Die offene Frage

Predigt von Bischof Joachim Wanke zum Osterfest 2008


Was ist mit den Toten?
Predigt von Bischof Joachim Wanke zum Osterfest 2008

Was ist mit den Toten? Diese Frage ist nicht zum Verstummen zu bringen. Gemeinhin hören wir die Antwort: Niemand weiß es. Oder: Von dort ist noch keiner zurückgekehrt. Und verbreitet ist die Haltung: Ich habe genug mit meinem Leben hier und jetzt zu tun. Ich habe keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen.


Alles einsichtig und irgendwie verständlich! Und doch: Die Frage nach den Toten bleibt. Sie meldet sich immer wieder neu zu Wort. Aktuell wird diese Frage beispielsweise, wenn es um die Frage eines gesellschaftlichen Gedächtnisses für die Toten geht. Jetzt ist entschieden, ein Zentrum für die Opfer der Vertreibungen des letzten Krieges in Berlin zu errichten.


Die Wogen der öffentlichen Diskussion gingen und gehen hoch. Die Schuldfrage wird gestellt. Welcher Vertriebener soll gedacht werden? Wer hat ein Recht, an die Opfer der Vertreibung zu erinnern? Muss es nicht eine Rangordnung unter den Toten geben - erst jene, die nur Opfer sind, und dann jene, die beides zusammen sind: Täter und Opfer?


Und der kluge Ausweg: Die Frage des Gedenkens an die Opfer der Vertreibungen wird europäisiert. Das ist vermutlich ein tragfähiger Kompromiss, um unterschiedliche Opferperspektiven zum Ausgleich zu bringen. Aber beantwortet ein solcher Kompromiss wirklich unsere Frage?


Was ist mit den Toten? Es gibt Denker der Moderne, die uns mit dieser Frage beunruhigen. Und das sind durchaus christentumsferne Philosophen, die sich dem Projekt der Aufklärung verschrieben haben. Aber - so ihre drängende Frage: Wer klärt uns über die Illusionen unseres Aufgeklärt-Seins auf? Können wir angesichts der Hekatomben von Toten, die die vielen Versuche zur Menscheitsbeglückung gekostet haben, einfach zur Tagesordnung übergehen? Ist die Rechnung für einen naiven Fortschrittsglauben nicht längst zu hoch?


Ja, wir wissen das alles. Und dennoch leben wir weiter, als ob es für uns den Tod nicht gäbe.


Was wir Christen in diesen Ostertagen feiern, trägt beiden Erfahrungen mit dem Menschen und seiner Geschichte Rechnung. Wir schauen mit dem Karfreitag auf das Elend des Menschen, und wir behaupten mit dem Osterfest die Größe des Menschen. Wir schauen auf das Kreuz Jesu als Inbegriff menschlicher Abgründe - und wagen am leeren Grab Jesu die Auferstehung der Toten zu verkünden.

Ich gebe zu: Der Tod hat viele Gesichter. Manche geben sich damit zufrieden, das Sterben als ein notwendiges Ereignis der biologischen Evolution anzusehen, dem man eben nicht ausweichen kann. Die stille Hoffnung ist: Es muss ja nicht gleich ein schlimmes, qualvolles Sterben sein, das uns beschieden ist. Und dazu kommt, dass selbsternannte Humanisten, die aus Ängsten von Menschen vor dem Tod ein Geschäft machen, das Sterben in die Richtung einer bürgerlichen Normalisierung drängen, als ob es das Natürlichste von der Welt ist, sich zu gegebener Zeit in der Schweiz die tödliche Dosis geben zu lassen.


Ohne Zweifel: Es gibt das ruhige, begleitete Sterben nach einem erfüllten Leben im Kreis von Angehörigen und Freunden. Und es gibt heute - Gott sei Dank - eine wirklich effektive Palliativmedizin, die uns mit unerträglichen Schmerzen nicht allein lässt. Aber selbst angesichts von exzessiver Lebensverlängerung um jeden Preis und einer damit verbundenen neuen Sehnsucht nach dem Sterben-Können - eine wirkliche Beruhigung ist das nicht. Warum sterben wir nicht so selbstverständlich wie Tiere? Es muss da doch ein tieferes Geheimnis walten, wenn diese Frage sich nicht einfach auf Befehl still stellen lässt.


Wir können uns die Frage nach dem Tod nicht selbst beantworten. Wir können uns freilich entscheiden, die Antwort des österlichen Glaubens zu hören und sie uns zu eigen zu machen. Es gibt einen Tod, der aufklärend ist und der dem Sterben die Sinnlosigkeit nimmt. Unser Glaube sagt: In Christi Sterben fällt Licht auf unsere sterbliche Existenz. Denn Christi Tod hat den unausweichlichen Tod des Menschen als das offenbart, was er in Wirklichkeit ist, als Konsequenz unserer Verlorenheit in selbstverschuldeter Gottesferne.


Paulus sagt es in Kürze so: Der Tod ist der Sold der Sünde (vgl. Röm 6,23). Und Sünde meint hier: So zu tun, als wären wir selbst Gott. In diese Hybris sind wir alle seit Adam eingeschlossen, die Menschenmörder von damals und die von heute. Diese Hybris bestimmt aber auch mich bis in mein eigenes Herz hinein. Und das bleibt nicht ohne schmerzliche Folgen - denn einmal lässt uns Gott merken, dass wir nicht Gott sind: wenn wir sterben müssen.


Das meint Paulus mit dem Bild: Der Tod ist der Sold der Sünde. Und diesen Sold hat ein Unschuldiger für uns alle bezahlt, so wie verspekuliertes Geld einer Bank wieder neu von anderen Banken, die solider gewirtschaftet hatten, vorgeschossen wird, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen.


Wir bleiben nicht die zum Bankrott Verurteilten. Wir sind aus der bleibenden Insolvenz errettet, auch wenn uns das beschämende Eingeständnis, uns nicht aus eigener Kraft retten zu können, nicht erspart bleibt. Und ist nicht die willige Annahme des irdischen Sterbens, das Aushalten des physischen Auslöschens für uns stolze Individualisten so etwas wie ein Eingeständnis, dass wir uns allein nicht das Leben sichern können? Ist diese Einsicht nicht eigentlich überzeugend, dass Leben immer Geschenk, und ewiges Leben die von Gott gewährte "zweite Chance" ist?


Im Festhymnus des heutigen Tages singt die Kirche:

"Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf;

Des Lebens Fürst, der starb, herrscht nun lebend."


Noch einmal: Niemand ist aus dem Bereich des Todes zurückgekehrt, so dass er unsere Neugier nach dem, was da auf uns wartet, beantworten könnte. Jesus selbst hat in der bekannten Geschichte vom armen Lazarus die Todesgrenze respektiert. Der Abraham dieser Geschichte hat bekanntlich dem reichen Prasser die Bitte abgeschlagen, aus dem Jenseits einen Boten zu seinen gedankenlos lebenden Brüdern zu schicken, um sie aus dem falschen Schlaf der Sicherheit zu wecken. "Sie haben Mose und die Propheten!" Das muss genügen.


So bleibt auch uns diese Auskunft: Wir haben das Evangelium von der Auferstehung Jesu. Das muss genügen. Darin ist uns das Entscheidende gesagt. Die Toten, auch die Toten der Kriege und der ungerechten Gewalt sind in Gottes Hand, so wie wir, die wir im Dunkel und Zwielicht des Irdischen noch nach dem bleibenden Leben tasten, in Gottes Hand sind. Er hat beide, die Unschuldigen und die Schuldigen, in sein Erbarmen eingeschlossen. Gott muss sich vor uns nicht rechtfertigen.


Aber eines hat er getan: Er hat uns wissen lassen, dass er kein Gott der Toten ist, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, ein Gott derer, die für ihn leben. Dafür steht die Osterbotschaft. Das ist die Antwort auf unsere Frage nach den Toten der Geschichte und nach unserem eigenen Sterben.


Diese Antwort macht uns demütig - aber sie macht uns hoffnungsvoll zugleich. Sie schneidet uns Fragen ab, die nur eine falsche Neugier befriedigen wollen, oder Fragen, mit denen wir gottgleich die Schrecken der Geschichte durchschauen und Richter spielen wollen. Diese Antwort des Glaubens überlässt auch die in unseren Augen scheinbar sinnlos Gestorbenen einer Barmherzigkeit, die unsere Begreifen übersteigt - und in die wir uns selbst angesichts unserer eigenen Lebensnöte jetzt bergen dürfen.


Ich finde es tröstlich, dass der Osterhymnus der Kirche am Schluss - trotz aller Gewissheit der Auferstehung Jesu - um Gottes Erbarmen bittet. Das Miserere wird trotz des Alleluja, solange diese Welt besteht, nicht verstummen. Dieser Ruf um Erbarmen möge uns in den Alltag begleiten. Darum:

"Ja, der Herr ist auferstanden, ist wahrhaft erstanden. Du Sieger, König, Herr, hab Erbarmen! Amen. Alleluja."


Gehalten am Ostersonntag, 23. März 2008, im Erfurter St. Marien-Dom

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