"Die Krise der Kirche und des Glaubens kommt von innen"

Fastenhirtenbrief 2022 von Bischof Ulrich Neymeyr

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,


die Nachrichten aus der Ukraine erschüttern uns. In jedem Krieg verlieren Menschen ihr Leben oder ihre Gesundheit, ihre Heimat oder ihre Zukunft. Kinder verlieren ihre Kindheit. Noch dazu enttäuscht der Überfall Russlands auf die Ukraine die Hoffnung auf eine stabile europäische Friedenordnung, für die sich so viele Menschen engagiert haben.

Viele Menschen fragen, warum es Kriege gibt. Der Jakobusbrief stellt sich diese Frage auch: „Woher kommen Kriege bei euch, woher Streitigkeiten? Etwa nicht von den Leidenschaften, die in euren Gliedern streiten? Ihr begehrt und erhaltet doch nichts. Ihr mordet und seid eifersüchtig und könnt dennoch nichts erreichen. Ihr streitet und führt Krieg. Ihr erhaltet nichts, weil ihr nicht bittet.“ (Jak 4,1-2)

Der Friede ist nicht machbar, er ist kein Produkt wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wie der Bauer die Früchte nicht produzieren kann, so können wir Menschen den Frieden nicht herstellen. Auch der Frieden ist eine Frucht, und zwar die Frucht der Gerechtigkeit, wie der Prophet Jesaja sagt. (Jes 32,17) Wir Menschen können uns nur bemühen, günstige Voraussetzungen schaffen. Und wir hören nicht damit auf, den Frieden von Gott zu erbitten und zu erflehen, so wie wir es jetzt für die Menschen in der Ukraine tun. Seit dem 5. Jahrhundert beten wir in der Heiligen Messe nach dem Vater unser: „Erlöse uns, Herr, allmächtiger Gott von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen.“ In solchen Gebeten drücken sich unser Glaube und unser Gottvertrauen aus.


In der heutigen Lesung benennt der Apostel Paulus die beiden grundlegenden Bekenntnisse unseres Glaubens: „Herr ist Jesus“ und „Gott hat ihn von den Toten auferweckt“. (Röm 10.9) Diese beiden Glaubenssätze tragen unser christliches Leben: Wir glauben, dass es Gott gibt und dass Jesus uns von ihm Kunde gebracht hat, sodass wir ihn Vater nennen können. Wir hoffen, dass der auferstandene Herr unser Leben begleitet auch über den Abgrund des Todes hinweg.

Diesen schönen Glauben haben wir kennengelernt und vertieft durch viele gläubige Menschen, die unseren Glauben geweckt haben und stärken. Wenn wir über den Weg unseres Glaubens miteinander reden, werden wir erfahren, wie vielfältig diese Wege sind: Nicht immer ist der Glaube in der Familie geboren worden, nicht jeder hat christliche Freunde, es gibt sehr verschiedene Formen, die Gemeinschaft des Glaubens in der Kirche zu erleben und zu vertiefen.


Eine ganz besondere Aufgabe und Verantwortung kommt auf dem Glaubensweg katholischer Christen den Priestern zu. Viele können von Priestern berichten, deren Glaubens- und Lebenszeugnis ihren Glauben geweckt oder gestärkt haben. Es gibt leider auch das Gegenteil. Das zeigt die große Verantwortung, die wir Priester in der Begegnung mit den Menschen haben. Unabhängig davon sind die Priester für den Glaubensweg katholischer Christen deswegen von großer Bedeutung, weil sie bei der Feier der Sakramente das Leben der Christen in besonderer Weise in Berührung bringen mit dem Leben des dreifaltigen Gottes. Das Zweite Vatikanische Konzil bezeichnet die Eucharistiefeier als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (Lumen gentium Nr. 11).

Es ist nötig, dass die Priester, die dieser Feier vorstehen, in ihrem persönlichen Leben und ihrer Arbeit für die Kirche Christus nachfolgen und sich von ihm ergreifen lassen. Für mich persönlich ist das eine bleibende Herausforderung. Ich bin den Priestern sehr dankbar für ihren Dienst in unserem Bistum. Sie durchleben – wie wir alle – eine schwere Zeit: Die Corona-Pandemie erschwert die Feier der Gottesdienste und die Seelsorge. So sind die Priester seit zwei Jahren nicht mehr nur für eine schöne und würdige Feier der Gottesdienste verantwortlich, sondern sie müssen auch für die Umsetzung des Infektionsschutzkonzeptes sorgen.

Zudem mündet die öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt in unserer Kirche mitunter in einen Generalverdacht gegenüber allen Priestern. Auch dies ist eine große Belastung für die Mitbrüder, die ihr Leben lang treu und überzeugend als Priester leben. Schließlich bereitet die rückläufige Zahl von Priestern natürlich auch den Priestern Sorge. Sie sind zu Veränderungen bereit, fürchten aber, von Verwaltungsaufgaben und von den Erwartungen der Gläubigen aufgerieben zu werden. Die Priester brauchen die Solidarität und die Sympathie nicht nur des Bischofs, sondern auch der Gläubigen – nicht nur am Gebetstag für geistliche Berufe, an dem wir ja nicht nur um künftige Priester beten, sondern auch für die Priester, die unter uns wirken.

Wer bis jetzt zugehört hat, denkt vielleicht: Kirche ist doch keine Veranstaltung von Priestern! Das weiß ich auch. Die Kirche ist das Volk Gottes von getauften Christen, von denen Gott sei Dank viele ehren- und hauptamtlich das Leben dieses Gottesvolkes mitgestalten. Dafür bin ich sehr dankbar. Alle gemeinsam sind wir berufen, den Glauben zu leben, zu teilen und zu feiern, uns gegenseitig im Glauben zu bestärken, den Glauben zu bekennen und ihn so allen Menschen anzubieten.

Voraussetzung dafür ist, dass der Glaube unser Leben prägt und wir Freude daran haben. Es ist doch schön, an Gott als den Schöpfer der Welt zu glauben: Die Welt und jeder einzelne Mensch verdankt sich nicht dem Zufall oder irgendeiner Gesetzmäßigkeit, sondern der Liebe Gottes zum Leben. Und dieser unvorstellbar große Gott hat sich in Jesus Christus in unsere Welt und Geschichte begeben.

Es ist eine großartige Glaubenswahrheit, dass Jesus aus dem Leben Gottes gekommen ist, dass er uns ermutigt, Gott als unseren Vater anzureden, und dass er uns von der Gottesferne der Sünde erlöst hat. Der Heilige Geist bringt uns in Berührung mit dem auferstandenen Herrn Jesus Christus und kennt dabei viele Wege: das persönliche Beten, den Dienst am Mitmenschen in Not, in dem uns Christus begegnet, die gemeinsame Andacht oder das gemeinsame Nachdenken über die Heilige Schrift, Wallfahrten oder Besinnungstage oder die Begegnung mit Christus in den Sakramenten, besonders im Sakrament der Eucharistie.


Zu Beginn der Fastenzeit wurde uns in der heutigen Lesung verheißen: „Wenn du mit deinem Mund bekennst: „Herr ist Jesus“ und in deinem Herzen glaubst: „Gott hat ihn von den Toten auferweckt“, so wirst du gerettet werden.“ (Röm 10.9) Glaube und Bekenntnis gehören zusammen. Viele unter Ihnen haben die Zeit der SED-Diktatur erlebt, in der der Gottesglaube unerwünscht war und als wissenschaftlich überholt galt. Sie haben für Ihr Bekenntnis zu Jesus Christus große Benachteiligung in Kauf genommen. Sie wurden zu einer Bekennerkirche. Sie konnten das, weil Sie sich immer wieder ihres Glaubens vergewissert haben. Heute sind wir erneut als Bekennerkirche gefordert. Die Krise der Kirche und des Glaubens kommt heute nicht von außen durch staatliche Repression, sie kommt von innen, durch Sünden, Verbrechen und Versäumnisse, die es in der Kirche gab.

Viele von Ihnen werden gefragt: „Wie kannst du noch in der Kirche bleiben?“ oder Sie fragen sich das selbst. Da ist zum einen – gerade in der Fastenzeit – die Vergewisserung des Glaubens gefordert an Gott, der die Welt und die Menschen erschaffen hat, der uns durch seinen Sohn Jesus Christus erlöst hat und der uns im Heiligen Geist nahe ist. Zum anderen müssen wir sehen, dass die Kirche noch nie eine perfekte christliche Gemeinschaft war, sondern dass schon immer Heilige und Sünder zu ihr gehört haben. Auch Priester, Bischöfe und Päpste waren nie ohne Sünde. Die Kirche muss sich ständig erneuern. Das tut sie auch jetzt im Kampf gegen sexualisierte Gewalt in ihren Reihen. Dabei hat die katholische Kirche Neuland betreten und kann nicht auf Erfahrungen anderer Organisationen zurückgreifen.

Ich danke allen, die in unserem Bistum diese Arbeit mittragen. Wir tun es auch für alle, die als Kinder oder Jugendliche in der Kirche sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Sie haben die Kirche von ihrer ganz schlimmen Seite erlebt. Ihr Leben ist davon geprägt. Ihr Leid dürfen wir nicht übersehen oder verdrängen.

Die Fastenzeit ist für uns alle eine Zeit der Erneuerung. Paulus mahnt die Korinther: „Lasst uns das Fest nicht mit dem alten Sauerteig feiern, mit dem Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit den ungesäuerten Broten der Aufrichtigkeit und Wahrheit!“ (1 Kor 5,8) Dann können wir an Ostern wieder neu die Schönheit unseres Glaubens feiern, dass das Leben stärker ist als der Tod und dass der auferstandene Herr Jesus Christus auch heute unter uns ist und uns auf unserem Lebensweg begleitet.


Es segne Sie der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.


Ihr Bischof Ulrich Neymeyr