg, gilt für die Heiligen:
"Es ist die Gottesnähe, und weder die asketische Rekordleistung noch die Kraft Wunder zu tun, oder gar die mystische Begnadigung, welche das abschließende Kennzeichen des Heiligen ist.... Die unwiderstehliche Anziehungskraft, welche der Heilige auf die Menschen ausübt, fließt aus dem Mysterium seiner Gottesnähe.....Aus diesem einzigartigen Eindruck, den der Heilige allezeit auf die Menschen gemacht hat, ist der begreifliche Ausruf Bloy?s hervorgegangen, dass es für den Christen nur einen Schmerz gebe, kein Heiliger zu sein" (W. Nigg, Große Heilige, Zürich-Stuttgart 1966, 9 und 19f).
Heiligengedenken in nichtchristlicher Umwelt
Ich bin mir bewusst, dass vermutlich viele Menschen hier im Land mit dem Attribut "heilig" wenig anfangen können. Das hat nicht nur etwas mit dem vergangenen Zurückdrängen der Heiligenverehrung in der evangelischen Frömmigkeit zu tun, sondern mehr noch mit einem Säkularismus, der mit Gott und einer religiösen Lebenspraxis wenig oder überhaupt nichts anfangen kann.
Nur nebenbei sei angemerkt: Ökumenisch hat sich das Verständnis für Heiligenverehrung zwischen den Kirchen durchaus angenähert. Ein gemeinsames katholisch-lutherisches Konsenspapier von Theologen "Communio Sanctorum. Kirche als Gemeinschaft der Heiligen" (2000) formuliert: "Die römisch-katholische und die evangelisch-lutherische Kirche stimmen darin überein, dass man die Heiligen ehren soll" (230). Die vielen erfreulich Aktivitäten im Elisabethjahr in der Landeskirche Thüringen bekräftigen diesen Satz eindrücklich.
Bei aller inneren Fremdheit vieler Menschen dem Phänomen der Heiligkeit gegenüber sollten wir bedenken: Die ungetauften Menschen in Thüringen und Sachsen sind beileibe nicht alle bekennende Atheisten. Die kirchenfernen Leute um uns herum haben, wie ich meine, ein ambivalentes Interesse an den christlichen Wurzeln ihrer Heimat. Als in einem der Dörfer in der Nähe von Erfurt vor einigen Jahren eine Kirche abbrannte, haben sich alle Einwohner des Ortes, auch jene, die von der Kirche ansonsten keinen Gebrauch machen, für den Wiederaufbau "ihrer" Kirche eingesetzt. Christoph Kähler und Axel Noak, die evangelischen Bischöfe von Thüringen und Sachsen-Anhalt, haben mir dieses Interesse von Nichtchristen am Erhalt der Gotteshäuser als durchgängiges Phänomen immer wieder bestätigt. Und das ist erfreulich.
Dennoch bleibt festzuhalten: Wir gedenken einer Heiligen der ungeteilten Christenheit in einem Land, das vom Phänomen einer verbreiteten religiösen Indifferenz gekennzeichnet ist. Es ist, als ob hierzulande viele Zeitgenossen eine Art "Sprachverlust" erlitten haben. Sie sind nicht mehr in der Lage, bestimmte menschliche Grunderfahrungen in religiösen Worten oder Zeichen auszudrücken. Christlich-kirchliche Vokabeln sind für sie wie "Chinesisch". Warum das so ist, ist nochmals eine eigene Frage.
Ich komme dabei noch einmal auf den von Gerhard Schulze geäußerten Verdacht zurück, den manche nichtreligiöse Zeitgenossen gegen den christlichen Gottesglauben haben: Der Glaube mache unfrei. Er verdüstere das Gemüt und verhindere gelingendes Leben.
Wie kann man darauf antworten? Mit Worten? Mit Argumenten? Ich meine: Die beste Antwort ist eine Biographie wie die der hl. Elisabeth. Ihr Leben ist wie eine Illustration einer Freiheit, wie sie nur die "Kinder Gottes" haben können.
Wie ist diese "Freisetzung aus dem Gottesglauben" zu verstehen?
Die Freiheit der Kinder Gottes - das Lebenselixier der Heiligen
Es ist ein uralter Streit, ob der Mensch wirklich frei ist oder mehr oder weniger nur in Natur und Gesellschaft vorgegebenen Antrieben folgt. Neuerdings wollen uns ja wieder die Neurowissenschaften einreden, dass Freiheit nur eine Illusion sei. Wie dem auch sei: Wir Menschen nehmen uns die Freiheit - und wissen manchmal nicht, wann es genug ist. Wir könnten auch sagen: Gott gibt uns die Freiheit - aber wir machen nicht immer guten Gebrauch von ihr.
Die Freiheit ist unsere Würde, aber sie ist auch unsere Last.
Wir leben und bewegen uns heutzutage viel freier als früher. Das ist zunächst einmal ein großes Geschenk. In einer Fernsehsendung konnte man einmal miterleben, wie eine Familie längere Zeit so zu leben versuchte wie eine Bauernfamilie im Schwarzwald vor hundert Jahren. Diese Familie ist, so wurde später berichtet, gern wieder in das heutige Leben zurückgekehrt. Es gab früher viele Zwänge, denen keiner wieder ausgesetzt sein möchte.
Dennoch ist es eine Illusion zu meinen, wir seien in jeder Hinsicht völlig frei. Auch das moderne Leben hält viele Zwänge für uns bereit, etwa, wenn einer keine Arbeit hat. Die -zig Automarken, unter denen ich heute wählen kann, helfen mir bei einem klammen Geldbeutel auch nicht weiter. Und wem nützen großartige Urlaubsmöglichkeiten, wenn er den Euro in der Tasche umdrehen muss oder wenn ihn Krankheit oder Sorge um Angehörige fest anbindet.
Zum heutigen Leben gehört auch diese Erfahrung: Ich kann nicht nur entscheiden - ich muss mich entscheiden. In unserer komplizierten, unübersichtlichen Welt ist das nicht einfach, ja oftmals eine Last.
Dennoch: Wir möchten die heutigen Freiheitsmöglichkeiten nicht missen. Mit Recht haben Generationen vor uns um sie gekämpft - oft unter schweren Opfern. Wir im Osten Deutschlands sind froh, in unserer Generation den Ü;bergang vom Ideologiestaat in eine freie Gesellschaft erlebt zu haben. Freiheit ist ein großartiges Geschenk. Nur in Freiheit kann der Mensch gedeihen, übrigens auch religiös. Freiheit gehört zu unserer Würde.
So gilt: Wir sind von Gott zur Freiheit befreit
Die Klagen über zunehmenden Missbrauch von Freiheit sind sehr beliebt. Ich antworte darauf: Solche Klagen helfen nicht. Vermutlich stimmen sie auch nicht. Zumindest gab es auch früher Missbrauch von Freiheit. Freilich stützten früher mehr als heute gesellschaftliche Gepflogenheiten den Einzelnen, auch den einzelnen Christen. "Man macht das eben so!" Oder: "Man tut das nicht!" Etwa: Man heiratet und lebt nicht einfach ohne Trauschein zusammen. Es gab unhinterfragte gesellschaftliche und auch kirchliche Selbstverständlichkeiten.
Heute sind solche Selbstverständlichkeiten Mangelware geworden. Darin besteht für Christen die Herausforderung der Stunde. Ein Christ muss heutzutage immer neu, weithin auf sich allein gestellt, in Glaubensdingen persönliche Entscheidungen treffen. Darin ist auch unser Leben als Christ in gewissem Sinne modern geworden. "Soll ich heute beten - oder soll ich nicht?" - "Soll ich den Gottesdienst besuchen - oder lasse ich es?" - "Sagen wir Ja zum ungeborenen Kind, auch wenn es uns jetzt nicht in die Lebensplanung passt - oder verweigern wir uns dem werdenden Leben?"
Ich habe die Freiheit, so oder so zu handeln. Keiner kontrolliert mich. Keiner nimmt an meinem Verhalten Anstoß. Die Gesellschaft sagt: "Das musst du mit dir selbst ausmachen. Bestraft wirst du nur, wenn du einem anderen in die Quere kommst - oder wenn du vergisst, deine Steuern zu zahlen!"
Das ist unsere Situation. Ich meine: Sie ist für echtes Christentum nicht die schlechteste. Der geweitete Freiheitsraum hilft unserem Glauben aus den Kinderschuhen. Glaube wird eigene Entscheidung und Tun, und deshalb echter und glaubwürdiger. Freiheit drückt unserem Glauben das Qualitätssiegel auf.
Der Schöpfer hat den Menschen mit Freiheit ausgestattet, weil nur ein freies Ja des Geschöpfes Glauben und Vertrauen Gott gegenüber wertvoll machen. Wer hat schon Geschenke gern, die gedankenlos oder nur aus Gewohnheit heraus oder gar erzwungen gemacht werden! Solche Geschenke haben keinen wirklichen Wert. In der Liebe gibt es keinen Zwang. Aber es gibt in ihr frei gewollte Bindung. Das ist wie beim Bergsteigen: Ein Kletterseil bindet. Aber es ermöglicht auch, neue Horizonte zu gewinnen. Aus einer Bindung kann neuer Freiraum erwachsen. Darum ist mir das Wort des Apostels Paulus so wichtig: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" (Gal 5,1). Wer sich geliebt weiß, hat keine Angst vor Freiheit.
Darum kommt alles auf das richtige Gottesbild an. Für mein Gottesbild ist wichtig: Gott straft nicht. Aber er lässt um unserer Freiheit willen Folgen zu. Positiv gesprochen: Was wirklich zählt, ist eine Freiheit, die sich um der Gottes- und Nächstenliebe willen selbst bindet. Jetzt haben wir den Kern der geistlichen Biographie der hl. Elisabeth berührt. Das ist - so meine ich - ihre Botschaft an uns Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Was Zukunft eröffnet, ist die immer neue Einübung in die "Freiheit der Kinder Gottes"
Heute bemühen sich merkwürdigerweise auch nichtreligiöse Menschen wieder um das Fasten, um das "downshifting"! Sie sind bereit, "einen Gang zurückzuschalten". Sie wollen sich Freiräume zurückerobern, die ihnen beispielsweise eine exzessive Werbung genommen hat. Manche staunen dann, dass sie doch von zwanghaften Gewohnheiten loskommen. Sie entdecken: "In mir steckt mehr, als ich wusste!" "Ich bin freier, als ich meinte!" "Ich tauge zu mehr, als ich dachte!" Aus der Selbstbeschränkung erwächst eine Selbstüberschreitung.
Ich erinnere noch einmal an das Buch von Gerhard Schulze, das ich eingangs erwähnte. Ihm ging es auch um Selbstüberschreitung des Menschen in neue Dimensionen der Selbsterfahrung hinein. Freilich: Bei diesem Autor bleibt der Mensch auf sich selbst angewiesen. Er hat niemanden, der ihn herausfordert, der ihn lockt, der ihm neue Horizonte eröffnet. Er kennt nicht den Gott und Vater unseres Herrn, so wie Elisabeth ihn kannte. In der Begegnung mit ihm durfte sie erfahren, dass er das Leben weit machen kann. Dass er Freiheit schenkt, dort, wo gesellschaftliche Konventionen einengen. Dass er den Menschen, der sich um der Liebe willen klein macht, ganz groß werden lässt. Selbstbegrenzung um eines höheren Gutes willen engt nicht ein, sondern setzt frei. Das kann auch ein säkularer Mensch durchaus verstehen.
Schon das Judentum wusste: Das Gesetz Gottes ist kein drückendes Joch, sondern eine Gabe. Wenn man von diesem Bundesgedanken her etwa Jesu Gebot der Gottes- und Nächstenliebe interpretiert, gewinnt es eine neue, befreiende Bedeutung: Es ist dann nicht mehr autoritäre Setzung, sondern Eröffnung eines Lebensraumes. Hans Joas schreibt (Die zehn Gebote. Ein widersprüchliches Erbe? Köln-Weimar-Wien 2006, 183): "Wenn wir der Liebe begegnen, haben wir zwar die Erfahrung der Unbedingtheit, aber doch nicht der Unterwerfung".
Darum ist übrigens so wichtig, die unveräußerlichen Rechte des Menschen nicht bloß als menschliche, etwa staatlich sanktionierte Festlegungen anzusehen (warum sollten sie dann Verbindlichkeit haben?), sondern als vorgängig von Gott gegebene Gabe, deren Annahme und Respektierung erst den Raum einer wahren Selbstverwirklichung eröffnet.
Die folgenden Sätze von Joas aus dem genannten Buch habe ich - obwohl hier nicht von Elisabeth die Rede ist - wie eine hilfreiche Einführung in das Geheimnis ihres Lebens verstanden:
"Wenn aus der Liebe Pflichten folgen, bleiben diese in der Liebe gegründet und werden nicht zu bloßen äußerlichen Pflichten. Deshalb erlebt der Liebende die Beziehung zum Geliebten nicht als Einschränkung seiner Autonomie, sondern als ihre Erfüllung, ja vielleicht erst als ihre Ermöglichung. In dem Maße, in dem wir uns die Beziehung zu Gott als eine wechselseitige Liebe vorstellen, in dem Maß verstehen wir, dass wir durch Gottes liebende Zuwendung, zu der das Liebesgebot gehört, in seiner Folge aber auch die von der Liebe durchdrungenen Gebote im einzelnen, erst freigesetzt werden zu wirklicher Autonomie" ( ebd. 183). Und Joas zitiert zustimmend einen Satz des französischen Denkers Paul Ricoeur, der sagt: "In diesem Sinne erzeugt die Theonomie, verstanden als ein Anruf zum liebenden Gehorsam, die Autonomie, verstanden als Aufruf zur Verantwortung" (ebd.).
Christliches Lebenszeugnis als religiöse Verstehenshilfen für nichtchristliche Zeitgenossen
Es wäre interessant, wenn es unter Katholiken in Deutschland einmal eine religiöse PISA-Studie gäbe, eine Untersuchung nicht darüber, ob wir ordentlich lesen und klug kombinieren können, sondern ob wir begriffen haben, was das heutzutage heißt: Leben aus der Freiheit der Kinder Gottes. Ein Nichtchrist fängt an Elisabeth zu verstehen, wenn er zumindest ansatzweise unter heutigen Menschen, unter uns Christen eine ähnlich von Gott her motivierte Freiheit und eine sich selbst bindende Verantwortlichkeit für andere entdeckt.
Ich nenne in diesem Zusammenhang einmal bewusst eine Haltung, die Glaubende und Nichtglaubende in einer existentiellen Solidarität miteinander verbinden könnte: Die Haltung der Sehnsucht, die sich nicht mit dem Faktischen, dem Vorfindlichen allein zufrieden gibt, sondern sich in größere, weitere Horizonte hinein ausstrecken will.
Wer Gott nicht sucht, der kann ihn nicht finden. Gott liegt nicht auf den Ramschtischen unserer Warenhäuser herum. Er ist kein Billigprodukt. Er ist vielmehr anspruchsvoll. Er ist der ganz Andere. Er kann durchaus verunsichern. Er führt auf ungewohntes Terrain. Aber er führt ins Weite. Er lässt Grenzen überschreiten. Er vermag zu heilen bis in die Wurzel unserer Existenz.
"Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir!" so betet der Psalmist. Psalm 63 ist ein Text, der auch Zweiflern und Agnostikern etwas sagen kann. Können wir das aus ganzem Herzen mit dem Psalmisten mitsprechen? "Darum halte ich Ausschau nach dir... denn deine Huld ist besser als das Leben." Das Grundwasser der Gottessehnsucht muss unter uns Christenmenschen steigen. Dann kann vieles auch in diesem säkularen Land wieder religiös wachsen und zum Blühen kommen.
Als Bischof und Seelsorger sehe ich das Elisabeth-Gedenkjahr als eine große Chance an. Ich bin überzeugt: Wer unvoreingenommen und offen sich dieser großen Heiligen unseres Landes nähert, nähert sich Gott. Darum kann für mich das zentrale Anliegen dieses Jahres auf die Formel gebracht werden:
Elisabeth so in den Blick rücken, dass wir und möglichst viele andere in unserem Freistaat an ihrem Lebenszeugnis tiefer begreifen, wie sehr der Gottesglaube eine Gabe, eine Herausforderung zu gelingendem Leben ist.
Menschenfreundlichkeit und Gottesliebe gehören untrennbar zusammen. In einer Welt, in der religiös motivierter Terrorismus Angst und Schrecken verbreitet, ist diese Einsicht sehr aktuell. Es ist wichtig, welche Menschen einer Gesellschaft als heilig gelten. Ohne Elisabeth wäre Thüringen, wäre unsere Gesellschaft insgesamt ärmer. Um noch einmal Reinhold Schneider zu zitieren: "Elisabeth ist ein einziges Flehen um Gnade für eine von Kämpfen aufgewühlte Welt" (Schneider 30). Dies galt damals und das gilt heute.
*Gehalten am 19. Juli 2007 in Jena anlässlich der Ringvorlesung zur 3. Thüringer Landesausstellung. Die Vortragsreihe war eine gemeinsame Veranstaltung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Evangelischen Akademie Thüringen und der Erfurter Bistumsakademie "Katholisches Forum im Land Thüringen". Die 3. Thüringer Landesausstellung "Elisabeth von Thüringen - Eine Europäische Heilige" ist bis zum 19. November auf der Wartburg und in der Eisenacher Predigerkirche zu sehen.
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